Mobile Health

Reality Check: Körper-Monitoring im Jahr 2023

21.06.2013 von Alexander Freimark
Das Smartphone wird zum Körper-Scanner. Doch noch fehlen Business-Modelle, und das alte Gesundheitssystem ist träge. Menschen sollen ihre Gesundheit in die eigenen Hände nehmen.
Der Gartner Hype Cycle für Telemedizin 2012
Foto: cio.de

Hatte sich Albrecht Dürer 1521 in den Niederlanden mit Malaria infiziert, oder steckte eine andere Krankheit hinter den Schmerzen am linken Unterbauch? Fernab medizinischer Hilfe malte sich der Meister selbst, wie er mit der Hand auf die geschwollene Stelle zeigte: "Da ist mir weh". Die Skizze schickte er per Kurier an seinen Arzt, damit dieser schon mal die Messer wetzen konnte.

Rund zwei Milliarden Smartphones nach Dürer ist "Mobile Health" (mHealth) wieder ein großes Thema. Es geht nicht nur um die Mobilisierung der Ärzte und Pfleger in Krankenhäusern, die das Klemmbrett durch ein Tablet ersetzen. Darüber hinaus sollen Patienten und Risikogruppen in ihrem normalen Leben überwacht werden, um bei Komplikationen frühzeitig eingreifen und gegensteuern zu können.

Dabei ist das "Langzeit-Vitalparameter-Monitoring" nicht wirklich neu: Gewicht, Schwangerschaften und der Insulinspiegel werden seit Jahren zu Hause überprüft. Neu ist hingegen die theoretische Möglichkeit zur umfassenden digitalen Datensammlung und Vernetzung in Echtzeit. Beides wird dazu beitragen, dass sich die Interaktion von Patienten und Medizinern gravierend verändert.

CIO Helmut Schlegel vom Klinikum Nürnberg glaubt an die Mobilisierung, und er hat mit dem CIO-Magazin gewettet, "dass in zehn Jahren jeder zwanzigste Bürger über Sechzig einen medizinischen Datenkommunikator am Körper tragen wird". So prognostiziert das Statistische Bundesamt für das Jahr 2025 eine Gesamtbevölkerung von knapp 79 Millionen Menschen in Deutschland.

Volker Lowitsch CIO, Klinikum Aachen: "Dass die Krankenkassen alles finanzieren und damit die Gesundheit steuern, halte ich nicht für realistisch."
Foto: Klinikum Aachen

Über den Daumen gepeilt sind mindestens ein Viertel davon über 60 Jahre alt. Wenn Schlegel recht behalten sollte, werden dann eine Million Senioren mit einem Datenkommunikator unterwegs sein, der ihr Herz kontrolliert, den Blutdruck misst, Stürze mit einem Bewegungssensor erfasst oder Alarm schlägt, wenn eine demente Person eine festgelegte Zone verlässt.

"Selbstvermessung ist keine Freak-Nummer"

Florian Schumacher fehlen zwar noch knapp 30 Jahre bis in die Altersgruppe, aber schon heute ist er täglich mit einer Art Datenkommunikator unterwegs, der permanent seine Schritte zählt. Der Berater im digitalen Gesundheitsmarkt ist Mitbegründer der deutschen Quantified-Self-Bewegung, deren Mitglieder die elektronisch unterstützte Selbstvermessung ihrer Vitalfunktionen praktizieren. "Selbstvermessung ist keine Freak-Nummer", sagt Schumacher, "sondern der Versuch, das äußere Wissen über sich selbst als Feedback-Instrument zu nutzen, um sich besser zu erkennen, Zusammenhänge klarer zu sehen oder sich für Veränderungen zu motivieren." So geht er wesentlich mehr zu Fuß, seit er den Schrittzähler nutzt, und profitiert vom "positiven Effekt" der Bewegung.

Zwar sind Schumacher und die konsequente Selbstvermessung derzeit die Ausnahme, aber in den Grundzügen erlaubt Quantified Self den Blick auf eine mögliche Zukunft: Informierte und bewusst agierende Menschen nehmen zunehmend ihre Gesundheit in die eigenen Hände. Das hat auch Ralf-Gordon Jahns diagnostiziert, Research Director des Berliner Marktforschungs- und Beratungsunternehmens Research2Guidance: "Wir empfehlen Unternehmen, in ihren Geschäftsmodellen auf Kunden zu setzen, die bereit sind, Leistungen aus der eigenen Tasche zu bezahlen."

Ein Grund seien die "retardierenden Kräfte" im deutschen Gesundheitswesen, sagt Jahns: "Wer hier erfolgreich sein will, muss Consumer-orientierte Lösungen vermarkten." Das seien keine originär medizinischen Geräte mehr, sondern eine Art Lifestyle-Sensoren, die man nicht mehr verstecken müsse und deren Daten zunehmend mit anderen Personen geteilt werden.

