Mit Stefan Kistler, Global Head of Factory Innovation and DigitalGFE, und Frank Maurer, Global Head of Automation Strategy & Technology, diskutierte CW-Redakteur Jürgen Hill über die Digital-Factory-Strategie von Boehringer Ingelheim.
Boehringer Ingelheim hat viele IT-Initiativen wie etwa Quantum Computing mit eigenem Lab oder KI zur Antikörperentwicklung laufen - darunter auch ein Projekt zur Smart beziehungsweise Digital Factory?
Stefan Kistler: Unter Smart Factories - oder wie wir gerne dazu sagen Digital Factories - verstehen wir intelligente, vernetzte Fabriken. Die Gebäude selbst werden intelligent, sind selbstoptimierend gestaltet und deswegen mit Sensoren, Aktoren und den dazu gehörigen Datenstrukturen ausgestattet. Die Fabriken werden auch untereinander immer stärker vernetzt. Damit werden die weltweit mehr als 40 Produktionsstandorte von Boehringer Ingelheim transparenter und wir können sie kontinuierlich optimieren.
Frank Maurer: Nicht zu vergessen, dass wir immer mehr Anforderungen aus unseren Produktionsstandorten erhalten, flexibler und modularer zu werden. So wollen wir letztendlich schneller auf Anforderungen des Marktes reagieren. Aus diesem Grund ist für uns auch das Thema Plug & Produce und somit die standardisierte Integration unseres Equipments ein elementarer Teil der Digital Factory.
Welche Rolle spielt dabei die Virtual Factory in China beziehungsweise wie passt sie in das Konzept?
Stefan Kistler: Dabei handelt es sich um ein detailreiches 3D-Modell unserer Biological Factory in Schanghai, in der wir auch für andere Unternehmen produzieren. Partner und Kunden können sich damit virtuell einen Eindruck von der Fabrik und ihrer Performance verschaffen. Intern profitieren wir auch davon: Umbauten oder Änderungen des Ablaufs in der Fabrik werden zuerst simuliert, bevor sie umgesetzt werden.
Digital Twins sind Standardanwendungen
Ist das das einzige Projekt dieser Art oder gibt es noch andere?
Stefan Kistler: Digital Twins sind bereits vielfach im Einsatz und wir arbeiten kontinuierlich daran, weitere umzusetzen. Neue Fabriken werden von Beginn an als Digital Factories geplant und digitale Zwillinge gehören da bereits zu den Standardanwendungen.
Frank Maurer: Unsere Digital Factory Strategy umfasst viele Projekte in den Geschäftseinheiten und den unterstützenden Funktionen IT sowie Global Facilities & Engineering. Auch der Austausch über die Unternehmensgrenzen hinweg ist erfolgskritisch: Eine "Integrated Engineering and Operations Platform" lässt sich nur als offenes, interoperables Ökosystem mit firmenübergreifenden Standards und Allianzen realisieren.
Wie war die Ausgangssituation, bevor sie das Projekt Digital Factories starteten?
Stefan Kistler: Die Digital Factory ist bei uns kein Projekt, sondern eher ein übergeordnetes Programm mit unterschiedlichen Aktivitäten. Es geht immer darum: Wie können wir unsere Standorte so mit digitalen Funktionen ausstatten, dass sie noch besser und effizienter genutzt werden können.
Nachhaltiger und flexibler produzieren
Welches Ziel verfolgen Sie mit den Digital Factories?
Frank Maurer: Wir möchten damit unseren internen Business-Partnern eine Lösung für vielfältige Herausforderungen bieten. So wollen wir unter anderem eine schnelle und sichere Marktversorgung gewährleisten. Zudem begegnen wir so dem Kostendruck und Fachkräftemangel. Ferner sind die Digital Factories ein Beitrag dazu, um nachhaltiger zu produzieren und die Flexibilität zu erhöhen.
Und wie sind die Smart Factories in die anderen strategischen Initiativen von Boehringer Ingelheim eingebunden?
Stefan Kistler: Das wichtigste Ziel ist, unsere Produkte verlässlich bereitzustellen. Es geht um die Gesundheit von Millionen von Menschen und Tieren. Smart Factories unterstützen uns dabei und ermöglichen es dem Unternehmen, weiter zu wachsen. Das gilt ganz besonders beim Start neuer Produkte. Hier müssen wir die Marktversorgung vom ersten Tag an gewährleisten. Boehringer Ingelheim ist auf allen Ebenen ein enorm innovatives Unternehmen. Die Digitalisierung ist für uns dabei ein wesentlicher Erfolgsfaktor.
People, Culture & Mindset
Wie sieht dann ein Projektablauf aus? Wie bilden Sie Projektteams?
Frank Maurer: Die gemeinsame Basis bei allen Aktivitäten ist immer die funktionsübergreifende, enge Zusammenarbeit der Kolleginnen und Kollegen aus der Geschäftseinheit und den unterstützenden Funktionen. Darüber hinaus ist Change-Management immer ein elementarer Bestandteil der Projekte, denn "it's all about People, Culture & Mindset".
Das war die organisatorische Seite. Welche Technologien setzen Sie in Sachen Digital Factory ein? Ich habe unter anderem von Automation, Augmented Reality, KI und Digital Twins gelesen.
Frank Maurer: Wir haben im engen Austausch zwischen IT und GFE (Global Facilities & Engineering) einen gemeinsamen Technology Stack entwickelt. Das ist ein global skalierbarer Plattformansatz aus den Bereichen ERP, MES, Historian-Systemen, IoT und Automation. Dies stellen wir als sogenannte Blueprints bereit, um die verschiedenen Business Capabilities unserer Business-Partnern in Human Pharma und Animal Health standardisiert zu erfüllen.
