Werner Schmidt, IT-Vorstand der LVM-Versicherung aus Münster, hatte ein Problem: Sowohl die Hardwareproduktion als auch die Pflege des proprietären Betriebssystems für die alten Nixdorf-Computer liefen aus. Weil es keine Migrationspfade von der Anlage aus den frühen 80er-Jahren gab, musste er ein völlig neues Agentursystem entwickeln. Eine "Jahrhundertentscheidung" nennt der Vorstand die komplette Neuausrichtung der IT-Architektur und der Geschäftsprozesse.
"Wir haben das als Chance begriffen, herkömmliche Abläufe und Verfahren radikal in Frage zu stellen, neueste Technologien einzusetzen und das Unternehmen in Gänze neu zu positionieren", sagt Vorstand Schmidt. Basis der neuenIT-Architektur ist die Zentralisierung von Daten und Anwendungen, auf die alle User mit Thin Clients zugreifen. Die Neuentwicklung setzt auf den Internet-StandardsLinux, Java, HTML und XML auf.
"Wir haben den '3-Tier'-Ansatz gewählt, der die IT-Architektur in Benutzerschnittstelle, Geschäftslogik und Daten aufteilt", so Schmidt. Vorteile für die Versicherung: Weil die Clients weder Daten noch Anwendungen vorhalten, werden Mehrfachentwicklungen vermieden, Entwicklungs- und Wartungskosten reduziert. Durch die Trennung der Geschäftslogik von den Daten war es auch möglich, Host-Anwendungen gekapselt über die IBM-Middleware "Websphere" anzubinden. Das Ergebnis: Alle Nutzer greifen in Echtzeit auf denselben Datenbestand und dieselben Applikationen zu, Replizierungsmechanismen entfallen.
Die Thin Clients sind nicht nur auf den Laptops des Außendienstes installiert. Auch die 2100 Mitarbeiter der LVM-Hauptverwaltung in Münster - rund 600 davon Telearbeiter - sowie die bundesweit 2100 Agenturen sind mit "dünnen" Desktops ausgestattet,die unter "Linux From Scratch" (www.linuxfromscratch.org) laufen. Nicht nur die geringeren Lizenzkosten, sondern auch die umfassende Funktionalität und das problemlose Einbinden der Funkstandards GPRS (Fernbereich) und Bluetooth (Nahbereich) haben Schmidt darin bestätigt, dass diese Entscheidung richtig war.
Laptops im Außendienst sind Standard ...
Die Verbindung in den Büros der Zentrale läuft überdas hausinterne Netz; die Agenturen und Telearbeiter sind sicherheitshalber über ein VPN im T-ATM-Festnetz der Deutschen Telekom angeschlossen, das gleichzeitig Sprache überträgt. Die Außendienstler kommunizieren über GPRS und ein VPN von T-Mobile mit der Zentrale. Über das Netzwerk werden die Clients automatisch mit Software-Updates versorgt.
"Dass der Außendienst mit Laptops berät, ist nichts Neues", konstatiert Volker Gruhn, Professor für angewandte Telematik und E-Business an der Universität Leipzig. "Fast alle Versicherungen haben ihre Leute inzwischen damit ausgestattet". Entscheidend sei, wie Außendienst-Anwendungen in das Backend integriert und wie aktuell Daten und Anwendungen auf den Clients seien - im besten Fall nämlich "always-online". Die LVM-Versicherung fährt laut Gruhn "vermutlich das modernste Konzept in der deutschen Versicherungslandschaft".
... mobile Stammdaten jedoch noch selten
Für die Trend-Studie "Mobile Data Corporate Solutions bei Versicherungs- und Versorgungsunternehmen" befragte der Wissenschaftler 50 deutsche Versicherer zum Stand ihrer mobilen Anwendungen. Zwischenfazit nach der Auswertung von 13 Firmen: Nur ganz wenige versorgen ihre Außendienstler mit aktuellen Daten. Zwarverfügen die Notebooks meist über Beratungs- undAnalyseprogramme, wie Gruhn herausfand. Aktuelle Stamm- und Bestandsdaten auf den Rechnern seien jedoch die Ausnahme. Die Versicherer, die dem Vertrieb auf Abruf spartenübergreifende Bestandskundendaten und Aktualisierungen der Beratungs- und Analyse-Tools zur Verfügung stellen könnten, seien in einer besseren Ausgangsposition, so Gruhn: Sie könnten diese Informationen und Anwendungen relativ schnell auch in Echtzeit über mobile Endgeräte bereitstellen. Entwicklung, Bereitstellung und Pflege von mobilen Datenlösungen sind komplex: Vor allem die Integration mit Datenbeständen und Applikationen im Backoffice stellt hohe Anforderungen an die IT-Infrastruktur. "Wenn die Clients, wie heute üblich, offline sind, ist der logistische Aufwand enorm, weil jede Änderung im Tarifmodell für verschiedene Plattformen entwickelt,getestet, installiert und verteilt werden muss", sagt Gruhn. Sein Resümee: Je dünner der Client, desto besser.
