An schlechte Prognosen zur Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung haben wir uns langsam gewöhnt. Doch jetzt schlägt der Zukunftsrat der Bayerischen Wirtschaft auch in Sachen Gesundheitswesen Alarm. Ohne grundlegende Reformen drohe der Kollaps. Sorgen machen Alfred Gaffal, vbw-Präsident und Vorsitzender des Zukunftsrats, vor allem die Kosten und der demografische Wandel: "Pro Tag verschlingt unser deutsches Gesundheitssystem über eine Milliarde Euro - Tendenz steigend."
Fragen, denen der Zukunftsrat in der Studie "Gesundheit und Medizin - Herausforderungen und Chancen" nachgeht. Die Studie wurde von Prognos im Auftrag des vbw erstellt und beleuchtet, welche Trends das Gesundheitssystem in den nächsten Jahren und Jahrzehnten beeinflussen. Dabei sehen die Studienautoren gleich mehrere Herausforderungen: Durch die demographische Entwicklung werde die Bevölkerung immer älter und immer weniger Beitragszahler kämen auf einen älteren Mitbürger.
Gleichzeitig stiegen die Behandlungskosten und der Betreuungsbedarf wachse. Nach der Prognose des Zukunftsrats hat dies zur Folge, dass der Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenversicherung von heute 14,6 Prozent auf 18,3 im Jahr 2035 und 19,2 Prozent im Jahr 2045 steigen wird. Des Weiteren steige der Bedarf an Pflegkräften und medizinischem Personal bis 2030 um 1,7 Millionen Menschen - ein Fachkräftebedarf, der aus heutiger Sicht nicht zu decken ist.
Gesundheit als Wirtschaftsfaktor
Zudem ist das Thema Healthcare mittlerweile von volkswirtschaftlicher Bedeutung. So trug die Gesundheitswirtschaft im Jahr 2016 mehr als 259 Milliarden Euro zu Bruttowertschöpfung bei - was in etwa 10 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung entspricht. Außerdem, so Gaffal, zähle das Gesundheitswesen mittlerweile zu den zehn Schlüsseltechnologien, "die über die globale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft entscheiden". Und wer die entsprechenden Leistungen künftig nicht selbst produzieren könne, der müsse sie zukaufen - und das werde teuer.
Einen Ansatzpunkt zur Lösung der oben skizzierten Herausforderungen sieht der Zukunftsrat in seiner Studie in der Digitalisierung der Medizin. Und es sei an der Zeit, das Klein-Klein zwischen den verschiedenen Akteuren zu beenden, wenn Deutschland nicht den Anschluss verlieren will.
Mehr Effizienz mit Gesundheitskarte
Bei den Handlungsempfehlungen der Studie finden sich dann zum Teil gute alte Bekannte wieder - wie etwa die elektronische Gesundheitskarte und die Patientenakte. Für den Zukunftsrat ist sie in Verbindung mit der digitalen Patientenakte der Schlüssel für deutliche Effizienzgewinne in der Medizin. "Heute ist sie trotz Milliardeninvestitionen nicht viel mehr als ein besserer Versichertenausweis", kritisiert Gaffal.
Dabei ist die umfassende digitale Speicherung der Gesundheitsdaten - ob auf einer Karte oder in anderer Weise (in Norwegen beispielsweise über eine App) - in den Augen des Zukunftsrats ein Muss. Erst dieses System und die darauf aufbauende Datennutzung würden weitere Verbesserungen sowohl bei der Versorgungsqualität als auch bei den Prozessen ermöglichen.
Leben retten mit der Patientenakte
Die elektronische Patientenakte unterstützt zudem die fachärztliche Versorgung, vor allem bei komplexen Herausforderungen. Ebenso könnten unnötige und doppelte Untersuchungen vermieden werden, wenn die Ärzte Zugriff auf diese Daten hätten. Und die Digitalisierung könnte Leben retten: So wird in Deutschland die Zahl medikamentenbedingter Todesfälle auf rund 25.000 im Jahr geschätzt. Bei Notfallpatienten könnte wertvolle Zeit gespart werden, wenn die entsprechenden Daten vorliegen. Gleichzeitig könnte eine bessere Datenerfassung die Ärzte bei ihren bürokratischen Aufgaben entlasten, so dass sie wieder mehr Zeit für ihre Patienten haben.