Der gemeinsame Plattformansatz ermöglicht es uns, Capabilities getreu dem Motto "Easy to deploy. Easy to scale. Easy to maintain." bereitzustellen. Durch unsere enge Zusammenarbeit können wir die Skalierungsvorteile von IT-Lösungen auch in der OT umsetzen, ohne dabei die spezifischen OT-Anforderungen zu vernachlässigen. Letztendlich ergibt sich hieraus also eine IT-enabled Automation. Und ja, natürlich ist dieser Technology Stack eine ideale Grundlage, um Use Cases im Bereich Augmented Reality, KI und Digital Twins umzusetzen.
Technologie ist kein Selbstzweck
Stefan Kistler: Und an diesen Use Cases arbeiten wir gerade, um möglichst viele Technologien wertgenerierend für unsere Kolleginnen und Kollegen zugänglich zu machen. Es geht immer darum, ob eine Technologie am Ende des Tages die benötigte Investition auch rechtfertigt. Neben den rein finanziellen Auswirkungen schauen wir dabei auch auf die Prozesssicherheit, die Arbeitssicherheit und die ökologischen Auswirkungen. Die Technologie ist nie Selbstzweck, sondern eine logische Folge des herausgearbeiteten Anwendungsfalles.
Welche Challenges gab es auf dem Weg zur Digital Factory?
Stefan Kistler: Eine große Herausforderung ist, dass man sich nicht bei den ganzen Möglichkeiten in dem Umfeld "verliert" und versucht, jedwede Möglichkeit zu verfolgen. Sonst läuft man Gefahr, vergleichsweise wenig umzusetzen. Es ist genau zu betrachten, ob die jeweilige Technologie einen echten Mehrwert bietet.
Mehrwert statt digitaler Leuchttürme
Frank Maurer: Es gibt sehr viele höchst interessante Use Cases im Umfeld von KI, Digital Twins und Co. Entscheidend ist, nach ersten Proof of Concepts schnell und effizient die Anwendungsfälle zu identifizieren, die industrialisierbar und damit auch skalierbar sind. Und - da stimme ich Herrn Kistler voll zu - bei aller Euphorie über technologische Innovation dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass unser Auftrag nicht tolle digitale Leuchttürme sind. Vielmehr sollen wir nachhaltig einen Mehrwert generieren.
Sie sprachen vorher das Thema Change-Management und Mindset an. Wie sah es mit dem mit dem Kulturwandel in Sachen Digitalisierung aus?
Stefan Kistler: Zentraler Bestandteil der Digitalisierungsstrategie sind Kultur und Kommunikationsmaßnahmen. Hier geht es darum, mögliche Vorbehalte abzubauen und die Chancen der Digitalisierung zu erklären, aber auch den Zugang zu Technologien und deren Möglichkeiten zu unterstützen. Daher gibt es bei uns beispielsweise mehrtägige Trainingsprogramme, auch eines speziell für Führungskräfte und offene Communities zu Innovationsthemen sowie bestimmten Technologien. Wir tun dies im engen Schulterschluss mit den Kolleginnen und Kollegen der IT.
Standardisierung der Datenmodelle
Wenn Sie zurückblicken, haben Sie irgendwelche Tipps für andere auf Lager, die vor ähnlichen Projekten stehen?
Frank Maurer: Neben dem Thema Change-Management sehe ich vor allem die Standardisierung von Daten- und Informationsmodellen als unabdingbare Grundvoraussetzung. Hierbei wird es zunehmend wichtiger, sich firmenübergreifend auf Standards zu einigen. Dies erfolgt aktuell beispielsweise im Bereich der Verwaltungsschalen und über Organisationen wie der Industrial Digital Twin Association e.V. (IDTA) und der Open Industry 4.0 Alliance (OI4).
Stefan Kistler: Die Digitalisierung benötigt - genau wie andere Bereiche - eine klare Strategie und eine eindeutige Fokussierung. Es ist sehr leicht, sich in den Möglichkeiten zu verlieren und ablenken zu lassen. Für uns war es auch hilfreich, Themen zwar global zu denken, aber klein und lokal anzufangen, um so schnelle Erfolge zu erreichen.
Und wie geht es weiter mit den Smart Factories?
Frank Maurer: Aus meiner Sicht stehen wir erst am Anfang einer langen Digitalisierungsreise. In deren Verlauf werden wir uns im Bereich Automation weiter in Richtung einer "Lights-Out-Facility" entwickeln. Auch die "Virtual Factory" bleibt vermutlich eines der wichtigsten Themen.
Reibungsloser Datenaustausch mit Partnern
Wollen Sie dabei ihr Smart-Factory-Konzept auch auf Partner, Zulieferer etc. ausdehnen?
Frank Maurer: Auf jeden Fall! Viele unserer Use Cases, die wir im Kontext einer "Digital Engineering and Operations Platform" diskutieren, erfordern einen reibungslosen Datenaustausch mit unseren Partnern. Hier wird uns ein offenes Ökosystem, wie es gerade mit Manufacturing-Xvorangetrieben wird, sehr helfen. Nicht zu vergessen: Offene herstellerübergreifende Interface-Standards und mehr und mehr auch Open Source.
Stefan Kistler: Offene Plattformen und Standards sind entscheidend für den Erfolg von Digital Factories. Wir arbeiten daran intensiv gemeinsam mit unseren Partnern und laden gerne weitere Unternehmen ein, sich mit uns zu den Themen auszutauschen.