Ein interessantes Beispiel dafür, was das Bias - eine englische Kurzform für Befangenheit, Neigung und Vorteil - im Recruiting für negative Folgen haben kann, ist die Offiziersausbildung des US-Militärs. Intern und extern geriet der Offiziersstab in den letzten Jahrzehnten immer stärker in die Kritik: Beobachter berichteten von toxischer Führungskultur und mangelhafter Leistung.
Im Zuge der Beanstandung und des dringenden Handlungsbedarfs verortete eine Analyse das Problem in den Recruiting-Prozessen des Militärs. In der Vergangenheit erfolgte die Auswahl von Anwärter:innen für die Offizierslaufbahn sowie die Ausbildung an der Militärakademie Westpoint über stark personalisierte Daten wie Personalakten mit subjektiven Leistungsbeurteilungen, vergangenen Einsätzen, Fotos usw. Eine starke Bias seitens der Auswahlkommission war bei dieser Vorgehensweise vorprogrammiert.
In einem radikalen Schritt wurde der Auswahlprozess vollkommen auf den Kopf gestellt und von anonymisierten Bewerbungsunterlagen über umfangreiche Trainings sowie begleitende Maßnahmen zur Sensibilisierung bis hin zu blinden Interviews alles dafür getan, Bias zu eliminieren. Im Ergebnis konnte nicht nur die Qualität der Kandidat*innen verbessert werden, auch die Diversität der so neu zusammengestellten Jahrgänge stieg deutlich. Wie auch immer man zum Militär als Institution steht, das Beispiel ist ein Lehrstück für diskriminierungsfreies Recruiting.
Die allermeisten Bewerbungsprozesse in mittelständischen deutschen Unternehmen ähneln eher dem Prozess vor der beschriebenen Reform des US-Militäts: Die Auswahl geschieht oftmals weniger anhand relevanter Kriterien als viel mehr nach der sprichwörtlichen "Nase". Dass so beispielsweise Menschen, die Minderheiten angehören, systematisch diskriminiert werden, konnte vielfach nachgewiesen werden. Wie sich in Bewerbungsprozessen ein Entscheidungen verzerrendes Bias minimieren lässt, erklären folgende fünf Punkte.
1. Stellenausschreibungen diskriminierungsfrei gestalten
Oftmals finden sich in Stellenausschreibungen indirekte Voraussetzungen, die sich auf Interessent*innen diskriminierend auswirken können. Altersdiskriminierung zeigt sich beispielsweise schon in Formulierungen wie "junges, dynamisches Team" und kann ältere Bewerber*innen davon abhalten, auf die Ausschreibung zu reagieren. Ebenso können Bilder in Stellenausschreibungen diskriminierend sein, wenn darin keine Vielfalt abgebildet ist. Anforderungen wie "Deutsch als Muttersprache" schließen Migrant*innen aus und durch männlich konnotierte Begriffe wie "Machertyp" fühlen Frauen sich nicht angesprochen. In manchen Fällen gibt es auch rechtliche Vorgaben, die Diskriminierung in Stellenanzeigen strafbar machen.
Allgemein sollte hinterfragt werden, welche Qualifikationen wirklich entscheidend für den Job sind und wie man diese Anforderungen möglichst diskriminierungsfrei formulieren kann. Dafür ist es häufig nötig, Vorurteile, beispielsweise dass ältere Arbeitsuchende weniger technikaffin sind, zu hinterfragen. Hilfreich ist zum Beispiel, die Anzeige vor Veröffentlichung einer nach Diversitätskriterien zusammengestellten Gruppe von Menschen aus dem Unternehmen vorzulegen und Feedback einzuholen.
Um Stellenausschreibungen fair zu gestalten, ist es wichtig, alle Personen anzusprechen, statt nur Personen einzelner Gruppen. Das Kürzel "m/w/d" ist dabei nur ein erster Schritt. Auch sollten geschlechtsneutrale Berufsbezeichnungen wie "Fachinformatiker*in" genutzt werden. Darüber hinaus sollten Stellenanzeigen vor der Veröffentlichung darauf geprüft werden, ob sie keine restriktiven Bedingungen enthalten, die bestimmte Bewerber*innen davon abhalten könnten, sich zu bewerben. Selbstverständlich gibt es mittlerweile auch Software-Lösungen, welche anonymisierte Bewerbungen erleichtern, den Bewerbungsprozess vereinfachen und die Personaler*innen dabei unterstützen, faire Entscheidungen zu treffen.
2. Den Bewerbungsprozess anonymisieren
Viele in Bewerbungsunterlagen übliche Informationen erhöhen die Gefahr, dass Kandidat*innen diskriminiert werden. Dies gilt für das Geschlecht, den Nachnamen, das Bewerbungsfoto und sogar den Geburtstag. Eine ausführliche Bewerbung, die diese persönlichen Informationen beinhaltet, wird von vielen Unternehmen vorausgesetzt und häufig in Bewerbungstrainings und Schulen empfohlen.
In den angelsächsischen und skandinavischen Ländern hingegen werden anonymisierte Bewerbungen weitgehend bevorzugt. Diese lassen Fotos und weitere diskriminierungsfördernde Faktoren aus und fokussieren sich nur auf Informationen, die mit der Qualifikation der Person auf die Stelle zu tun haben. Auch in Deutschland werden anonymisierte Bewerbungen immer häufiger.
