RWE hatte sich 2018 mit dem Rivalen Eon auf einen sogenannten Tausch von Geschäftsaktivitäten geeinigt: RWE übertrug die Innogy-Anteile an Eon und erhielt im Gegenzug das Renewables-Geschäft von Eon und Innogy sowie weitere Assets. Die komplette Neuaufstellung beider Unternehmen, die Ende 2020 abgeschlossen sein soll, brachte auch massive Umbauarbeiten in der IT mit sich.
Zwei Jahre auf der grünen Wiese
Die IT-Abteilung des RWE-Konzerns ist derzeit noch bei der Tochtergesellschaft Innogy angesiedelt, die im Rahmen eines Servicevertrags diese Aufgabe während des Care-Outs bis Ende 2020 weiter erfüllt. Das bedeutete für RWE, dass innerhalb von zwei Jahren eine neue IT-Infrastruktur auf der grünen Wiese aufgebaut werden musste, einschließlich eines eigenen Rechenzentrums, aller Netzwerke, einer SAP- und IT-Security-Landschaft sowie einem IT-Service-Management. Dazu zählt auch ein eigenes Active Directory samt aller dazugehörenden Microsoft-Komponenten. Hierfür arbeitet RWE unter anderem mit der Accenture-Tochter Avanade zusammen.
"Solch ein großes Projekt lässt sich natürlich nicht von heute auf morgen realisieren," sagt Edward Bouwmans, verantwortlicher Head of Infrastructure & Provider Management bei RWE. "Wir bauen die neue IT-Landschaft parallel zur alten auf. Die alte bleibt komplett erhalten bis Ende 2020. Sukzessive migrieren wir dann unsere rund 20.000 Nutzer, 2.500 Anwendungen und sämtliche Daten des Konzerns. Dabei nutzen wir das Upgrade von Windows 7 auf Windows 10 und die Einführung von Office 365, um alle Mitarbeiter auch mit neuer Hardware auszustatten." Ende 2019 habe RWE damit begonnen, Ende 2020 wolle der Konzern damit fertig sein.
Komplexe Parallelwelten
Die Situation ist kompliziert: Wenn ein Anwender bereits in die neue RWE-Landschaft umgezogen ist, kann es sein, dass Applikationen, auf die er zugreift, noch bei der Innogy-IT laufen. Die verantwortlichen Migrationsteams von RWE müssen also sicherstellen, dass alle Anwendungen sowohl mit der Windows-10- als auch mit der alten Windows-7-Welt kommunizieren können. Das schließt auch zugrundeliegende Strukturen wie Identiy und Access Management, Security-, Single-Sign-On- oder Active-Directory-Prozesse mit ein.
Das alte und das neue Active Directory werden über Schnittstellen verknüpft. So können Nutzer aus ihrer Umgebung auf Anwendungen in beiden Directories zugreifen, bis die neue RWE-IT komplett ist. Zudem können die Migrationsteams die User unabhängig von der Umgebung verschieben, ohne dass sie ihre Arbeit einstellen müssen.
Die Anwendungen werden sequenziell migriert. Als erstes verschiebt die IT die Testsysteme, danach die Development-Systeme und in einem letzten Schritt folgen die Produktionssysteme. So soll es möglich sein, die gesamte Migration innerhalb von einem Jahr zu schaffen.
Operational Readiness
Die neue IT muss nicht nur technisch aufgebaut, sondern auch für den Betrieb vorbereitet werden. Da RWE keine eigene IT-Abeilung hatte, stellte der Konzern von 2018 an mehrere Hundert neue Mitarbeiter an. Aktuell ist die IT-Belegschaft bei etwa 85 Prozent ihrer Sollstärke.
Zudem werden Prozesse eingeführt, um die IT zu einem Dienstleister für die kommenden Transformationen des Unternehmens zu machen. Mittlerweile hat sie etwa 2.000 der 20.000 Nutzer erfolgreich migriert. Auch unterstützende Systeme wie ServiceNow für Katalog-, Incident- und Change-Request-Management sind bereits im Einsatz.
Laut Bouwmans muss nun sichergestellt werden, dass alle Prozesse inklusive der Zulieferer in der neuen Umgebung ineinandergreifen. Etwa die Hälfte der Anwendungen laufen bereits im Testbetrieb. Darin ist rund ein Zehntel der Produktionssysteme enthalten, von denen der Großteil derzeit noch auf den technischen Plattformen von Innogy läuft.
Herausforderungen des globalen Business
Mit der Übernahme des internationalen Erneuerbaren-Geschäfts von Eon hat RWE zusätzlich zu den angestammten europäischen Märkten in Deutschland, Benelux und Großbritannien auch Geschäft auf dem nordamerikanischen Kontinent, Australien und Kanada erhalten. Das neue Business muss nun zeitgleich mit dem Neuaufbau der IT-Infrastruktur integriert werden.