In der Tat ist das deutsche Gesundheitswesen nicht gerade für rasante Veränderungen bekannt - die elektronische Gesundheitskarte und die Telematikinfrastruktur sind echte Dauerläufer. Dabei könnte sich die mobile Kontrolle auszahlen und den Kostendruck auf das System abschwächen. Zudem fehlt medizinisches Fachpersonal in ländlichen Gebieten, chronische Krankheiten nehmen zu, und die Gesamtbevölkerung überaltert. Durch Telemonitoring-Systeme zur Beobachtung von Patienten ließen sich rund 2,2 Milliarden Euro jährlich einsparen, berichtete etwa der IT-Verband Bitkom. Und das U.S. Department of Veterans Affairs (VA) hat in einer mHealth-Studie mit 50 000 chronisch Kranken festgestellt, dass Wiedereinweisungen und Krankenhaustage deutlich zurückgingen - während die Zufriedenheit der Patienten auf Spitzenwerte angestiegen ist.

Grundsätzlich seien die gesetzlichen Krankenkassen gegenüber Innovationen aufgeschlossen, die die Versorgung der Versicherten verbessern und zugleich wirtschaftlich sind, sagt Ernst-Günther Hagenmeyer von der Abteilung Medizin beim GKV-Spitzenverband: "Gerade neue Methoden und Verfahren, die helfen, Sektorengrenzen zu überwinden, sind immer interessant." Wenn jedoch das Tele-Monitoring mit dem Datenkommunikator eine Regelleistung der gesetzlichen Kassen werden soll, müsste es vorher in Studien unter Beweis stellen, dass es tatsächlich für den Patienten einen Zusatznutzen gegenüber der bisherigen Versorgung hat. "Hier ist noch viel Arbeit zu leisten", so der Experte des GKV-Spitzenverbands, "denn bisher liegen qualitativ ausreichende wissenschaftliche Studien leider nicht vor."

Medizin über Smartphones nicht Sinn der Sache

Ralf-Gordon Jahns Research Director, Research2Guidance: "Wie empfehlen Unternehmen, in ihren Geschäftsmodellen auf Kunden zu setzen, die bereit sind, Leistungen aus eigener Tasche zu bezahlen."
Foto: Research2Guidance

Zudem könnte laut Hagenmeyer eine vollautomatische Computermedizin über das Smartphone nicht Sinn der Sache sein: "Daneben bedarf es einer aufwendigen Infrastruktur, in der die Vitalwerte rund um die Uhr von Experten ausgewertet werden." Deren Systeme müssen ununterbrochen und absolut fehlerfrei arbeiten, argumentiert der GKV-Experte: "Das zu gewährleisten ist sicherlich die weitaus schwierigere Aufgabe." Hinzu komme, dass ein Betreuer im Telemedizinzentrum - im Gegensatz zum behandelnden Arzt mit seiner umfassenden Kenntnis des Patienten - bei einem Notfall vorrangig die aufwendigeren, teilweise belastenderen Maßnahmen einleiten müsste, um auf "Nummer sicher" zu gehen. Dies relativiere den Kostenvorteil.

Für welche Leistungen die Krankenkassen im Jahr 2023 zahlen werden, sei nach Aussage des Marktforschers Jahns von Research2Guidance heute nur schwer einzuschätzen. "Aber immerhin wächst durch die Eigeninitiative der Menschen der Druck auf das traditionelle Gesundheitssystem, sich für die mobilen Daten zu öffnen." Knapp 100.000 mHealth-Apps im weitesten Sinne gibt es bereits, hat Jahns in einer Studie zusammengerechnet. Im Jahr 2017 soll es weltweit rund 3,4 Milliarden Smartphones und Tablets geben, wovon auf die Hälfte mHealth-Apps heruntergeladen wurden. Das Marktvolumen belaufe sich dann auf rund 26 Milliarden Dollar, so der Analyst. "Die Entwicklung kann schneller ablaufen, als wir heute denken."

Volker Lowitsch hat da leichte Zweifel - nicht unbedingt am Grundsatz und an der Nützlichkeit, sondern an der Umsetzungsgeschwindigkeit im Gesundheitswesen. Er kennt die Barrieren im Markt, denn seit 2001 ist er CIO im Klinikum Aachen, und seit mehreren Jahren engagiert er sich für die Elektronische Fallakte (EFA). Lowitsch sieht Hindernisse für die Mobilisierung etwa beim Datenschutz und bei der Informationshoheit, dem Nutzwert und der Qualität der Daten sowie an der Schnittstelle von privaten Applikationen zum professionellen Medizinwesen. "Nur weil ich meinen Blutdruck in einer App speichere, habe ich noch nicht viel gewonnen." In erster Linie würden jedoch Geschäftsmodelle im stark regulierten deutschen Markt fehlen. "Entscheidend für den Erfolg ist der Übergang der mobilen Daten in die Regelversorgung - dass die Krankenkassen aber alles finanzieren und damit die Gesundheit steuern, halte ich nicht für realistisch."

Auch für Silvia Piai hängt der Durchbruch an den Business-Modellen. "Gesundheitspolitiker sollten finanzielle Anreize schaffen, um das Verfahren zu unterstützen", schlägt die Healthcare-Analystin von IDC vor. Wenn Ärzte weiter Geld für Praxisbesuche bekommen, hätten sie kein Interesse daran, Telemedizin zu fördern. Allerdings sei die Fernüberwachung nicht für jeden Patienten sinnvoll. Sie fordert, dass Betroffene und Mediziner umfassend über Chancen und Grenzen informiert werden, um unrealistische Erwartungen zu unterbinden. "Das ist ein langer Weg, aber ich glaube, dass wir das Ziel in zehn Jahren erreichen können."

