Lawrence Joseph Ellison lernte schon früh, mit Verlusten zu leben. Als ihn seine Mutter Florence am 17. August 1944 in New York zur Welt brachte, war sie gerade mal 19 Jahre alt. Sein Vater, Jetpilot bei der Luftwaffe, war bereits vor der Geburt verschwunden. Ellison lernte ihn nie kennen.
Hinzu kam: In den Vierzigerjahren war es nicht üblich, dass Frauen uneheliche Kinder bekommen. Zu allem Übel war der kleine Lawrence körperlich schwach, im Alter von neun Monaten erlitt er eine Lungenentzündung. Seine Mutter sah sich außer Stande, gleichzeitig Geld zu verdienen und für ihren Sohn zu sorgen. Deshalb brachte sie ihn schweren Herzens zu einer Tante nach Chicago, die ihn schließlich adoptierte. Lawrence sollte seine Mutter erst 48 Jahre später wiedersehen. Sein Unternehmen war da bereits an der Börse gelistet.
Lawrence "Larry" Ellison ist Gründer und CEO des Softwarekonzerns Oracle, seine Geschäftsidee machte ihn zu einem der reichsten Menschen der Welt. In der aktuellen "Forbes"-Liste steht der 68-Jährige auf Platz fünf, mit einem geschätzten Vermögen von 43 Milliarden US-Dollar.
Geschäftlich hat Ellison in den vergangenen Jahrzehnten ziemlich viel richtig gemacht. Und das hat nicht nur mit seinem Ehrgeiz, seiner Intelligenz und seinem Talent zu tun. Sondern auch mit seinem ganz speziellen Charakter.
Vielleicht stimmt es ja doch nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt - auch wenn Ellison alles daran gesetzt hat, seine seelischen Narben durch allerlei Eigenarten, Maschen und Sperenzchen zu kaschieren. Als er vor einigen Jahren eine Segelregatta mit großem Abstand gewonnen hatte, feierte er diesen Triumph auf seine ganz eigene Weise. Er stieg vom Boot, fuhr zum Flughafen, kletterte in seinen Jet und donnerte über die anderen Segler hinweg, die noch auf dem Wasser herumschipperten. "Es war eine dieser wunderbar unreifen Taten, die man nicht missen möchte", sagte Ellison hinterher.
Seine vierte Ehefrau, die Schriftstellerin Melanie Craft - die beiden sind seit 2010 geschieden -, las ihm einst aus einem Buch vor. In der Passage hieß es, dass gute Schriftsteller niemals verheiratet sein sollten. Sie seien viel zu besessen, egoistisch und narzisstisch. "Tatsächlich?", dachte Ellison. "So bin ich auch."
Schon seit Jahrzehnten beschäftigten sich Psychoanalytiker mit Narzissmus. Zurück geht diese Charaktereigenschaft auf die griechische Sagenfigur Narkissos. Der wurde einst von Männer und Frauen gleichermaßen begehrt, liebte aber nur sich selbst. Deshalb ließ er alle Bewunderer abblitzen, auch die Bergnymphe Echo. Die Götter bestraften Narkissos daher mit einem tückischen Fluch: Er verliebte sich in sein eigenes Spiegelbild.
Als er seine aussichtslose Lage erkannte, soll er sich einen Dolch in die Brust gestoßen haben. Anderen Quellen zufolge ertrank er, als er sich mit seinem Spiegelbild vereinen wollte. Doch seine Legende lebt weiter. Heute vielleicht mehr als je zuvor.
Ehrgeizig, hoch motiviert und machthungrig
Davon ist zum Beispiel Hans-Joachim Maaz überzeugt. Der renommierte Psychiater und Psychoanalytiker glaubt, dass die Gesellschaft in der Narzissmus-Falle steckt. Diese führe vor allem zu Gier, egal ob nach Geld oder anderen Vorteilen, schreibt Maaz in seinem aktuellen Buch "Die narzisstische Gesellschaft".
Auch die US-Professorin Jean Twenge von der San Diego State Universität glaubt, dass Narzissmus immer verbreiteter werde. Gemeinsam mit einem Kollegen schrieb sie im Jahr 2010 das Buch "The Narcissism Epidemic". Einen Beleg für diese Narzissmus-Epidemie fand sie zum Beispiel in einer Untersuchung aus dem Jahr 2008.
Da verglich sie die Ergebnisse des "Narcissistic Personality Inventory" (NPI) aus den Jahren 1982 bis 2006, eine Art Selbsttest. Twenges Fazit: Fast zwei Drittel der heutigen Studenten seien narzisstischer als frühere Generationen.
Erstmals erwähnt wurde der Begriff Narzissmus 1898 von dem britischen Sexualforscher Havelock Ellis. Ein Jahr später bezeichnete der deutsche Psychiater Paul Näcke damit ein Verhalten, bei dem eine Person ihren eigenen Körper ähnlich behandelt wie ein Sexualobjekt, sich selbst umarmen und küssen will - und daraus Lust zieht. Oder anders formuliert: Narzissten galten früher als pervers. Diese Meinung vertrat auch der legendäre Psychoanalytiker Sigmund Freud.
10 Tipps für den perfekten Chef
Experten zufolge resultiert Narzissmus vor allem aus fehlender oder falsch verstandener Mutterliebe. Bei den betroffenen Kindern entsteht folglich ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl. Sie glauben, dass sie nicht gut genug seien, nicht liebenswert und kompetent genug.
