Für viele Kunden von privaten wie gesetzlichen Krankenversicherungen besteht der Nutzen ausschließlich darin, im Leistungsfall medizinisch wie finanziell abgesichert zu sein. Auch wenn die immer häufiger anzutreffende Umfirmierung von Kranken- zu Gesundheitskassen Hoffnung macht, bleibt die aktive Begleitung der Kunden durch Angebote, die auch ohne Leistungsfall einen hohen Gebrauchsnutzen haben, bisher eher die Ausnahme.
Betrachtet man die Projektportfolios großer Versicherer, so könnte sich dies bald ändern. Überall ist von Mehrwertservices, Lösungen, Plattformen und Ökosystemen die Rede. Versicherer sind sich des Werts der Kundenbeziehung bewusst und sehen die Chance, das Produkt "Krankenversicherung" zum Träger von Services mit einem hohen Nutzen für ihre Kunden zu machen. Ein Wandel in der Denkweise von der Produkt- zur Servicedominanz steht an.
Dies scheint auch plausibel, denn kaum ein Anbieter erhält so viele Informationen über seine Kunden - und dies über eine so lange Zeit - wie Krankenversicherer. Daher ist es höchste Zeit, den Kunden sowohl generische als auch maßgeschneiderte, ihre individuelle Situation berücksichtigende Mehrwertservices anzubieten. Das können beispielsweise eine Arztsuche mit der Möglichkeit der Videoberatung per App sein, Hinweise auf Wechselwirkungen von Medikamenten (Medikationsradar) oder aktive Hinweise auf erforderliche Impfungen.
Wer im Ausland einen weiten Weg zum Arzt fahren musste, um dann mit fehlenden Sprachkenntnissen eine medizinische Diagnose zu erhalten, kann den Gebrauchsnutzen von Lösungen wie der Videoberatung nachvollziehen. Dies gilt auch für den Nutzen eines Medikationsradars, gerade wenn therapiebedingt eine stattliche Anzahl von Medikamenten im Einsatz ist.
Keine Kompromisse
Bei genauem Hinsehen wird deutlich, wie datengetrieben die Realisierung derartiger Services ist, zum Beispiel für aktive Hinweise auf erforderliche Impfungen, Statusinformationen zu eingereichten Vorgängen oder individualisierte Medikationspläne. Ein Problem dabei ist, dass notwendige Daten derartiger Mehrwertservices mit hohem Gebrauchsnutzen für ihre Kunden nicht zentral gebündelt und verfügbar, sondern breit verteilt sind.
Daher ist neben den konkreten Services auch der Umgang mit den Gesundheitsdaten zu organisieren. Hierbei gibt es keine Kompromisse, Gesundheitsdaten sind allein das Eigentum der Versicherten. Um dies ganzheitlich für die Kunden zu gewährleisten, müssen Versicherer das Design servicedominierter Lösungen beherrschen und mit relevanten Plattformen und Ökosystemen kooperieren.
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Service als dominierende Perspektive auf die Wertschöpfung erfährt bereits mit der service-dominierten Logik eine theoretische Fundierung. Dabei wird ein Paradigmenwechsel von einer produktdominierten und auf Eigentum ausgerichteten Wertschöpfung hin zu einer servicedominierten, auf Gebrauchsnutzen ausgerichteten Wertschöpfung beschrieben. Im Zuge dieses Paradigmenwechsels wird Service als Anwendung von Ressourcen wie Fähigkeiten und Wissen zum Vorteil eines anderen Akteurs wie zum Beispiel des Kunden verstanden.
Zentrales Servicemerkmal ist dabei die Interaktion beziehungsweise Co-Creation mit dem Kunden, da erst durch einen zielgerichteten und wechselseitigen Einsatz von Ressourcen ein Nutzen für ihn entsteht. Weitere Merkmale sind die Orientierung am Gebrauchsnutzen statt am Eigentum (Beispiel Carsharing), der Tausch immaterieller Ressourcen (Beispiel: Kompetenzen in Form von Wissen und Fähigkeiten oder auch in implementierter Form wie softwarebasierten Services) und das Einbinden weiterer Akteure (Komplementoren) als Co-Produzenten.
