Trend

So viel Blau war schon lange nicht mehr

02.09.2014 von Christopher Schwarz
Fern wie der Himmel, tief wie das Meer, klar wie der Geist: Die neue Modefarbe heißt Blau. Das hat nicht nur Haribo verstanden.

Was verbindet Justin Timberlake mit der deutschen Fußballnationalmannschaft und dem Süßwarenhersteller Haribo? Die Wiederentdeckung der Farbe Blau. Während der amerikanische Popstar im azurblau changierenden Smoking über die Bühne fegt und Jogi Löws WM-Team bei offiziellen Anlässen im dunkelblauen Dreiteiler mit Denimhemd auftritt, hat Haribo ein blaues Bärenwunder angekündigt: So sollen erstmals in der Geschichte des Bonner Unternehmens in einer "limited Edition" auch blaue Bären in der Tüte stecken. Mit "lieblich-süßem Heidelbeeraroma" und einem Farbstoff, der, passend zur Farbe Blau, aus Meeresalgen gewonnen wird.

Kein Zweifel, eine veritable, blaue Revolution im Hause Haribo. So viel Blau war schon lange nicht mehr - auf den Showbühnen und Laufstegen, auf den Möbelmessen und in den Supermarktregalen. Blau - die Farbe der Stunde? "Ja, absolut", meint Peter Wippermann, Trendforscher und Gründer des Trendbüros, der die Karriere der Farbe Blau seit Jahren beobachtet. Zwar hat noch niemand schlüssig erklären können, wer oder was die Farbzyklen von Mode und Lifestyle bestimmt. Doch für Wippermann fällt die Blau-Konjunktur deshalb keineswegs vom Himmel. In einer Zeit "merkwürdiger Zukunftsunfähigkeit", in der niemand wisse, wo und wann die nächste Erschütterung zu erwarten ist, verbinde Blau, anders als die Leidenschaftsfarbe Rot, emotionale mit rationalen Komponenten: die Suggestion von Hoffnung und Zuversicht mit dem Versprechen auf Autonomie. Als "Farbe der Ferne" spanne Blau eine Zukunftsperspektive auf, die an den Gestaltungswillen des Publikums appelliert: "Nehmt die Dinge selber in die Hand."

Fantasien eines Trendgurus? Spekulationen ins Blaue hinein? Immerhin, der Titel von Al Gores neuem Buch "Die Zukunft" prangt sicher nicht zufällig in heiteren, himmelblauen Lettern auf dem Cover. Die Farbe Blau birgt die Geheimnisse der Zukunft. Sie ist nicht nur der Megatrend der Lifestyle-Industrie, sondern die Leitfarbe der Moderne. Der französische Historiker Michel Pastoureau hat in seiner jüngst erschienenen Studie "Blau. Die Geschichte einer Farbe" ihren Siegeszug eindrucksvoll nachgezeichnet: Er führt vom Hochmittelalter, wo Blau als Marien- und Königsfarbe gilt, über die Reformation, die Blau als "moralische Farbe" entdeckt, geradewegs in die Moderne: Spätestens im 19. Jahrhundert wird Blau, nicht zuletzt durch das Aufkommen des synthetischen Indigo, "endgültig zur Farbe des Fortschritts, der freiheitlichen Gedanken" - und macht der Farbe Schwarz zunehmend Konkurrenz.

Vor allem in der Kleidermode: Erst beim Militär, das Anfang des 20. Jahrhunderts auf breiter Front zu marineblauen Uniformen übergeht, dann bei den Zivilisten, die ihre schwarzen Anzüge gegen dunkelblaue Kleidung eintauschen. Eine "Revolution", wie Pastoureau sagt, eines "der großen Ereignisse in der Mode des 20. Jahrhunderts". Denn mit dem modernen, dunkelblauen Anzug hat der Mann seine Berufsuniform gefunden: Er tritt ins Glied zurück, ordnet sich dem Kollektiv unter, wird zum Repräsentanten der Mannschaft.

Farbe der Freiheit

Was Wunder, dass die Metzinger Modemarke Hugo Boss, der offizielle Ausstatter des WM-Teams, die Spieler in blaue Anzüge steckt. Der dunkelblaue Anzug gilt als Klassiker. Für Kevin Lobo, den Kreativdirektor von Boss Menswear, ist Blau die perfekte Konsensfarbe: Blau sehe "immer elegant und hochwertig aus", Blau stehe "jedem Kunden, unabhängig von der Haarfarbe und dem Hauttyp". Die schmalen Schnitte, der Verzicht auf überflüssige Verzierungen, die Konzentration auf Blau-Grau-Braun-Töne bei Boss verweist auf das Stilideal der Geschäftswelt: Der Haribo-Bär will auffallen, Hugo Boss hingegen übt sich in der Rhetorik des Understatements.

Dass es anders, spektakulärer geht, zeigt Giorgio Armani, der in seiner Damenkollektion diesen Sommer dunkles Seidenblau mit silbrigem Chiffon und kostbaren Rottönen verbindet. Oder Calvin Klein, der in seiner Herrenkollektion die ganze Skala der Blautöne durchspielt, von dunkel leuchtendem Ultramarin über hypnotisierendes Lapislazuli bis zu lieblichem Babyblau, auf Overalls, Anzügen oder Schuhen.

