Elf China-Reisen und nie in Shenzhen gewesen? Bei ihrem jüngsten China-Besuch holte Bundeskanzlerin Angela Merkel dies nach und besuchte das chinesische Silicon Valley, das von einheimischen Medien auch gerne als das "Wunder vom Perlflussdelta" bezeichnet wird. Vor Ort wollte sich die Kanzlerin selbst ein Bild vom Tempo des digitalen Wandels in China machen. Eindrücke, die Merkel laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung zu dem Resümee brachten, "dass wir uns ganz strategisch mit der Digitalisierung befassen müssen."
Dokumenten-Roboter statt langes Warten
Und das sollte die Kanzlerin tatsächlich, denn in Shenzhen kann der leidgeprüfte Bundesbürger, der stundenlange Wartezeiten bei Behördengängen zu Kreisverwaltungsreferaten oder Bürgerbüros einplanen muss, etwa live erleben, wie ein gelebtes E-Government in der Realität aussieht. Etwa, wenn der Bürger amtliche Papiere für die KFZ-Zulassung etc. rund um die Uhr am Document Roboter abholen kann.
Dabei bringt der Automat auch gleich automatisch die auf chinesischen Dokumenten so wichtigen Amtssiegel auf. Angst vor Missbrauch? Nein, denn am Automaten identifiziert sich der Nutzer mit seinem Ausweis und der Roboter verifiziert den User dann per Gesichtserkennung. Und noch etwas fällt auf: Dank der Vernetzung können die Mitarbeiter im Bürgerbüro viele Probleme, bedingt durch fehlende Unterlagen, gleich direkt selbst lösen. Zusatzeffekte wie ein direkt angeschlossenes Notariat oder ein Fotostudio und eine Warteatmosphäre, die eher an eine Hotel-Lobby erinnern, sind dann das Sahnehäubchen einer durchdachten Behördendigitalisierung.
Sehen dank KI und Cloud
Manche Innovationen mögen uns auf den ersten Blick etwas seltsam anmuten, wie etwa der "Connected Smart Helmet". Auf den zweiten Blick entpuppen sie sich dann aber oft als geniale Verknüpfung bereits vorhandener Technologien. Der Smart Helmet soll sehbehinderten Menschen eine direkte Wahrnehmung ihrer Umwelt ermöglichen. Geformt wie ein normaler Fahrradhelm verfügt er über mehrere Videokameras, die das Umfeld aufnehmen.
Diese Bilder werden dann per 5G-Netz in die Cloud übertragen. Dort analysiert eine AI-basierte Bilderkennungssoftware die Videos und transferiert das Gesehene in Text, der in natürliche Sprache umgewandelt wird. Diese wird per Mobilfunknetz zum Helm transferiert, so dass der Sehbehinderte eine Beschreibung seiner Umgebung in Echtzeit erhält. Weiß die KI einmal bei der Analyse nicht weiter, kann bei dem System ein Operator eingreifen.
Ganz auf die Digitalisierung setzt man im chinesischen Silicon Valley auch bei der Bewältigung der Verkehrsprobleme. So hat Shenzhen beispielsweise seine Busflotte radikal auf Elektroantrieb umgestellt und betreibt heute über 16.500 E-Busse - und spart so jährlich 1,35 Millionen Tonnen CO2. Mit über 12.500 Elektrotaxis sind bereits 63 Prozent der Taxiflotte in Shenzhen elektrifiziert. Neu zu gelassen werden nur noch Elektrotaxis.
Alternative Wege geht Shenzhen auch bei der Jagd nach Verkehrssündern. Sie werden digital per Videoüberwachung und Kennzeichen-Scanner ermittelt und die Verstöße von einem KI-System in Verbindung mit einer Big-Data-Analytics-Plattform erfasst. Mit der digitalen Überwachung, so heißt es in Shenzhen, sei die Zahl der Verkehrsrowdys deutlich zurückgegangen. Gleichzeitig wird die Videoüberwachung auch zur Kriminalitätsbekämpfung in Kombination mit einer AI-basierten Bilderkennungssoftware genutzt. Was hierzulande eher zu einem Proteststurm in Sachen Überwachungsstaat führen würde, wird in China dagegen eher positiv gesehen: Shenzhen wird mit einigem Stolz als "safe city" gerühmt.
