Die SAP-Kunden sind unsicher. Es gebe ein gewaltiges Informationsbedürfnis, sagte Marco Lenck, Geschäftsführer der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG). Anwender suchten derzeit nach Orientierung. „Ich habe viele Fragezeichen in den Gesichtern gesehen“, beschrieb Lenck seine Eindrücke vom Auftakt des Jahreskongresses der Anwendervereinigung in Bremen. Grund dafür ist die Produktstrategie von SAP. Der größte deutsche Softwarehersteller hatte im Frühjahr dieses Jahres mit S/4 HANA eine neue ERP-Linie aufgemacht, deren Funktionen eng mit der selbst entwickelten In-Memory-Datenbank-Plattform HANA verknüpft sind.
Zur Verwirrung der Kunden tragen auch die unterschiedlichen Bezugsmodelle bei. SAP trimmt sein Portfolio derzeit stark in Richtung Cloud Computing. Neue Funktionen werden zuerst für die Cloud entwickelt, lautet die Direktive des Managements. Allerdings unterscheiden sich On-Premise- und Cloud-Pakete in ihrem Funktionsumfang. Dazu kommt ein bunter Strauß von zugekauften Cloud-Lösungen wie SuccessFactors, Ariba und Concur, die mehr oder weniger in die SAP-Lösungspakete integriert sind, beziehungsweise SAP-eigene Produkte ablösen könnten.
„Da ist überall HANA drin, und überall steht Cloud drauf – aber die Angebote unterscheiden sich massiv voneinander“, so das Fazit von DSAG-Geschäftsführer Lenck. Ist „S/4 HANA ein ERP/4 Customer“, lautete daher auf dem Jahreskongress die zentrale Frage der SAP-Klientel an ihren Softwarelieferanten.
ERP ist das Rückgrat der digitalen Transformation
Die Antwort drängt. Denn die SAP-Anwenderunternehmen müssen sich überlegen, wie sie sich den anstehenden Herausforderungen der digitalen Transformation stellen. Das ERP-System werde dabei eine zentrale Rolle spielen, sagte Lenck und betonte wie wichtig ein stabiles Rückgrat für die kommenden Veränderungen sei. Im gleichen Atemzug formulierte der Sprecher der deutschen SAP-Anwendergemeinde seine Anforderungen an das ERP der Zukunft. Ein solches System müsse den Nutzern die richtigen Informationen liefern, ein einfaches Prozessmodell sowie aufgabenbezogene Oberflächen bieten. Dazu brauche es neue Funktionalitäten und die volle Prozessabdeckung. Nur so lasse sich eine Plattform für die Lösungen von morgen bauen.
Als solche bringt SAP sein S/4 HANA ins Spiel – die erst im Frühjahr vorgestellte ERP-Suite, die speziell für die eigenentwickelte In-Memory-Datenbank HANA angepasst wurde. „S/4 HANA ist das ERP der Zukunft“, bekräftigte SAP-Vorstand Bernd Leukert vor den 4000 in der Bremer Kongresshalle versammelten Kunden und machte damit unmissverständlich klar, wo die Prioritäten des größten deutschen Softwarehauses liegen. Zugleich bemühte sich der SAP-Vorstand die Vorteile des Systems herauszustellen.
Beispielsweise habe die italienische Bahn ihre Züge mit sechs Millionen Sensoren ausgestattet, deren Informationen in S/4 HANA gesammelt und ausgewertet werden, um entsprechende Aktionen auszulösen. Die Zielsetzung der Betreiber: mehr Effizienz im Betrieb und eine höhere Kundenzufriedenheit. Leukert zufolge sei es der Bahn gelungen, einen dreistelligen Millionenbetrag einzusparen. Dazu komme eine verbesserte Kundenzufriedenheit.
Dieses Beispiel ist nach SAP-Angaben nur eines unter vielen. Leukert zufolge haben nach sechs Monaten bereits mehr als 1000 Unternehmen lizenzierte Projekte gestartet. Etliche Unternehmen setzten die Lösung bereits produktiv ein. Damit verlaufe die Adaption des neuen Systems viel schneller als beispielsweise die von R/3, verglich der SAP-Manager seine neue Lösung mit dem ERP-Produkt der 90er-Jahre.
Leukert versprach den SAP-Kunden mit S/4 HANA eine Reihe von Vorteilen. Neben flexibleren und effizienteren Prozessen ermögliche die neue Applikationsplattform aus Walldorf Geschäftseinblicke in Echtzeit sowie genauere Vorhersagen und Simulationen. Damit könnten Anwender besser auf Kundenanforderungen reagieren. Das Management in den Unternehmen sei mit Hilfe des SAP-Systems zudem in der Lage, eine Art Digital Boardroom einzurichten, in dem sämtliche Informationen zusammenliefen. So könnten die Firmenlenker bessere Entscheidungen treffen und ihre Unternehmen genauer steuern.