Viele Versicherer begingen jedoch einen grundsätzlichen Fehler, urteilt der Forscher: Ihre RoI-Berechnungen bei der Einführung mobiler Technologien beschränkten sie sich auf Rationalisierungseffekte, die sich allein aus Einsparmaßnahmen im Bereich der Technik - etwa geringerer Betriebs-, Entwicklungs- und Wartungsaufwand - ergäben. Die Chancen der Prozessrationalisierung blieben damit auf die IT-Prozesse beschränkt, Rationalisierungspotenziale in den Kernprozessen ergäben sichbestenfalls zufällig. Kosten-Nutzen-Betrachtungen, die Aufschluss über die Entlastung des Innendienstes, etwa durch die Fertigstellung der Schadensberichte vor Ort durch den Außendienstmitarbeiter, oder über entfallende Doppeleingaben für die Aktualisierung von Kunden- und Vertragsdaten gäben, würden nicht systematisch in die Betrachtung einbezogen.
"Wir waren bereit, völlig neue Wege zu gehen", sagt Schmidt. Obwohl er vorher weder Gruhn noch dessen Studie kannte, haben deren Ergebnisse ihn bestätigt. "Wir haben, ohne es zu wissen, praktisch alles richtig gemacht", meint der IT-Vorstand. "Wir hatten ja nicht nur eine Veränderung der IT-Architektur ins Auge gefasst, sondern die Optimierung der Geschäftsprozesse und die Neuausrichtung des Unternehmens."
Die mobile Anbindung der Außendienst-Laptops war in der neuen ITArchitektur kein großes Problem mehr. Weil alle Daten und Anwendungen zentralisiert sind, war lediglich einzusätzlicher mobiler Kommunikationskanal einzurichten. "Die technische Realisierung mobiler Anbindungen ist meist kein großes Problem - im Gegensatz zur IT- und Prozessintegration", sagt auch Telematik-Experte Gruhn. Die Außendienstler greifen jetzt in Echtzeit auf dieselben Daten und Programme zu wie ihre Kollegen in der Zentrale und in den Agenturen. Wenn ein Außendienst-Mitarbeiter die Stammdaten eines Kunden, etwa Adresse oder Bankverbindung, ändert oder einen neuen Vertrag abschließt, wird das sofort im zentralen Datenbestand gespeichert und ist für alle Mitarbeiter zugänglich.
Hohe Anforderungen an die Verfügbarkeit
Das Konzept stellt allerdings hohe Anforderung an die Verfügbarkeit der Anwendungen. Denn anders als bei Offline-Clients mit eigenen Applikationen und Daten sind die Nutzer darauf angewiesen, dass die Rechner der zentralen Datenverarbeitung in Münster ständig in Betrieb sind. "Wir haben unser Ziel nicht auf 7 mal 24 mal 365 ausgerichtet", räumt Schmidt ein. Die ursprünglich vereinbarten Betriebszeiten - Montag bis Freitag von 7 bis 22 Uhr und Samstag von 8 bis 14 Uhr - würden deutlich übertroffen. "Zurzeit erreichen wir 7 mal 2X mal 36X" - übersetzt: Die Systeme sind an mindestens 360 Tagen pro Jahr mindestens 20 Stunden verfügbar, eher mehr.
Eine weitere Herausforderung, die sich aus dem Echtzeit-Verfahren ergibt, erläutert Gruhn: "Je dünner der Client, desto größer ist der Kommunikationsbedarf für die permanente Verbindung zum Zentralsystem." Die geringe Bandbreite der mobilen Medien sei aber kein Problem: Für die kleinen Datenmengen bei der Versicherungsberatung reiche GPRS aus.
LVM-Vorstand Schmidt räumt zwar ein, dass dieKommunikationskosten gestiegen seien. Über die Investitionen für die IT-Umstrukturierung und die mobileAnbindung schweigt er sich jedoch aus. "Das Gesamtprojekt zahlt sich auf jeden Fall für uns aus", versichert er. "Die Rationalisierungsgewinne werden wir zumeinen zur Erweiterung des Serviceangebotes nutzen und zum anderen, um unser Angebot für die Kunden attraktiver zu machen."
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