Huawei in der digitalen Transformation
Zu den Schrittmachern der Digitalisierung in Shenzhen zählt der chinesische IT-Konzern Huawei, der nicht nur die Nummer drei unter den globalen Handybauern ist, sondern auch einen Großteil der deutschen Mobilfunkinfrastruktur sowie der digitalen Bahntechnik liefert. Entsprechend stark ist die Unternehmensstrategie des Konzerns auf Digitalisierung und Künstliche Intelligenz ausgerichtet.
Unter dem Motto "Bring digital to every person, home and organization for a fully connected world" stellte das Huawei-Management auf einem Analyst Summit seine Vision der digitalen Welt im Jahr 2025 vor. Eine Vision, die gleichzeitig Ausdruck dafür ist, dass die digitale Transformation auch an Huawei - wie an anderen IT-Konzernen - nicht spurlos vorbei geht.
Ein Blick auf die Unternehmenszahlen untermauert dies: Zwar wächst die Company noch immer kräftig, doch das Geschäft der Carrier Business Group "schwächelt" mit Zuwachsraten von drei Prozent auf hohem Niveau (rund 298 Milliarden RMB). Damit ist das Carrier-Business zwar noch immer der umsatzstärkste Geschäftszweig für Huawei, doch die Wachstumstreiber sind andere Unternehmensbereiche.
Mit einer Wachstumsrate von 32 Prozent ist das Consumer-Business mittlerweile die zweite wichtige Umsatzsäule (237 Milliarden RMB) des Konzerns nach der Carrier-Sparte. Wachstumsstar ist die Enterprise Business Group mit 35 Prozent Zuwachs - allerdings erwirtschaftet die Gruppe nur ein Sechstel des Umsatzes der Carrier Division (knapp 55 Milliarden RMB).
Als eine der Enabling Technologies bei der digitalen Transformation sieht man bei Huawei das Thema KI. Die Chinesen erwarten, dass Künstliche Inteligenz die Konvergenz von physikalischer und digitaler Welt ermöglichen und so neues Business-Potenzial erschließen wird. Um in der technischen Entwicklung weit vorne mitzumischen, wollen sie in den nächsten zehn Jahren jährlich 15 Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung investieren. Ein Ziel, das sie wohl erreichen dürften, denn bereits 2017 gab Huawei 14,9 Prozent seines Umsatzes für R&D aus.
KI im Unternehmensalltag
Wie stark KI und die digitale Transformation den Konzern verändern werden, zeigt ein praktisches Beispiel. Benötigt das Unternehmen heute noch 86 Mitarbeiter an einer Fertigungslinie zur Produktion von Smartphones, so soll diese Zahl künftig durch KI-Einsatz auf 20 Mitarbeiter reduziert werden. Und auch in anderen Bereichen hält das Thema Einzug, lautet doch ein Motto des Konzerns: Was man predigt, muss man auch leben. So hält die KI etwa in Bereichen wie Supply Chain Management, Logistik, Finanzen sowie internen Audits Einzug, um die Effizienz und Qualität interner Abläufe zu verbessern.
In der Logistik und digitalen Lagerhaltung nutzt Huawei etwa KI, um maschinelle Lernmodelle mit den historischen Sendungsdaten, der gesamten Systemkonfiguration und den grundlegenden Zähl- und Verpackungsregeln zu trainieren. Auf diese Weise ist das System in der Lage, neue Warninformationen zu generieren. Zudem wurde so Schätzgenauigkeit von 30 auf 80 Prozent erhöht. Darüber hinaus kann KI die Bestellkommissionierung ebenso optimieren wie die Lade- und Löschvorgänge der LKWs.
So gelang es, wie es bei Huawei heißt, die Anzahl der gemischten Bestellungen, die pro Fahrzeug verarbeitet werden, um mehr als das Fünffache zu erhöhen. Gleichzeitig verkürze AI auch die Container-Erkennungs- und Identifizierungszeit und verbessere die Effizienz um mehr als das Zehnfache. Unter dem Strich beschleunige die digitale Transformation die traditionellen Logistikprozesse gewaltig.
Und der Konzern will nach den Worten von Eric Xu, Huawei Rotating Chairman, weiter in KI investieren. Schließlich erwartet Huawei, dass sich das Geschäft mit KI-Lösungen bis 2025 zu einem 23 Milliarden Dollar großen Markt entwickeln wird. So heißt es zumindest in der Huawei Global Industry Vision (GIV) 2025. Der GIV ist ein Bericht, in dem der Konzern Einblick in globale IKT-Trends gibt.