Service statt Produkt
Mit diesem Paradigmenwechsel kommt es zu fundamentalen Veränderungen in der jeweiligen Rolle von Produkten und Kunden. Wurde ein Produkt traditionell verkauft (value in exchange), so ist dies in einem servicedominierten Geschäftsmodell primär als Input zur Schaffung von Gebrauchsnutzen oder Träger von Services zu sehen. Das eigentliche Produkt - wie eine Krankenvollversicherung - tritt in den Hintergrund und dient als Träger von Serviceleistungen mit hohem Gebrauchsnutzen wie zum Beispiel beim Medikationsradar.
Auch die Rolle des Kunden verändert sich von einem zumeist passiven Konsumenten hin zu einem interaktiven Mitersteller der Lösung (Co-Creator), der seinen persönlichen Gebrauchsnutzen in den Mittelpunkt stellt. Dieser Paradigmenwechsel bildet die Basis für das Design servicedominierter Lösungen. Für die Einbindung der Unternehmensressourcen, des Kunden und weiterer Partner in eine service-dominierte Wertschöpfung sind sowohl agile Arbeitsweisen als auch Plattformen hilfreich.
Eine Möglichkeit der Realisierung servicedominierter Lösungen liegt in der Schaffung einer gemeinsamen und einheitlichen Drehschreibe zwischen allen Akteuren. Zur Umsetzung dieser Drehscheibe eignen sich Plattformen, die als zentrale Schnittstelle für Ressourcen und Daten fungieren. Das Potenzial von Plattformen hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur Umsetzung einer Drehscheibe spiegelt sich in deren Charakteristika wider, die der finnische Wissenschaftler Anssi Smedlund und der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Henry Chesbrough wie folgt zusammenfassen. Plattformen …
bündeln Fähigkeiten und Ressourcen,
verbinden verschiedene Akteure,
ermöglichen Gebrauchsnutzen im Moment der Nutzung,
ermöglichen eine durchgängige Prozessautomatisierung,
sind echtzeitfähig,
sind interaktiv,
erlauben die Co-Produktion mit Komplementoren und
integrieren den Kunden als Co-Creator während der Erbringung des Service.
Im Vergleich zu traditionellen Marktplätzen wie dem Wochenmarkt, auf dem physische Güter gegen Geld getauscht werden, steht bei Plattformen die Schaffung von Gebrauchsnutzen (value in use) im Vordergrund. Ressourcen wie Menschen, Anwendungen, Daten und Produkte werden mittels Plattformen vernetzt und übergreifende Prozesse automatisiert. Wertversprechen werden über Komplementoren erweitert und entfalten durch die Interaktion des Kunden ihren Nutzen im Moment des Gebrauchs. Der Nutzen von Plattformen für die Transformation von der
Güter- zur Servicedominanz wächst bei Einbindung weiterer Plattformen durch Netzeffekte exponentiell. Das hierbei entstehende Ökosystem ist ein Netz unabhängiger Einheiten, die aufgrund gemeinsamer Werte und Ziele zum Zweck wechselseitiger Wertschöpfung verbunden sind.
Eine neue Architektur
Auf Basis eines Ökosystems können Wissen und Fähigkeiten unterschiedlicher Unternehmen und Akteure zusammenfließen und zu innovativen Wertversprechen verknüpft werden. Dies erlaubt Unternehmen, ihre Anpassungsfähigkeit zu steigern und Mehrwertservices mit hohem Gebrauchsnutzen für Kunden zu schaffen.
Eine Möglichkeit zur Implementierung einer Plattform und eines Ökosystems bietet die Servicedominierte Architektur (SDA). Sie schafft als Architektur für Plattformen die Voraussetzungen für die Einbindung von Akteuren (Kunden, Unternehmen, etc.) sowie deren Gebrauchsnutzen durch Co-Creation. Hierfür werden einerseits Merkmale der servicedominierten Logik in der Architektur abgebildet und andererseits Eigenschaften von Plattformen in der technischen Realisierung sichergestellt.