Doch inzwischen denken die Wissenschaftler differenzierter über Narzissmus. Auch deshalb, weil sie zwischen verschiedenen Spielarten unterscheiden. Denn wahr ist eben auch: Ein bisschen Narzissmus muss sein.
Selbstliebe sei das Ergebnis von "Zuwendung, Einfühlung, Bestätigung und Befriedigung", schreibt Hans-Joachim Maaz in seinem Buch. Einerseits. Andererseits sind die Grenzen zwischen Selbstliebe und Selbstüberschätzung, zwischen gesundem und pathologischem Narzissmus fließend. Letzterer resultiert in einem ewigen Spannungsverhältnis. Das Ergebnis: Ständige Unruhe, Unzufriedenheit und ein unstillbarer Durst nach Anerkennung.
Das erklärt auch, warum Narzissten in der Chefetage besonders häufig sind. Zum einen sind sie oft ehrgeizig, hoch motiviert und gieren nach Macht. Zum anderen verfügen sie über die nötige emotionale und soziale Intelligenz, um Untergebene und Kollegen einzulullen. Sie können häufig sehr charmant sein, andere von ihren Ideen überzeugen und mitreißen.
Das legt auch eine Studie aus dem Jahr 2008 nahe. Darin bestimmte Amy Brunell von der Ohio State Universität zunächst die Charaktereigenschaften von knapp 500 Studenten. Dann teilte sie die Probanden in Vierergruppen. Jetzt sollten sie untereinander den fiktiven Vorsitzenden einer Studentenvereinigung wählen. Und siehe da: Narzisstische Studenten waren während der Diskussion nicht nur besonders dominant. Sie wurden auch wesentlich häufiger zum Vorsitzenden gewählt.
Der Umgang mit narzisstischen Vorgesetzten
Kurzum: Die Ausformungen des Narzissmus begünstigen eine steile Karriere. Und davon können Unternehmen durchaus profitieren. Zu diesem Ergebnis kam erst kürzlich die Studie eines deutsch-amerikanischen Forscherteams. Wolf-Christian Gerstner und Andreas König von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg analysierten die Investitionsentscheidungen von Pharma-Unternehmen zwischen 1980 und 2008. Ergebnis: Ein Unternehmen investierte umso häufiger in neue Technologien, je narzisstischer der jeweilige CEO war.
Kein Wunder: Narzissten verfügen über ein übersteigertes Selbstbewusstsein, das sie immer wieder aufs Neue bestätigt sehen wollen - und noch dazu über eine gehörige Portion Rücksichtslosigkeit. Eigenarten also, die bei Entscheidungen von Vorteil sein können. Zumindest in Maßen.
Doch Narzissten laufen nicht nur Gefahr, zu hohe Risiken einzugehen. Sie machen auch ihren Untergebenen das Leben bisweilen schwer. Macht und Ansehen sind ihnen wichtiger als Leistung. Sie zeigen wenig Mitgefühl und neigen zu übertriebener Risikobereitschaft. Sie sind nicht für das Unternehmen da, sondern das Unternehmen ist für ihre Bedürfnisse da. "Der sehr narzisstische Mensch hat eine unsichtbare Mauer um sich erstellt", sagte schon der deutsche Psychoanalytiker Erich Fromm. "Er ist alles, die Welt ist nichts - oder vielmehr: Er ist die Welt."
Solange sich dies im Rahmen hält, ist das nicht weiter schlimm. Doch der Grat zum sogenannten reaktiven Narzissmus ist schmal. Einerseits lieben sich solche Charaktere selbst am meisten und neigen zu Arroganz und Selbstgefälligkeit. Andererseits leiden sie unter Minderwertigkeitsgefühlen, die sie durch andauernde Anerkennung kompensieren wollen. Manche scheitern dabei kläglich - und andere haben Erfolg.
So wie Larry Ellison. In einem Fernsehinterview wurde er vor einigen Jahren mal gefragt, was ihn antreibe. "Ich gebe es zu", sagte Ellison, "es hat furchtbar viel mit persönlicher Eitelkeit zu tun."
Aber was können Angestellte tun, die einen narzisstischen Vorgesetzten haben? Dabei helfen können diese fünf Tipps.
Akzeptieren Sie den Narzissten so, wie er ist. So banal es auch klingt, aber manche Menschen ändern sich nicht - und für diese Sisyphos-Aufgabe sind Sie ohnehin nicht der Richtige.
Stellen Sie seine vermeintliche Großartigkeit nie öffentlich infrage - denn selbst auf konstruktive Kritik reagieren Narzissten häufig allergisch.
Seien Sie auf Detailarbeit vorbereitet - aber erwarten Sie nicht, für Ihre Ideen und Überstunden von ihm gelobt zu werden. Denn das Rampenlicht will er nicht mit Ihnen teilen. Deshalb sollten Sie Ihre Zufriedenheit nie von seiner Laune und seinem Wohlwollen abhängig machen.
Schützen Sie sich selbst. Bleiben Sie dem Narzisst gegenüber professionell. Ihre Gefühle und Emotionen sollten Sie mit ihm nicht teilen. Dadurch bieten Sie ihm so wenig Angriffsfläche wie möglich.
Achten Sie auf Ihre Formulierungen. Wenn Sie etwas von ihm wollen, betonen Sie nicht, was Sie selbst davon haben - sondern welche Vorteile er daraus ziehen könnte.
(Quelle: Wirtschaftswoche)