Dabei sieht es das Unternehmen - mit einem Sendungsbewusstsein, das man so bislang eher von US-Konzernen gewohnt war - als seine Aufgabe an, die intelligente Welt Wirklichkeit werden zu lassen und die Vorteile von digitaler und künstlicher Intelligenz für jede Person, jedes Heim und jede Organisation verfügbar zu machen. Hierzu arbeite das Unternehmen daran, digitale und künstliche Intelligenz für alle zugänglich zu machen, egal ob im Privatleben, in der Arbeit, in der Ausbildung oder in der Freizeit.
Huaweis KI-Strategie
Noch im Laufe des Jahres will das Unternehmen eine umfassende KI-Strategie vorstellen. Diese soll unter anderem einen vollständigen KI-Stack beinhalten, um so ähnlich wie im IoT-Umfeld den KI-Einsatz in unterschiedlichsten Anwendungsszenarien zu ermöglichen. Dazu arbeitet der Konzern daran, KI in sein gesamtes Produktportfolio zu integrieren. Erste Ergebnisse kann das Unternehmen in Form der Plattform "Enterprise Intelligence" (EI), der autonomen Netzwerk-Services "SoftCOM AI" sowie intelligenteren Smartphones vorweisen.
Neuronale Chips
Bei seinen Smartphones arbeitet das Unternehmen nach eigenen Angaben daran, den Sprung "von intelligenten zu wirklich intelligenten Geräten" zu schaffen. Hierzu hatte Huawei letztes Jahr mit dem Kirin 970 einen Handy-Chipsatz mit eingebetteter, neuronaler Verarbeitungseinheit (NPU) herausgebracht. Diesen Chipsatz verbaut der Konzern jetzt in all seinen Flaggschiff-Smartphones, einschließlich Mate 10 und der kürzlich eingeführten P20-Serie. Dank KI sollen die Smartphones ihren User beim Fotografieren unter die Arme greifen oder mit neuen intelligenten Übersetzungsservices bei der Überwindung von Sprachbarrieren helfen.
Partnern und Entwicklern, die die KI-Verarbeitungsleistung des Chips nutzen wollen, stellt Huawei mit der HiAI-Plattform ein AI-Ecosystem bereit, auf dem sie alle Arten neuer Anwendungen entwickeln können. Die Plattform besteht aus drei Layern: Cloud, Device und Chipsatz. Sie ermöglicht allen Industriepartnern von Huawei, eine unbegrenzte Anzahl von KI-Anwendungen zu entwickeln, die eine bessere Benutzererfahrung bieten und der gesamten Branche Zugang zu den Vorteilen von wirklich intelligenten Anwendungen bieten.
SoftCOM AI automatisiert Netze
Ein anderes breites Anwendungsfeld für KI sieht man bei Huawei in der intelligenten Netzsteuerung. Wie andere große Wettbewerber verfolgen auch die Chinesen das Paradigma der autonomen, sich selbststeuernden und konfigurierenden Netzwerke unter der Bezeichnung SoftCOM AI.
Vor allem den Carriern verspricht der Konzern dabei nicht nur geringere Betriebskosten für ihre Netze, sondern zudem die Chance, mit neuen Services zusätzliche Einnahmequellen zu generieren. Schließlich ist Huawei-Chef Xu sich genau bewusst, dass die Finanzlage vieler Carrier nicht die gesündeste ist und er somit seinen Kunden bei der Erschließung neuer Umsatzmöglichkeiten helfen muss, wenn er selbst weiter TK-Ausrüstung verkaufen will.
KI für das Enterprise
Im Enterprise-Umfeld soll das Thema KI über die Huawei Cloud bei den Unternehmenskunden Einzug halten. Unter dem Markennamen EI (Enterprise Intelligence) stellt der Konzern hier eine Plattform zur Verfügung, die sich über verschiedene Layer erstreckt und unterschiedlichste KI-Produkte und -Lösungen einschließlich Device, Cloud und Edge bereitstellt, die dann eine vollständige Plattformbasis für KI-Anwendungen bilden sollen.
Weitergehende Lösungen sollen dann unter anderem von den Partnern kommen, mit denen Huawei bereits in Sachen Cloud zusammenarbeitet. Unter dem Strich, so ist man bei Huawei überzeugt, erleichtert EI den Unternehmen sowohl den Einstieg in KI-Anwendungen als auch die Entwicklung eigener Spezial-Apps.