Die Flüchtlingskrise, Europa ringt um seine Einheit, große Sorgen um die öffentliche Sicherheit nach den Terroranschlägen von Paris. In dieser schwierigen Gemengelage erscheine es "fast unwirklich", dass er für den deutschen Einzelhandel Rekordzahlen melden könne, sagt der Präsident des Handelsverbands Deutschland (HDE), Josef Sanktjohanser. Aber er kann: 471 Milliarden Euro Umsatz sollen es am Jahresende sein - das wären 2,7 Prozent mehr als 2014, eine Wachstumsrate, wie es sie seit 20 Jahren nicht mehr gab.
Niemand weiß, ob die Anschlagsserie von Paris die allgemeine Stimmung so drücken wird, dass auch der Konsum vor dem Weihnachtsfest darunter leidet. So schaut die Branche auf dem Deutschen Handelskongress in Berlin erst einmal auf sich selbst.
Eine beherrschende Frage dabei: Was kann getan werden, um die Geschäfte in den Städten gegen die immer stärkere Konkurrenz des Online-Versandhandels zu wappnen? Wie bleiben die Einkaufsstraßen attraktiv genug für eine bequeme, aber anspruchsvolle Kundschaft?
Eine Antwort darauf lautet: Der stationäre Handel muss im Internet mitmischen. Cross-Channel-Vertrieb heißt das Zauberwort. Gemeint ist, die Kunden auch über einen Internet-Auftritt für sich zu gewinnen und ihnen mehrere Kaufvarianten zu ermöglichen - im Laden oder eben per Lieferung.
Aus Sicht des Handelsexperten Gerd Bovensiepen von der Unternehmensberatung PwC kommt es darauf an, die bisherigen Stärken wie Service und Beratung mit der Präsentation von Artikeln im Internet zu verknüpfen. Wer eine Einkaufshistorie in seiner Datenbank habe, könne den Kunden gezielt auf seine Vorlieben ansprechen und ihn so an sich binden. Doch reicht das?
Die Vorteile der großen Versandhändler wie Amazon oder Zalando sind das riesige Sortiment und zugleich die 24-stündige tägliche Verfügbarkeit. Was sich im Einzelhandel abspiele, sei "ein immer härter werdender Wettbewerb zwischen lokalen, mittelständischen Unternehmen und globalen Mega-Playern", sagt Sanktjohanser.
Das Internet ist dabei das mächtige Werkzeug. In den kommenden fünf Jahren werden nach der Prognose des Instituts für Handelsforschung in Deutschland bis zu 50000 Läden von der Landkarte verschwinden - das wäre jeder zehnte.
Dabei erwischt es die Unternehmen regional unterschiedlich stark. "Es ist bezeichnend, dass die Verkaufsfläche in den Kernlagen der 82 bundesdeutschen Städte mit mehr als 100000 Einwohnern im Zeitraum von 2010 bis 2014 trotz der Einflüsse des Online-Handels um etwa sieben Prozent gestiegen ist", beschreibt der Handelsexperte Manuel Jahn vom Marktforschungsinstitut GfK den Trend.
Das Szenario für die kommenden Jahre: Die stationären Einzelhändler mit entsprechender Finanzkraft - oft große Konzerne - drängen mit ihren Filialen noch stärker in die besten Lagen der Citys. So bieten sie dem Online-Handel Paroli, der weiter kräftig wächst (Umsatzplus 2015: rund 12 Prozent). Die übrigen fallen zurück, ein Teil muss aufgeben. Für kleinere Städte bedeutet das eine zunehmende Verödung.
In besonders attraktiven Städten, die vor allem junge Leute anziehen - wie München, Leipzig, Frankfurt oder Heidelberg - taucht ein anderes Problem auf: Dort sind für Investoren Wohnungsbauprojekte inzwischen mitunter lukrativer als Büros oder Gewerbeansiedlungen. Die Folge: Gewerbetreibende werden verdrängt.
Um dem entgegenzuwirken, plädiert die Immobilienwirtschaft dafür, die Baunutzungsverordnung zu ändern, die in reinen Wohngebieten Läden und Handwerksbetriebe nicht zulässt. "Deutschlands Städte müssen die Möglichkeit haben, bezahlbares Wohnen, Arbeiten und Einkaufen in einem Quartier anzubieten", meint der Präsident des Zentralen Immobilien-Ausschusses (ZIA), Andreas Mattner. (dpa/rs)