Daimler = Auto = Premium-Klasse - diese Assoziationskette ist fest in den Köpfen verankert, im Ländle, bundesweit und rund um den Globus. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich ausgerechnet einer der größten Autobauer weltweit intensiv Gedanken um alternative Konzepte der Mobilität macht. Unter der Leitung des Business Innovation Teams entstand die "smarte Revolution von Ulm", wie jüngst die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" schrieb. Gemeint ist das Projekt "car2go", in dessen Rahmen Daimler erstmals keine Autos, sondern lediglich Fahrzeit in einem smart verkauft. Rund 13.000 Menschen teilen sich in der Studentenstadt bereits die flotten Zweisitzer, die nahezu an jeder Straßenecke mit geringem formalen Aufwand ausgeliehen werden können.
Ohne unseren CIO des Jahres 2009, Michael Gorriz, und sein Team wäre dieses hochinnovative Projekt nicht denkbar gewesen. "Wir haben uns mit der vollen Kraft der IT dahintergestellt und den Projektleiter mit allem, was wir zur Verfügung haben, unterstützt", bilanziert Gorriz. Sein Team steuerte in Zusammenarbeit mit externen Partnern die Telematik-Hardware und -Software bei, entwickelte das Nutzerportal für die Kunden, schaffte die Back-Office-Anwendung inklusive Flotten- und Service-Management und sorgte dafür, dass Buchung und Abrechnung heute vollautomatisch erfolgen können.
Eine Reihe von Lösungen musste für das Projekt eigens entwickelt werden. So können car2go Kunden heute ihren Führerschein mit Siegel an ein Lesegerät hinter der Windschutzscheibe des smarts halten, sich identifizieren und den Mietvorgang starten beziehungsweise beenden. Doch das ist längst nicht alles: "Das komplette Architekturdesign, die IT im rollenden Produkt und die Backend-Infrastruktur - das alles ist mit maßgeblicher Unterstützung unserer Architekturspezialisten umgesetzt worden", sagt Gorriz.
Unter der Federführung der Daimler Tochtergesellschaft Daimler TSS GmbH wurden dazu Wissensträger aus der weltweit 4.600 Mitarbeiter starken IT-Organisation für das Projekt ausgewählt. "Mit unserem Prozess- und Architekturwissen waren wir dort schnell in der Lage, die IT für das Projekt auf die Beine zu stellen", so Gorriz. Innovationen sind für ihn eine Hauptaufgabe der IT. Und sie bergen das größte Risiko: "Innovation ist - wenn man’s nicht richtig macht - Feind der Qualität", so Gorriz. Wenn Sie zu viel innovieren, gerade im IT-Umfeld, wird das Gesamtsystem nicht stabil." Zu groß seien die unsichtbaren Abhängigkeiten unter Modulen und Elementen, von denen die Organisation oft gar nichts wisse.
Drei Fragen
CW: Wie will Daimler Cloud Computing nutzen?
GORRIZ: Ich sehe da deutliches Potenzial. Wir prüfen, ob wir Cloud-basierende Standardsoftware nutzen beziehungsweise unsere eigenen Applikationen auf Standard-Frameworks in der Cloud ablaufen lassen können. Naheliegend sind zunächst solche Dienste, die ohnehin im Internet bereitgestellt werden müssen. Dazu zählt ein "Dealer-Locator", der dem Nutzer den nächsten Mercedes-Händler in seiner Umgebung aufzeigt. Da eine solche Funktion überall verfügbar sein sollte, ist sie prädestiniert für die Cloud.
CW: Wie wird der zukünftige IT-Arbeitsplatz bei Daimler aussehen?
GORRIZ: Wir untersuchen dies gerade im Rahmen eines Projekts (Workplace 2010). Ich denke, ein Teil der Desktop-Funktionen wird aus der Cloud kommen. Zudem wird das Konzept gestiegene Mobilitätsansprüche der Mitarbeiter berücksichtigen. Ferner soll es virtuelle Arbeitsumgebungen für externe beziehungsweise temporäre Mitarbeiter geben, zu denen beispielsweise Unternehmensberater gehören.
CW: Nutzen Sie Web-2.0-Angebote?
GORRIZ: Twitter nutze ich zum Beispiel nicht, weil ich nicht zu denen zähle, die alle zehn Minuten etwas von sich geben. Auf der anderen Seite habe ich mit dem "CIO-Blog" eine informelle Kommunikation inklusive Rückkanal eingeführt. Eine rege Diskussion im Blog behandelte beispielsweise die Frage, ob Mitarbeiter ihren eigenen Rechner in die Firma mitbringen dürfen.