Bei dem weltweiten Rollout steht RWE vor drei Herausforderungen:
Erstens müssen parallel das hinzugekommene Geschäft integriert und die neue IT-Plattform aufgebaut werden.
Zweitens ist das Renewables-Geschäft stark international geprägt, jedoch sollen alle Mitarbeiter weltweit dieselbe IT-Plattform nutzen können. Bislang war RWE hauptsächlich auf Europa ausgerichtet, nun kommen allein in Nordamerika mehrere hundert Mitarbeiter hinzu.
Drittens hatte Eon mit anderen Lieferanten zusammengearbeitet und verfolgte ein unterschiedliches Operating Model für Amerika. Hier prüft die IT gerade, ob es möglich ist, Teile des bereits vorhandenen Modells zu übernehmen und wie die RWE-Lieferanten dort integriert werden können.
Nähe zum Geschäft und flache Strukturen
Um all das zu bewältigen, setzt RWE auf die Nähe zu den Fachabteilungen vor Ort. Geschäftskritische Systeme oder Prozesse, bei denen schnell reagiert werden muss, sollen lokal in den Geschäftssegmenten wie Trading, Generation, Power oder Renewables betrieben und verantwortet werden. Andererseits sollen Standardsysteme und Plattformen, die Skalenvorteile bieten - etwa Netzwerke oder Collaboration-Lösungen - global in der zentralen IT konzentriert und mit großen Partnern wie Avanade, Accenture, InfoSys oder Wipro realisiert werden.
Organisatorisch bemüht sich der Energiekonzern, die Zahl der definierten Rollen überschaubar zu halten. Die Hierarchien sind flach mit dem Ziel, Kundenwünsche schnellstmöglich bedienen zu können. Der Mehrwert einer Rolle oder Funktion für das Business soll so einfach und klar wie möglich beschrieben werden können. Das soll helfen, schnell und einfach zu erfolgreichen Modellen, Strukturen und Systemen zu gelangen. Zudem soll so die Anzahl an politischen Diskussionen reduziert werden.
Die flache Struktur spiegelt sich auch in der Holding der RWE AG wider. Sie hat lediglich rund 300 Mitarbeiter und wird von zwei Vorständen geführt.
Cloud-First-Strategie mit Hindernissen
Beim Aufbau der neuen IT-Landschaft verfolgt RWE eine Cloud-First-Strategie. So viel wie möglich soll so schnell es geht in die Cloud migriert werden. Laut Bouwmans ist die Public Cloud "besser, schneller, agiler und sicherer als das traditionelle Rechenzentrum." Das träfe etwa auf den Energiehandel im Trading Floor zu, denn da sei es notwendig, schnell zu agieren und zu skalieren. Die Anwendungen in der Cloud laufen auf Instanzen von Amazon Web Services (AWS) und Microsoft Azure.
Bei all den Projekten, die seit 2018 angestoßen wurden, lag der Fokus jedoch zunächst darauf, den Betrieb sicherzustellen. Es sollte die IT-Infrastruktur aufgebaut und das Renewables-Geschäft integriert werden. Das Cloud-Projekt startet nur langsam. Die Applikationsteams des Bereichs Supply & Trading begannen vereinzelt mit der Migration, man wollte jedoch verhindern, durch zu viele parallele Projekte das Business zu stören.
Ein Teil der Applikationen läuft bereits in der Cloud, ein anderer Teil wird derzeit noch in ein von Wipro verwaltetes RWE-Rechenzentrum transferiert. Sobald die Renewables-Migration abgeschlossen ist, will RWE ein Projekt starten, bei dem ein Teil dieser On-premise-Anwendungen ihrerseits in die Cloud gehievt werden soll.
Der Versorger vertraut dabei auf eine Multi-Cloud-Strategie, die Ressourcen von Microsoft Azure und AWS einbezieht. Momentan evaluiert RWE, ob es nicht doch besser sein könnte, sich auf eine dieser beiden Plattformen zu konzentrieren. Hier spielen die eigenen Bedürfnisse, aber auch die Kosten sowie die Konditionen der Anwendungs-Owner und Partner eine Rolle. So empfiehlt etwa die Handelssoftware Endur einen bestimmten Cloud-Anbieter, um die beste Performance für das Business zu liefern.
Einige Teile der IT müssen jedoch aufgrund von KRITIS-Regularien im Rechenzentrum bleiben. Das betrifft etwa die Technik für die noch immer betriebenen Kernkraftwerke sowie die Kommunikationslösungen.