Konsolidieren, Standardisieren, Integrieren
Einer, der den HANA-Weg bereits eingeschlagen hat, ist Anton Müchler, CIO von Wacker Neuson. Der Baumaschinenhersteller will am 15. November sein ERP on HANA live schalten. Von Hype-Stimmung oder Euphorie ist in diesem Zusammenhang allerdings wenig zu spüren. Das Unternehmen ist nach eigenen Angaben pragmatisch vorgegangen. Müchler zufolge habe man in den vergangenen Jahren hart daran gearbeitet, drei SAP-Systeme in eines zu konsolidieren. Angesichts der darunter liegenden unterschiedlichen Datenbanken von Oracle und IBM habe sich in der Folge auch die Frage nach einer künftigen einheitlichen Datenbanklösung für das SAP-System gestellt. An dieser Stelle kam HANA ins Spiel.
Müchler, der die IT-Geschicke des Unternehmens seit 2001 verantwortet, kennt die Probleme und Schmerzen eines CIO: Gerade wenn ein Unternehmen zukauft und unkontrolliert wächst, muss die IT-Abteilung viele Aufgaben schultern, um den Betrieb sicherzustellen. Sein Credo: konsolidieren, standardisieren und integrieren. "Wer seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, dem hilft auch HANA nicht weiter". Der Strategie seines Softwarelieferanten steht der CIO mit einer gesunden Portion Skepsis gegenüber.
Man müsse sich immer fragen, was SAP ernst meine beziehungsweise über welche Dinge irgendwann einfach nicht mehr gesprochen werde. Müchler griff auch das Management-Cockpit auf, dass Leukert als Beispiel für die neuen Möglichkeiten von S/4 HANA kurz zuvor angeführt hatte. Dieses Cockpit sei bereits in der Vergangenheit des öfteren in SAP-Präsentationen rund um Business Intelligence und das Business Warehouse aufgetaucht – jetzt wieder einmal im Zuge von HANA, erinnerte sich der CIO unter dem Gelächter des Publikums.
Nichtsdestotrotz betonte er aber auch sein Vertrauen zu SAP. Vieles von dem, was SAP im Zuge von HANA versprochen habe, sei schlichtweg noch nicht da. Hier müsse man dem Hersteller zutrauen, dass die Innovation vorangetrieben werde und diese Dinge irgendwann kämen. Müchler vergleicht die jetzige Phase mit dem Aufbruch der SAP-Welt ins Internet-Zeitalter rund um die Jahrtausendwende. Der Wechsel in Richtung HANA ist aus Sicht des IT-Verantwortlichen unausweichlich. Vieles funktioniere nur auf der neuen Plattform. Der CIO glaubt an die Zukunft von HANA, betont aber, dass der Umstieg nicht einfach sei. „Es bedeutet auch viel Arbeit, Schweiß und Tränen.“
Die Business Suite bleibt gesetzt
Das Gros der SAP-Anwender wartet jedoch erstmal ab. Die DSAG hatte im Vorfeld der Jahrestagung ihre Mitgliedsunternehmen nach der strategischen Relevanz von SAP-Lösungen befragt. Lediglich jeder vierte der gut 350 Befragten bezeichnete die Relevanz von S/4 HANA als hoch – in der On-Premise-Ausführung. Die Cloud-Edition ist gerade einmal für gut drei Prozent strategisch relevant. Dagegen setzen sieben von zehn SAP-Anwendern nach wie vor auf die Business Suite als strategische Plattform – auch für die Zukunft.
Anwender brauchen Informationen, um den Einsatz von S/4 HANA besser abwägen zu können – vor allem hinsichtlich des Funktonsumfangs. Für fast drei Viertel der Unternehmen sei dies das wichtigste Entscheidungskriterium, sagte Lenck und monierte im gleichen Atemzug, dass SAP aus Anwendersicht diese Informationen derzeit noch nicht ausreichend zur Verfügung stellt. Außerdem fehlten konkrete Aussagen zum Geschäftsnutzen, dem Lizenzmodell und Voraussetzungen für eine Migration. „Aus diesen Gründen ist eine gewisse Zurückhaltung und Skepsis unter den Mitgliedern zu spüren“, heißt es von Seiten der DSAG.