Die SDA erlaubt eine fortlaufende Integration und Orchestrierung verschiedenster Ressourcen, um kundenzentrierte Lösungen in Echtzeit zu ermöglichen. Dies geschieht auf Basis von drei Servicesystemen und einem Datenhaushalt. Im (1) System of Interaction werden Voraussetzungen für ein interaktives, einheitliches Kundenerlebnis geschaffen. Das (2) System of Participation ermöglicht es, externe Partner mit komplementären Ressourcen und Services anzubinden. Im (3) System of Operant Resources werden das vorhandene Wissen und bestehende Fähigkeiten zur Lösungserstellung gebündelt. Zuletzt werden im (4) Datenhaushalt beziehungsweise Data Lake Daten systematisch aufgenommen und in Echtzeit ausgewertet, um so ständig hinzuzulernen, das Kundenverständnis zu vertiefen und eine fortlaufende Verbesserung der Serviceleistungen zu erreichen.
Im Ergebnis entsteht eine Serviceplattform auf Basis der SDA. Der Begriff Serviceplattform soll Plattformen, die primär auf immateriellen Ressourcen (Wissen, Fähigkeiten etc.) basieren, abgrenzen von den Plattformen der "asset builder", wie sie beispielsweise in der Fertigung von Kraftfahrzeugen verwendet werden.
Beispiel Gesundheits-App
Basierend auf der Serviceplattform können Akteure oder andere Serviceplattformen angebunden und ein Ökosystem geschaffen werden. Dafür steht zum Beispiel die elektronische Gesundheitsakte mit ihren Services bei der Versicherungsgruppe Signal Iduna. In diesem Beispiel wird die Gesundheits-App SDK der IBM in die Kunden-App integriert, was die Rechnungseinreichung per Smartphone ermöglicht. Zusätzlich wird die Einbindung des Außendiensts ermöglicht: Auf Wunsch des Kunden erhält der betreuende Außendienstpartner in Echtzeit die Nachricht, dass von seinem Kunden Rechnungsunterlagen eingereicht wurden. Bei Bedarf kann dieser nun unterstützend aktiv werden.
Für das Anbinden einer einfachen Rechnungs-App wird keine SDA benötigt. Diese ist jedoch sinnvoll, wenn weitere Akteure (wie der Außendienstpartner) und Ressourcen wie beispielsweise Identifikations- und Benachrichtigungsservices integriert und automatisiert werden. Wenn diese Ressourcen sowie deren Verknüpfung als wertvoll erachtet und wiederverwendbar etabliert werden sollen, gibt eine Serviceplattform wie die SDA Sinn.
Letztendlich bildet das entstehende Ökosystem die Grundlage für die Lösungen mit hohem Gebrauchsnutzen. Wesentliche Voraussetzung ist dafür, dass Unternehmen den Gebrauchsnutzen für ihre Kunden in den Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns stellen, die Potenziale unterschiedlicher Akteure verstehen und für kundenzentrierte Lösungen nutzen.
Fazit und Ausblick
Nachdem bislang unter "Service" primär verstanden wurde, Produkte um Alleinstellungsmerkmale zu ergänzen, forciert die Digitalisierung den Gebrauchsnutzen für den Kunden. Unternehmen, die hier zurückbleiben, droht die "Commodity Trap", also der Preisverfall ihrer Angebote auf den Wert eines Rohstoffs.
Einige Anbieter wie Netflix, car2go und Spotify machen bereits vor, wie servicedominierte Plattformstrategien entwickelt werden. Offenheit für Interaktion, Co-Creation mit Kunden und die Einbindung von Komplementoren führen zu neuen Geschäftsmodellen und Lösungen, die den Gebrauchsnutzen für die Kunden und den Wert der Plattformen erhöhen.
Serviceplattformen ermöglichen bisher produktdominierten Firmen die Transformation zu offenen, interaktiven, echtzeitfähigen, servicedominierten Anbietern. Kundenzentrierte Lösungen ermöglichen mehr Kundenorientierung und Kompetenz bei geringerer Komplexität und niedrigeren Kosten.
Zusammengefasst lässt sich folgende These aufstellen: Der Tausch von digitalen Lösungen (Services) ist der Handel des 21. Jahrhunderts - Plattformen sind die Boote der Eroberer.
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