Sie helfen, sich auf die Fähigkeiten und Kenntnisse der Bewerber*innen zu fokussieren und nur anhand dieser eine Auswahl zu treffen. Am leichtesten gelingen anonyme Bewerbungen digital, indem alle Daten, die Bewerber*innen eingeben, automatisch anonymisiert werden. Hinzu kommt, dass solche digitalen Bewerbungssysteme weitere Vorteile mit sich bringen. Die Einhaltung der Aufbewahrungspflicht für Bewerbungsunterlagen und deren rechtzeitige Löschung wird erleichtert und Bewerber*innen können zustimmen, für zukünftige Stellen in den Talent-Pool des Unternehmens aufgenommen zu werden.
3. Durch Assessments die Objektivität steigern
Die Ergebnisse von Assessments (Einschätzungen) bieten eine objektive und verständliche Grundlage, auf der die weiteren Recruiting-Prozesse aufbauen können. Solche Einschätzungen können durch Tests gewonnen werden, um die Persönlichkeit, die kognitiven Fähigkeiten oder die berufliche Eignung der Bewerber*innen zu ermitteln. Dabei ist es wichtig, die Assessments so zu gestalten, dass sie wirklich für den Job relevante Eigenschaften oder Fähigkeiten ermitteln.
Die Validität leidet unter unpassenden Methoden oder dem Versuch, Zeit und Kosten zu sparen. Wenn eine Bewertung betrieben wird, sollte also großer Wert auf die Methodenvielfalt, die Relevanz der Aufgaben und die Aussagekraft der Ergebnisse gelegt werden. Werden diese Kriterien nicht berücksichtigt, können gute Bewerber*innen ausgeschlossen werden, nur weil sie Aufgaben, die nichts über die Eignung für den Job aussagen, nicht meistern. Auch die Länge sollte im Auge behalten werden, denn wenn der Prozess zu lange dauert, springen Kandidat*innen schlimmstenfalls ab.
Ebenso wie im übrigen Bewerbungsprozess ist es am gerechtesten, Assessments zu anonymisieren, damit nur die Ergebnisse eine Rolle bei der Bewertung von Kandidat*innen spielen. Darüber hinaus sind Assessments von Natur aus sehr objektiv, da zum einen mehrere Personen die Bewertung der Bewerber*innen durchführen und zum anderen der Prozess in der Regel gut strukturiert und klar definiert ist. Auch die Transparenz ist im Assessment hoch, was ebenfalls die Fairness steigert und den Prozess für die Bewerber*innen nachvollziehbar macht.
4. Interviews strukturiert statt spontan
Im Gegensatz zu freien Interviews, wo Fragen spontan gestellt werden und sich Vorurteile auf die Fragestellung auswirken können, sind strukturierte Interviews fairer, da alle Bewerber*innen dieselben Fragen erhalten. Dies fördert die Objektivität in der Fragestellung sowie der Auswertung und macht Ergebnisse besser vergleichbar. Wichtig zu beachten ist, dass die Fragen vorab mit allen Beteiligten abgestimmt und darauf geprüft werden, ob sie zielführend sind.
Da viele Führungskräfte nicht regelmäßig an Vorstellungsgesprächen teilnehmen, ist hier Vorsicht geboten. Es können Fehler entstehen, wenn der strukturierte Interviewprozess nicht bekannt ist. Um dies zu vermeiden, sollten alle Personen, die am Bewerbungsprozess beteiligt sind, dahingehend geschult werden. Auch auf die Bewerber*innen entsteht durch einen gut strukturierten Prozess ein positiver erster Eindruck.
5. Kollaboratives Recruiting
Trotz aller Bemühungen, einen Bewerbungsprozess objektiv zu gestalten, fällt es Menschen schwer, neutrale Urteile über andere zu fällen. Daher ist jeder Einstellungsprozess am Ende geprägt von subjektiven Einschätzungen. Doch dieser Effekt lässt sich durch kollaboratives Recruiting mindern. Anstatt den Recruiting-Prozess in die Hände einer einzelnen Person zu legen, wird ein ganzes Team zusammengestellt. Die so entstehende kollektive Zuständigkeit gleicht die Subjektivität einzelner Personen aus.
Im Idealfall begleitet das Recruiting-Team den Bewerbungsprozess von Beginn an: Von der Definition der Einstellungskriterien, über die Vorstellungsgespräche und die Analyse der Ergebnisse bis hin zur gemeinsamen Entscheidung. Um diesen Prozess transparent zu gestalten, sollte er in jeder Phase dokumentiert werden und Bewerber*innen sollten regelmäßig über den aktuellen Stand informiert werden.
Diskriminierungsfrei von der Stellenausschreibung bis zur Einstellung
Letztendlich sollte ein fairer Bewerbungsprozess nicht nur ein Aushängeschild sein, um diverse Mitarbeitende anzuziehen, sondern Teil einer fairen und gesunden Unternehmenskultur. Der Aufwand wird sich lohnen: Diversität ist sowohl für Unternehmen als auch für Mitarbeitende eine Bereicherung. Teams, die vielfältig besetzt sind, gelten als innovativer, reagieren auf Herausforderungen dynamischer und liefern so insgesamt bessere Resultate.
Dies bestätigt auch eine Studie der Charta der Vielfalt e.V., in der festgestellt wurde, dass zwei Drittel aller deutscher Unternehmen durch Diversity Management Vorteile in Sachen Attraktivität des Arbeitgebers, Lernfähigkeit und Kreativität feststellen. Darüber hinaus steigern diverse Teams laut der Strategieberatung McKinsey auch die Profitabilität von Unternehmen. Dadurch hat ein diskriminierungsfreies Recruiting einen direkten und bemerkbaren Einfluss auf den unternehmerischen Erfolg. (pg)