Yas Marina Blau Metallic: So heißt der eigens für die neue BMW M3 Limousine vorgestellte blaue Außenfarbton.
Foto: BMW Group

Der Sportschuhhersteller Adidas wählte ein hell leuchtendes Blau als Hausfarbe, Blue Pantone 300. Denn Blau ist nicht gleich Blau, es kennt viele Register. Der Münchner Farbexperte Martin Benad, Fachplaner für Farbgestaltung und Autor mehrerer Bücher zur Farbenlehre, unterscheidet "psychologisch" vier grundlegende Varianten, denen er spezifische Stimmungen und Werte zuordnet: das helle Cyanblau, die Himmelsfarbe in Horizont-Nähe - die Farbe der Freiheit; das in die Tiefe führende, samtig-weiche Ultramarinblau - die Farbe der Konzentration; das gläsern-gespannte, grünlich schimmernde Gletscherblau - die Farbe der Distanz; und das lyrische Lavendelblau - die Farbe der Romantik. Jüngst hat er für ein viergeschossiges Bürogebäude bei Augsburg das Farbkonzept entwickelt: Die Außenhaut strahlt in unterschiedlichen Facetten von Blau und nimmt die Anmutung der Materialien Glas und Stahl auf.

Benads Kollege Axel Venn, Professor für Farbgestaltung an der Hildesheimer Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, erklärt sich die wachsende Beliebtheit der Farbe Blau auch damit, dass sie nicht polarisiere, sondern in ihrer Symbolik offen, fast neutral sei: Jeder habe die Freiheit, Blau so zu interpretieren, wie er es für richtig hält.

So hat die Autoindustrie das gegenüber Grün ideologisch weniger stark festgelegte Blau zur Kennfarbe der Elektromobilität erhoben. "Blue Motion" oder "Blue Efficiency" heißen die Schlagworte, sie stehen für ökologische Nachhaltigkeit. Die Nieren des Kühlergrills beim i3 und i8 von BMW sind, statt mit Chrom, bayrisch-blau markiert. Die Elektroversion des Supersportwagens SLS AMG von Mercedes glänzt in grellem Bonbonblau. Und die Elektro-Smarts von Car2Go, dem Carsharing-Anbieter von Daimler, tragen die ökologisch besetzten Signalfarben Blau und Weiß.

Von Aqua bis Violett

"Blau ist gut", heißt die schlichte Botschaft, so Paolo Tumminelli, Professor für Design an der Kölner International School of Design. "Du tust dir und den anderen etwas Gutes." Kein Wunder, dass VW den neuen Polo auf Werbeplakaten in Metallic-Blau zeigt. Neben dem Ökoimage zieht vor allem das "semantische Profil" von Metallic-Blau. Dieses "mittlere" Blau hat, wie Tumminelli betont, anders als das Anzug-Blau eine "Pop-Konnotation", erinnert an "Jeans", wirkt "jung, dynamisch, progressiv", aber auch "zuverlässig, solide, gediegen". Mit Blau könne die Industrie "zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen": Die Trendfarbe verspreche "Innovation und Tradition".

Noch liegt die Autofarbe Blau, die ihren Höhepunkt in den Neunzigerjahren hatte, bei den Zulassungszahlen mit gut acht Prozent deutlich hinter dem Spitzen-Trio Schwarz/Silber/Weiß. Doch die "Talsohle ist durchschritten", sagt Mark Gutjahr, Farbdesigner bei BASF-Coatings. Mit dem "Trend zu mehr Farbigkeit" rechnet Gutjahr auch mit einem steigenden Blau-Anteil. Weniger im Hinblick auf das meist nicht aufpreispflichtige Dunkelblau, das "viel von der Form wegnimmt". Umso mehr bei den "Grau-Blau-Tönen": Sie "zeichnen" die Form, unterstreichen die Winkel, Kanten und Seitenlinien der Karosserie mithilfe von Farb- und Effektpigmenten, die die "Flächen verdunkeln" und die "Lichtkanten hervorheben" können.

Vor allem bei Kleinwagen, wie bei Ford oder Fiat, sieht Gutjahr den Trend zu "bunten, leuchtenden Blautönen". Die Möbelbranche bestätigt ihn in seiner Diagnose. So hat die Möbelmarke COR mit ihrem Messestand auf der diesjährigen Kölner Möbelmesse die Blau-Karte gespielt: mit dunkelblau lackiertem Parkettboden und einer Decke in hellem Blau und Grau. Helen Biermann, Produktdesignerin bei COR, sieht für die Zukunft viele Blaunuancen, von einem "nebligen Aqua bis Violett oder Petrol", in Kombination mit "hellen Naturhölzern wie Ahorn und Esche oder mit Marmor".

Blau, für viele die schönste und edelste Farbe, gilt nicht umsonst als Königsattribut. Sie wirkt "nobilitierend", wie Axel Venn betont, vor allem im Zusammenspiel mit Gold. Dass Königshäuser mit Farben modische Akzente setzen können, zeigt Kate, die Herzogin von Cambridge, die mit ihren Kleidern für viele zum Stilvorbild geworden ist. Immer dabei: ihr Ring, den einst Prinzessin Diana zur Verlobung trug. In der Mitte, in Gold gefasst, umrahmt von weißen Diamanten, prangt: ein Saphir. In strahlendem Blau.

(Quelle: Wirtschaftswoche)