Silvia Piai Analystin, IDC: "Das ist ein langer Weg, aber ich glaube, dass wir das Ziel in zehn Jahren erreichen können."
Foto: IDC

Klinik-CIO Lowitsch bringt zudem die menschliche Empfindsamkeit ins Spiel: "Mobile-Health-Ansätze führen vermutlich wieder zu einer Verunsicherung der Bevölkerung, die andere notwendige Aktivitäten wie den Ausbau der Telematikinfrastruktur beeinträchtigen." Auch GKV-Experte Hagenmeyer sieht hier Handlungsbedarf. So handele es sich bei der Zielgruppe 60+ nicht um technisch beschlagene Jugendliche, sondern um ältere Patienten, die unter Umständen seh- und hörbehindert seien sowie eine eingeschränkte Beweglichkeit aufweisen würden: "Die Einführung telemedizinischer Anwendungen darf jedoch nicht zur Folge haben, dass Patienten, die mit Technik weniger gut umgehen können, keine adäquate Versorgung erhalten."

Gefahr der "digitale Spaltung" auch im Gesundheitswesen

So besteht die Gefahr, dass die "digitale Spaltung" auch im Gesundheitswesen auftritt. Selbst Wettpate Schlegel vom Klinikum Nürnberg verwies auf eine Studie aus dem Jahr 2009, wonach lediglich zwei Prozent der Bevölkerung über konkrete Erfahrungen mit telemedizinischen Verfahren verfügten, während bei den über 75-Jährigen überwiegend eine skeptische Haltung diagnostiziert wurde. "Damit dürfte die größte Herausforderung für die Protagonisten darin liegen, Vertrauen in diese Technik bei älteren Menschen zu erzeugen."

Der Münchener Selbstvermesser Schumacher geht derweil seinen Weg weiter: "Mit relativ einfachen Lösungen werden heute schon viele Funktionen angeboten, um das Zusammenwachsen von Arzt und Patient zu vereinfachen." Noch seien die Produkte an vielen Stellen verbesserungswürdig, "doch ist das Innovationstempo im Consumer-Bereich ziemlich hoch".

In anderen Ländern tut sich mehr. So hat US-Arzt und Autor Eric Topol schon mal die "digitale Revolution im Gesundheitswesen" mittels Big Data ausgerufen. Angeblich nutzen heute bereits rund 35 Millionen Amerikaner (14 Prozent) Hightech-Geräte, um sich selbst zu beobachten. Vielleicht reden wir eines Tages nicht mehr vom "Internet der Dinge", in dem alle Geräte miteinander vernetzt sind, sondern vom "Internet der Menschen".

Health-Wette - Schlegel macht Medizindaten munter

Helmut Schlegel, CIO, Klinikum Nürnberg
Foto: Klinikum Nürnberg

"Ich wette, dass in zehn Jahren jeder zwanzigste Bürger über Sechzig einen medizinischen Datenkommunikator am Körper tragen wird", schrieb CIO Helmut Schlegel vom Klinikum Nürnberg ins CIO-Jahrbuch 2013.

Die Idee ist gut, das Einsparpotenzial groß, der Anteil der „Betroffenen“ überschaubar, und die technischen Standards sind in zehn Jahren garantiert definiert. Nur wäre da nicht das deutsche Gesundheitssystem mit seinen Bedenken, Befürchtungen und Barrieren.

Schlegels Argumentation für die automatisierte Überwachung von Vitaldaten älterer Patienten liest sich schlüssig, aber gegen Sachzwänge und Interessengruppen ist kein Kraut gewachsen. Und in sensiblen Bereichen wie der Gesundheit kann es manchmal auch nicht schaden, das hohe Tempo der technischen Entwicklung zu ignorieren und die Veränderungen in Ruhe zu analysieren.

Jahrbuch 2013: Neue Prognosen zur IT-Zukunft.
Foto: cio.de

Sensor und Service werden dann vielleicht im Paket als individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) angeboten. Das ist zwar nicht solidarisch, aber gut für die "Beitragsstabilität". CIO Schlegel zufolge "werden sich neue Geschäftsmodelle etablieren, und für dieses aufkommende Business wird die Informationstechnologie unverzichtbar, um nicht zu sagen, lebenswichtig sein". Hier wächst der IT eine entscheidende Bedeutung zu, hier könnte die IT ihrer Rolle als "Business Enabler" gerecht werden.

So wettet die Redaktion: Auch wenn die automatisierte Überwachung von Vitalparametern für Risikogruppen durchaus wünschenswert wäre, ist ein Zeithorizont bis 2023 im deutschen Gesundheitswesen nur ein Herzschlag. Bis sich alle Institutionen und Betroffenen auf eine einheitliche Lösung verständigt haben, dürften noch 20 Jahre vergehen.