Ich habe einen Traum. Was wäre, wenn ich keine unnötige Zeit mehr an Bahnhöfen oder Flughäfen, in Verkehrsstaus und Warteschlangen oder mit der Bekämpfung von Folgeerscheinungen interkontinentaler Geschäftsreisen verbringen würde, ohne dadurch mein Berufsleben in postdigitaler Eremitage fristen zu müssen?
Laut einer HP-Studie aus dem Jahr 2013 verbrachten 54 Prozent der befragten 600 europäischen Geschäftsleute mindestens die Hälfte ihrer Reisezeit mit Arbeit, die direkt mit dem Zweck der Geschäftsreise zu tun hat. Die Weiterentwicklung mobiler Technologien der vergangenen Jahre hat sicherlich zu großen Produktivitätsfortschritten geführt, allerdings sind wir aus meiner Sicht noch ein Stück weit von der oft beschworenen "Ubiquität" rechnergestützter Informationsverarbeitung entfernt. Darüber hinaus spielen dauerkommunizierende Passagiere und die Abhängigkeit von zuverlässig funktionierenden Transportsystemen für mich eine ebenso wichtige Rolle.
Was den Schutz sensibler Informationen angeht, so erscheint mir nach ungewolltem Mithören verschiedenster Telefonate eine Bahncard zuweilen als sehr sinnvolle Investition für jeden nachrichtendienstlichen Mitarbeiter. Allen Fortschritten mobiler Technologien und (inter-)nationaler Transportmittel zum Trotz empfinde ich Geschäftsreisen im Hinblick auf meine Produktivität nach wie vor alles andere als zeitoptimal.
Weitere Wetten finden Sie im CIO-Jahrbuch 2015 Jahrbuch 2015 - Neue Prognosen zur Zukunft der IT |
Zudem ist die aus meiner Sicht beste Option, nachhaltiges Wirtschaften und Umweltverträglichkeit in Bezug auf das Verkehrsaufkommen zu fördern, wann immer möglich nicht zu reisen. Daher möchte ich ein alternatives Szenario vorschlagen: Statt zum persönlichen Gespräch von einem Ort zum anderen reisen zu müssen, könnte jeder dort bleiben, wo er gerade ist. Nämlich dann, wenn virtuelle Treffen so "persönlich" wie reale Treffen sein könnten.
Im Volksmund heißt es seit eh und je: "Ein persönliches Gespräch ist durch nichts zu ersetzen." Dieser Sichtweise schließe auch ich mich an. Damit stellt sich die Frage, unter welchen Umständen ein Gespräch als "persönlich" empfunden werden kann, wenn die Gesprächsteilnehmer sich nicht am selben Ort befinden.
Alles nur Science-Fiction
Man kann sich dieser Fragestellung sehr gut mittels einer speziellen Technik des lateralen Denkens, nämlich der sogenannten Provokation, nähern. Betrachtet man die Menschheitsgeschichte, so ist das persönliche Gespräch am selben Ort immer der Normalfall gewesen. Boten, Briefe, Telefone und Internet kamen dann im Laufe der Zeit als zusätzliche Möglichkeiten hinzu, ohne einen vollständigen Ersatz darzustellen. Man könnte durchaus evolutionsgeschichtlich argumentieren, dass Menschen persönlichen Kontakt sogar wollen.
Was wäre also, wenn das Gegenteil zuträfe und alle Menschen persönlichen Kontakt unbedingt vermeiden wollten? Die Annahme "Menschen wollen keinen persönlichen Kontakt" stellt angesichts der beobachtbaren Verhältnisse in der realen Welt eine Provokation dar, die uns zum Verlassen eingefahrener Gedankengänge einlädt.
Der bekannte Science-Fiction-Autor Isaac Asimov hat bereits in seinem im Jahre 1957 veröffentlichten Werk "The Naked Sun" das Bild einer künftigen Gesellschaft entworfen, die auf dieser Annahme beruht. Er beschreibt darin einen von Menschen besiedelten Planeten namens Solaria, auf der sich eine isolationistische, komplett von Robotern abhängige Gesellschaft genetisch verbesserter und daher sehr langlebiger Menschen entwickelt hat. Die Solarianer zeichnen sich durch eine strikte Abneigung direkten Kontakts aus und leben in absoluter Abgeschiedenheit.