Laut der Umfrage stellt derzeit etwa jedes zehnte Unternehmen die Weichen in Richtung HANA: Vier Prozent stellen bereits die Lizenzen um, sechs Prozent starten gerade ein entsprechendes Projekt. Dagegen ist für 37 Prozent der befragten SAP-Anwender S/4 HANA kein Thema – Begründung: Es fehle der unternehmerische Mehrwert. Weitere 37 Prozent informieren sich gerade und elf Prozent haben sich mit dem neuen SAP-System noch gar nicht beschäftigt.
Neues ERP - altes ERP
Angesichts der Frage, welche Vorteile Anwender von S/4 HANA gegenüber den Nutzern der Business Suite haben, zieht der DSAG-Vorstand eine nüchterne Bilanz. „Machen wir uns nichts vor“, konstatierte Lenck. „S/4 HANA ist lediglich ein ERP auf HANA, ergänzt um ein Simple Finance und ein Simple Logistics.“ SAP habe dem Ganzen nur ein anderes Label gegeben.
Da die Mehrheit der SAP-Anwender nach wie vor auf die klassische Business Suite setzt, fordern die DSAG-Vertreter von dem Softwarehersteller, die Zukunftsfähigkeit der Suite sicherzustellen. Schließlich zahlten die Kunden Wartungsgebühren, argumentierte Lenck. Da könnten sie die Weiterentwicklung des Produkts erwarten. Der Anwendervertreter machte an dieser Stelle keinen Hehl daraus, dass es dafür auch Bedarf gebe. Beispielsweise klafften in der funktionalen Abdeckung von End-to-end-Prozessen durch die Business Suite noch Lücken.
Vor allem die enge Verzahnung zwischen Applikationsebene und der HANA-Datenbank sowie die daraus resultierende größere Abhängigkeit von SAP sehen die Kunden mit zunehmender Sorge. Viele Unternehmen haben in der Vergangenheit in Produkte von IBM, Microsoft und Oracle investiert. Es gebe oft keinen triftigen Grund, leistungsfähige Datenbanken abzulösen und sich ganz von einem Anbieter abhängig zu machen, hieß es von Seiten der Anwendervertretung. Wir fordern Vielfalt im Datenbankbereich", machte Lenck den Standpunkt der SAP-Kunden klar. "Wir wollen keinen Monopolisten." Die DSAG-Vertreter fordern deshalb mehr Offenheit in den Systemen. Zudem müssten Alternativen zugelassen werden ohne Einbußen im Funktionsumfang und in der Leistung", ergänzte Hans-Achim Quitmann, Technologie-Vorstand der DSAG.
DSAG-Wunsch: Datenbankhersteller sollen HANA nachbauen
Um Performance-Vorteile zu erzielen gebe es durchaus Sinn, Aufgaben aus der Applikationsschicht in die Datenbank zu verlagern. Deshalb sei der Ansatz der SAP mit S/4 HANA durchaus richtig, konzediert Lenck mit Blick auf Leistungsvorteile der neuen Plattform. Allerdings sollte es möglich sein, dass diese Funktionalität auch von anderen Datenbankanbietern bedient werden könnte.
Diese sollten Lenck zufolge daher in der Lage sein, in ihren Produkten eine Art HANA-Verhalten nachprogrammieren zu können. Der DSAG-Vorstand äußerte die Hoffung, dass die anderen Datenbankanbieter diesen Weg auch gehen und die entsprechenden Investitionen tätigen. Zugleich müsse SAP die dafür notwendigen Spezifikationen und Funktionalitäten offenlegen. „Das würde uns ein Stück weit die Abhängigkeit nehmen, die wir Stand heute in den Unternehmen haben“, sagte Lenck.
Ob S/4 HANA die richtige Antwort auf die Anforderungen der Kundenseite ist, bleibt abzuwarten. Bedarf scheint grundsätzlich vorhanden, ließen die Anwendervertreter duchblicken. Gerade durch die Digitalisierung und neue Themen wie Industrie 4.0 und das Internet der Dinge werde das etablierte Vorgehen der IT auf den Prüfstand gestellt. Damit verbunden seien zusätzliche Anforderungen an die verwendeten Applikationen.
„Vieles spricht dafür, dass die nachhaltige, schnelle und gewinnbringende Umsetzung einer digitalen Transformation nur auf Basis einer Neubewertung der Rolle der IT in den Unternehmen und ihrer Leistungsbeiträge möglich sein wird“, stellte Gerhard Göttert fest, Vorstand Anwendungsportfolio bei der DSAG. S/4HANA könnte dabei eine Antwort sein. Dafür sei es jedoch wichtig, dass SAP zielgerichtete Informationen über die Vorteile von S/4HANA bereitstellt und die Kunden im Prozess der Transformation intensiv begleitet.