Fällt das Fernbehandlungsverbot?
Effizienter müsse mit Hilfe der modernen ITK-Technik auch die medizinische Versorgung auf dem Land werden. Dank Datentransfer und Telemedizin könnten bei einer Behandlung etwa Spezialisten aus den Spezialkliniken in den Metropolen hinzugezogen werden, ohne dass die Patienten lange Reisen auf sich nehmen müssen. Oder die Spezialisten operieren gleich direkt aus der Ferne.
Mit den neuen Robotern, die in den OPs der Kliniken Einzug halten, ist das kein Problem. Allerdings scheitert auch hier die moderne Digitalmedizin wie in so vielen Dingen an deutschen Vorschriften - hier etwa an dem Fernbehandlungsverbot, welches in Paragraph § 7 Abs. 4 der Musterberufsordnung für Ärzte beschrieben ist. Eine Lockerung ist allerdings in Sicht.
Roboter im OP
Der Robotereinsatz ist jedoch nicht nur im Bereich der Telemedizin interessant. Für Operationen wurden spezielle Hochpräzisionsroboter entwickelt, die chirurgische Eingriffe sehr viel genauer durchführen können, als dies per Hand möglich ist. Dabei werden die Roboter von menschlichen Chirurgen gesteuert. Der Einsatz von solchen Robotern ermöglicht es zudem, dass manche Operationen nicht mehr offen, sondern minimalinvasiv durchgeführt werden können. Dies verbessert die Wundheilung, verringert den Blutverlust und beugt der Narbenbildung vor.
Maschinen als Pfleger
Ungewohnt, zumindest aus deutscher Sicht, ist sicherlich auch der Gedanke, dass in der digitalen Medizin die Pflege künftig von Robotern übernommen wird. Zukunftsmusik? Mitnichten, auch wenn eine breitere Nutzung von Robotern im Pflegebereich erst 2030 erwartet wird. Seit 2011 wird etwa der in Serie produzierte therapeutische Roboter Paro in Deutschland vertrieben.
Der einer Sattelrobbe nachempfundene Roboter soll einen aktivierenden und fördernden Effekt bei an Demenz erkrankten Menschen hervorrufen. Hierzu verfügt der in Japan entwickelte Roboter über Tast-, Licht-, Geräusch-, Temperatur- und Lagesensoren. Seine Bewegungen und Geräusche sind einer Baby-Sattelrobbe nachempfunden.
Vielfach befinden sich die neuen Roboter allerdings noch im Teststadium, wie etwa MARIO - seine Name steht für "Managing active and healthy aging with use of caring service robots". Bei ersten, von der EU finanzierten Testläufen konnte der an der Universität Passau mitentwickelte MARIO Demenzkranken bei der Alltagsbewältigung unterstützten. Dieser Roboter kann sogar die Stimmung des Patienten erkennen und auf diese in rudimentärer Art und Weise reagieren. Roboter wie MARIO könnten eines Tages Pflegebedürftigen ein selbstständiges Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichen.
Ambient Assisted Living
Der Wunsch auch im Alter in der eigenen häuslichen Umgebung zu leben, hat bereits zu einem eigenen Begriff geführt: Ambient-Assisted-Living-Systeme (kurz: AAL-Systeme) sollen pflegebedürftigen Menschen bei der Bewältigung des Alltags zuhause helfen. Dazu nutzen AAL-Systeme häufig die gleichen Techniken wie Smart Homes, nur dass hier die Hilfe für unterstützungsbedürftige Menschen im Alltag im Vordergrund steht. Angesichts des demographischen Wandels, steigenden Kosten im Gesundheitswesen und anderer Ansprüche an die Lebensqualität im Alter könnten diese Systeme ein Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft sein.
Mehr Unabhängigkeit versprechen auch mHealth-Anwendungen. In Verbindung mit Smartphones oder Wearables eignen sie sich zur Gesundheitsversorgung und -förderung. Neben der Prävention und der Gesundheitsförderung umfassen sie die Diagnostik, die Therapie und auch die (Fern-)Überwachung von Erkrankungen. Die Einsatzmöglichkeiten reichen von der Messung von Vitalparametern wie Blutdruck, Herzfrequenz oder Lungenfunktion mittels non-invasiver Sensoren über die Betreuung von Patienten und dem Monitoring von Erkrankungen bis hin zur (datengestützten) Krankheitsdiagnostik.