Sieht man einmal von der Fortpflanzung ab, so geschieht dort jeglicher Kontakt mittels hoch entwickelter holografischer Telepräsenzsysteme, mit deren Hilfe man sich gegenseitig "sichtet" (statt "sieht", im englischen Original wird hierbei das Begriffspaar view und see verwendet). Die Erfahrung des Sichtens kommt dabei einer direkten Begegnung so nahe, dass nach Auffassung der Solarianer keinerlei Grund für ein direktes Zusammentreffen mehr besteht. Glücklicherweise unterscheiden wir uns aus meiner Sicht in vielerlei Hinsicht von der sehr befremdlich wirkenden Gesellschaft der Solarianer.
Jedoch könnten auch wir die holografische Telepräsenztechnik der Solarianer sinnvoll einsetzen, selbst wenn sich unsere Motive für den Einsatz dieser Technik sehr unterscheiden. Solarianer setzen sie ein, weil sie keinen direkten Kontakt wollen, wir hingegen würden sie einsetzen, wenn wir situationsbedingt keinen direkten Kontakt haben können.
Die heutige Realität
Lange Zeit war das Telefon das einzige robuste und leicht verfügbare Mittel der Wahl zur virtuellen Zusammenarbeit. Wie unnatürlich sich gerade die in den vergangenen 20 Jahren alltäglich gewordenen und immer noch überraschend beliebten Telefonkonferenzen im Hinblick auf menschliches Verhalten in Gesprächssituationen erweisen, ist auf sehr humorvolle Weise im Video "A Conference Call in Real Life" auf YouTube dargestellt. (Alle Probleme treten dort geballt auf: von Teilnehmern, die zu spät erscheinen, über Synchronsprecher bis hin zu totalen Systemausfällen.)
Mittlerweile lässt sich durch "Unified Communication"-Systeme wie Microsoft Lync bereits echte direkte Zusammenarbeit sehr gut organisieren. Durch zielgerichteten Einsatz von Social Media können sich insbesondere Projektteams auf täglicher Basis sehr eng abstimmen. Damit lässt sich bereits heute die effektive Zusammenarbeit virtueller Teams viel besser organisieren als noch vor zehn Jahren.
Trotzdem wächst der Geschäftsreisemarkt in Deutschland von Jahr zu Jahr weiter, und man versucht lediglich durch professionelles Mobilitätsmanagement in den Unternehmen die Kosten zu optimieren. Doch auch ohne solarianische Telepräsenztechnik müsste es doch möglich sein, diesem Trend entgegenzuwirken.
Ein Experiment
Was würde passieren, wenn es gelänge, ein etwas menschlicheres Auftreten zu ermöglichen? Dazu bietet sich der Double-Telepräsenzroboter der Firma Double Robotics an, von deren vielfältigen Einsatzmöglichkeiten unser CTO Sascha Krause selbst mich schnell überzeugen konnte. Hierbei handelt es sich um eine Art Segway-Roller mit einem an einer Stativstange befestigten iPad.
Die Fernsteuerung erfolgt dabei wahlweise über eine iPad- oder iPhone-App, die sich sehr leicht bedienen lässt. Im ersten Versuch nahm ich an einer Konferenz in Slowenien teil, zu der ich aus terminlichen Gründen nicht vor Ort erscheinen konnte. Statt eines Stuhls hatte ich mit meinem Roboter am Konferenztisch "Platz" genommen (siehe Foto unten).
Alle Teilnehmer nutzten Mikrofone, sodass ich ohne Weiteres an Diskussionen teilhaben konnte. Da die Präsentationen per Lync übertragen wurden, sah ich sie tatsächlich besser, als ich sie vom Platz meines Roboters vor Ort selber hätte sehen können. Höhepunkt war schließlich die Fahrt meines Roboters ins Hotelrestaurant während der Mittagspause, wo mir von einigen Teilnehmern spaßeshalber Essen angeboten wurde.
Beim zweiten Versuch gaben wir bei einer ähnlichen Veranstaltung die Zugriffsdaten zweier Roboter frei, sodass sich Kollegen von überall auf der Welt in einen Roboter einwählen konnten. Nach anfänglicher Scheu kam es zu einem regelrechten Run auf die Geräte. Es gab angeregte Pausengespräche zwischen Teilnehmern vor Ort und den Roboterpiloten. Die einhellige Rückmeldung aller Testfahrer war, dass sie anders als beim vorher schon üblichen Videostreaming wirklich das Gefühl hatten, vor Ort mit dabei zu sein.