Innovativ, anspruchsvoll und komplex
"Das car2go Projekt ist besonders innovativ, anspruchsvoll und komplex", lobt unsere Jury. Doch einen mindestens ebenso großen Eindruck machte eine zweite Herkulesaufgabe, der sich Gorriz erfolgreich stellte. Nachdem die Ehe zwischen Daimler und Chrysler zerbrochen war, galt es die mühsam zusammengefügten IT-Infrastrukturen der Konzerne wieder zu entflechten. "Im Bereich der Basisinfrastruktur, insbesondere der Netzwerke sowie der E-Mail- und Desktop-Dienste waren wir ein Unternehmen." Es habe ein weltumspannendes Daimler-Chrysler-WAN gegeben, das sehr schnell getrennt werden musste, zumal die Datensteuerung schon aus rechtlichen Gründen auseinanderzudividieren war. Dazu zählte, bisher gemeinsame Kommunikationskanäle zu trennen, beispielsweise über Firewalls. "Das war vom Management her anspruchsvoll, schon weil es den täglichen Arbeitsablauf nicht stören sollte."
Ebenfalls voll zusammengewachsen war der Bereich Vertrieb und Marketing. Chrysler stützte sich hier außerhalb seines amerikanischen und kanadischen Heimmarktes voll auf die Systeme von Daimler. In sämtlichen Chrysler-Niederlassungen wurden die Wagen über Mercedes-Systeme verkauft. Deshalb war die Trennung der Systeme in den unterschiedlichen Ländern unabdingbar, noch dazu in kürzester Zeit.
Anfangs wurde dies über Mandanten und Datentrennung realisiert. Da der Gesetzgeber jedoch physisch getrennte Server verlangt, musste das Projektteam Systeme duplizieren, die Daten übertragen und Applikationen migrieren.
Schwierige IT-Trennung von Chrysler
Der IT-seitig aufwendigste Teil bei der Herauslösung von Chrysler waren jedoch die Anwendungen für Financial-Services in den USA. Der Grund: Im Jahr 2004 wurden die bestehenden Daimler-Applikationen auf die Financial-Services-Anwendungen von Chrysler migriert. Somit war Daimler gezwungen, eine komplett neue Rechnerumgebung zu errichten und die insgesamt 220 völlig unterschiedlichen Applikationen (darunter Lotus Notes, Java-Applikationen und Mainframe-Software) in ihre Daimler- und Chrysler-Bestandteile aufzuspalten. Vor allem der Mainframe-Part war eine Herausforderung, da es für viele dieser Altanwendungen keinen Quellcode mehr gab.
Elf Monate hatte das Team dazu Zeit, ohne dabei den Produktivbetrieb zu beeinträchtigen. Und dies mit einer halb so großen Mannschaft, da die andere Hälfte der Chrysler-Systeme betreute. "Die Leute haben Tag und Nacht gearbeitet, es gab kein Weihnachten und kein Ostern", so Gorriz. "Gefreut hat sich der lokale Pizza-Service."
Dr. Michael Gorriz - Daimler AG
Position: CIO
Branche: Automobilindustrie
Ein CIO … ist dann erfolgreich, wenn der Wertbeitrag der IT von der Unternehmensleitung positiv wahrgenommen wird.
Er liest gerade ... Wikinomics von Don Tapscott
Er ärgert sich ... wenn man nicht sagt, was man denkt.
Ein Leben ohne Blackberry ist für mich … kein Beinbruch
Wichtigstes Projekt: car2go
Beschreibung: car2go ist ein komplett neues Mobilitätskonzept der Daimler AG, das individuellen Transport in Ballungsräumen neu definiert. Zum ersten Mal können Kunden smart fortwo Fahrzeuge mieten - überall, zu jeder Zeit und zu attraktiven Raten, die wie beim Handy im Minutentakt abgerechnet werden. Via Handy oder Internet können die Fahrzeuge lokalisiert und spontan benutzt oder auch vorab gebucht werden. Innovative Telematik-Technologie ermöglicht einen einfachen Mietprozess. Die Fahrzeuge müssen nicht an die Mietstation zurückgebracht werden. Das Projekt bezieht sich auf den car2go-Piloten in der Stadt Ulm.
Besondere Herausforderungen (in Bezug auf das Projekt): Die Zeitleiste von Zwölf Monaten war für ein Projekt dieser Größenordnung und innovativem Anspruch seitens der IT-Lösung eine sehr große Herausforderung. Erschwerend kam hinzu, dass keine am Markt verfügbare Lösung die Projektziele 1:1 erfüllen konnte.
Zeitrahmen: Zwölf Monate
Zahl der IT-Mitarbeiter (allg.): 4.600
Zahl der IT-Mitarbeiter im oben beschriebenen Projekt: 20 IT-Experten und externe Partner / Lieferanten
IT-Budget (allg.): Rund 1,5 Milliarden Euro
IT-Budget (für das beschriebene Projekt): Zweistelliger Millionenbereich