Labor auf dem Chip
Mit einem Lab-On-A-Chip (LOC) könnten sich die mHealth-Szenarien weiter ausbauen lassen. LOC-Systeme sind medizinische Analysegeräte, die eine oder mehrere labordiagnostische Funktionen auf einem Chip vereinen. Dadurch können etwa Blutentnahmen entfallen, was Zeit und Kosten spart,
Egal, ob Robotik, AAL oder mHealth, ohne Verbesserungen der künstlichen Intelligenz und dem Maschinenlernen kommen beide Technologien nicht aus. Doch nicht nur hier können KI und Big Data die Entwicklung vorantreiben. KI und Big Data werden künftig auch in anderen Bereichen der Medizin eine wichtige Rolle spielen, indem sie etwa Ärzte und Wissenschaftler bei der Diagnose und Erforschung neuer Krankheiten unterstützen.
Im einfachsten Fall können Big Data und KI dabei helfen, Arzneimittelunverträglichkeiten bereits im Vorfeld zu erkennen. Passgenaue Arzneimittel und Behandlungsmethoden verspricht künftig die personalisierte Medizin. Hierzu werden Genotypen, Lebensstile und medizinische Vorgeschichten analysiert, um möglichst nebenwirkungsfreie Therapien anzubieten. Ferner kann Künstliche Intelligenz (KI) beispielsweise beim Einsatz in Assistenzsystemen einen Fortschritt in der Medizin bringen.
KI in Diagnose und Therapie
Der Einsatz von KI und Big Data ist noch auf einem ganz anderen Gebiet interessant: der Betrugsbekämpfung. Experten gehen davon aus, dass hier pro Jahr ein Schaden in Höhe von rund 14 Milliarden Euro entsteht. Big-Data-Methoden könnten hier, kombiniert mit einem Erfahrungsaustausch mit Versicherungen und Banken zu Methoden der automatisierten Erfassung von Betrugsverdachtsfällen, einen relevanten Beitrag zur fairen und nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitssystems leisten.
Neue bildgebende Verfahren wie etwa die molekulare Bildgebung werden in Verbindung mit KI und Big Data eine Diagnostik eröffnen, die heute mit den klassischen Verfahren wie CT oder MRT noch nicht vorstellbar sind. So sollen Krebserkrankungen deutlich früher erkannt werden als bisher, was die Heilungschancen erhöht. Zudem könnten mit den neuen Methoden Therapieerfolge besser kontrolliert werden.
Trotz aller Vorzüge von KI und Big Data in Diagnostik und Therapie schlägt den Systemen in der Öffentlichkeit eine starke Skepsis entgegen. Weit verbreitet ist dabei die Angst, dass letztlich eine Maschine über Leben und Tod entscheiden könnten. Eine Angst, die in den Augen des Zukunftsrats unbegründet ist, denn im digitalen Gesundheitswesen gehe es um eine KI, die die menschliche Intelligenz in bestimmten Teilbereichen ergänzt und erweitert ("augmented intelligence").
Allerdings sind nicht nur Politik und Gesellschaft gefordert, sondern auch die Institutionen des Gesundheitswesen selbst. So hat der Studie zufolge aktuell mehr als die Hälfte der deutschen Krankenhäuser noch keine Digitalisierungsstrategie. Hauptsächlich würden Pilotprojekte durchgeführt, doch an gesamtheitlich ausgerollten Digitalisierungsinitiativen fehle es.
Weitere Hemmnisse sehen die Autoren in Finanzierungsfragen und in der mangelnden Kompatibilität beziehungsweise Interoperabilität vorhandener IT-Lösungen sowie in einer fehlenden Standardisierung der Prozesse. Wie für andere Branchen gelte auch für das Gesundheitswesen, dass jeder Bereich - egal ob Ärzte, Krankenhäuser etc. - seine eigene Digitalisierungsstrategie entwickeln müsse.