Was mir dabei besonders auffiel, war die Tatsache, dass die Menschen am Veranstaltungsort nach einer kurzen Eingewöhnung anfingen, die Roboter wie Menschen zu behandeln, obwohl sie auf dem anmontierten iPad lediglich das Gesicht des Fahrers sehen konnten.
Holografie, Robotik oder Matrix?
Neben Isaac Asimov hat auch der Sci-Fi-Serienklassiker "Star Trek" unsere Vorstellungskraft mit dem sogenannten Holodeck deutlich erweitert. Auch wenn ich bezweifle, dass wir in zehn Jahren ein vergleichbares Niveau auch nur annähernd erreicht haben werden, erwarte ich weitere signifikante Fortschritte im Bereich der Holografie.
Aus meiner Sicht liegt ein sinnvoller nächster Schritt in einer noch menschenähnlicheren und damit zwangläufig dreidimensionalen Darstellung der Gesprächsteilnehmer. Wir erleben zurzeit sehr beeindruckende Fortschritte im Bereich der Robotik, sodass ich mir gut vorstellen kann, in Zukunft ab und zu per Roboter an Terminen teilzunehmen. Das einfache Double-Robotics-Experiment hat mir gezeigt, dass man mit sehr einfachen Mitteln bereits eine recht erstaunliche Wirkung erzielen kann.
Eine weitere Möglichkeit in Form einer Computersimulation wird im stilprägenden Sci-Fi-Film "The Matrix" beschrieben und geht im Wesentlichen auf den im Jahre 1964 erschienenen Roman "Simulacron-3" von Daniel Francis Galouye zurück. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Besprechungen den Charakter sehr real wirkender Computerspiele annehmen werden, auch wenn diese Vorstellung noch sehr befremdlich wirken mag. Weiterführende Gamification - zum Beispiel Bonuspunkte, wenn man andere Teilnehmer ausreden lässt - wäre sicherlich optional vorstellbar.
Ich sehe grundsätzlich folgende Möglichkeiten:
Menschen erscheinen im realen Raum der Gesprächspartner als dreidimensionales, wahrscheinlich holografisches Abbild
Wir werden Roboter nutzen, um an anderen Orten der Welt telepräsent und gleichzeitig mobil zu sein.
Alle Gesprächsteilnehmer treffen sich mittels Avatar an einem virtuellen Ort.
Gleichzeitig erwarte ich die Verstetigung eines aktuellen Trends, der unter der Bezeichnung "Wearables" Eingang in die Deloitte-Tech-Trends 2014 gefunden hat. Hierbei handelt es sich um die Integration von IT in Bekleidungsstücke im weiteren Sinne (zum Beispiel Google Glass). Ein höherer Immersionsgrad ist heutzutage noch wie etwa bei Videokonferenzsystemen an fest installierte, relativ große Hardware gebunden. In Zukunft können wir von einer gewissen "Tragbarkeit" immersiver Technologie ausgehen, sodass man sie sehr gut zum Beispiel vom eigenen Heim aus einsetzen kann.
Zweck der Technologie steht im Vordergrund
Welche der aufgelisteten Möglichkeiten sich am Ende durchsetzen wird, vermag ich an dieser Stelle nicht vorherzusagen. Für mich steht allerdings der Zweck - und nicht die Art - der Technologie im Vordergrund, und die Möglichkeit der Verringerung geschäftlicher Reisen bei gleichbleibender oder vergleichbarer Tätigkeit empfände ich als Steigerung meiner persönlichen Lebensqualität.
Ich wage somit die Vorhersage, dass wir in zehn Jahren sehr viel bessere, lebensnähere Möglichkeiten der virtuellen Kommunikation und Zusammenarbeit haben und diese auch intensiv nutzen werden. Da ich den Sinn und die Bedeutung des persönlichen, direkten zwischenmenschlichen Kontakts bei allem denkbaren technologischen Fortschritt immer noch sehe, halte ich einen vollständigen Verzicht darauf nicht für erstrebenswert. Gerade zu Beginn einer Zusammenarbeit mit anderen Menschen ist es in meinen Augen immens wichtig, diese persönlich zu treffen und kennenzulernen. Es erscheint mir jedoch möglich und sinnvoll, die Anzahl der geschäftlichen Reisen in zehn Jahren mindestens zu halbieren.
Weitere Wetten finden Sie im CIO-Jahrbuch 2015 Jahrbuch 2015 - Neue Prognosen zur Zukunft der IT |