"Ich wette, dass in zehn Jahren 100 Prozent aller heute bestehenden Technologien weiter im Rennen sind."
Es fasziniert mich seit langen Jahren, wie gut es unserer Branche immer wieder gelingt, alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen. Regelmäßig taucht ein neuer Modebegriff in unserer Branche auf, der verspricht, alle Probleme der IT-Welt zu lösen - und bei dem man bei genauerem Hinschauen das Gefühl hat: Dich kenne ich, Du bist nicht neu, Du hattest nur früher einen anderen Namen.
Ein aktuelles Beispiel ist SOA. Steht angeblich für Service Oriented Architecture. Manche Kollegen sagen allerdings auch, es steht für Same Old Architecture. Denn auch wenn die technischen Mittel zum Aufrufen der Services vielleicht neu und anders sein mögen, was hat sich denn an der Strukturierungsaufgabe für fachliche Anforderungen grundsätzlich Neues ergeben? Ansätze zur modularen Programmierung wurden schon vor 35 Jahren formuliert, später mit objektorientierter Programmierung umformuliert und mit technischen Konzepten wie Remote Procedure Call unterlegt.
Ich möchte Sie noch mit einem anderen Allzeitfavoriten von mir behelligen, der Technologiekonvergenz. Das begann in der IT in der ersten Hälfte der 90er Jahre. Damals fingen wir an, uns mit dem Thema Multimedia zu beschäftigen. Multimedia ist in bald vierzigjähriger Geschichte das einzige IT-Wort, das es 1995 zum Titel "Wort des Jahres" gebracht hat.
Zu Zeiten von Multimedia - und danach immer wieder - glaubte man, dass Technologie konvergieren, verschmelzen würde. PC, Internetzugang und Fernsehen sollten eins werden, so wie später Telefonie, Organizer, Fotoapparat und Navigationssystem. Irgendwo gibt es natürlich diese Multifunktionsgeräte und sie werden auch so genutzt, aber hat es zu einer Bereinigung der Technologielandschaft geführt, wurde damit wirklich andere Technologie überflüssig?
Nicht wirklich! Schon vor 16 Jahren, sagte ein Manager eines TV-Geräteherstellers zu mir: "Fernseher sind Lifestyle-Produkte, Designgeräte, die den Wohnraum gestalten und die aus anderen Gründen als ihrer Funktionalität gekauft werden." Das ist heute mehr so als damals. Und auch bei den multifunktionalen Kommunikationsgeräten hat das Neue sehr selten zu einer wirklichen Ablösung des Alten geführt. Letztlich schleppen wir doch nur immer mehr Gadgets mit uns herum. Wir haben ein Handy, das auch fotografiert, aber trotzdem einen noch komplizierteren Fotoapparat dazu.
Letztlich haben wir über Jahrzehnte immer angeblich Technologie verschmolzen - um am Ende dann doch nur mehr Gerätschaften mit uns herumzuschleppen als vorher. Selbst die neuen Menschen, die nun zu i-Menschen - mit iPod, iPhone, iPad etc. - mutiert sind, haben den Koffer voll und das alte Blackberry wahrscheinlich auch noch.
Noch so ein Mythos: der Paradigmenwechsel
Ein noch hartnäckigerer Mythos, der noch mehr Informatiker und Managergenerationen fehlgeleitet hat, ist der Mythos vom Paradigmenwechsel. Immer wieder hat die IT-Szene behauptet, dass nun eine neue Welt beginnt, die Landkarten neu interpretiert, unsere Umwelt mit neuen Augen angesehen werden muss, weil die Paradigmen wechseln. Der große Promoter dieses Begriffs, der Philosoph Thomas Kuhn, hat sich nach vielen erfolglosen Definitionsversuchen Mitte der 80er von diesem Begriff verabschiedet, aber wir benutzen ihn fleißig weiter.
Wenigstens wir in der IT lassen uns regelmäßig einreden, dass sich etwas grundsätzlich ändert und wir nun für die nächste Zeit ein gültiges Erklärungsmuster gefunden haben. Vor allem glauben wir immer wieder den Zeitpunkt erkennen zu können, zu dem ein Altes durch ein Neues ersetzt werden muss (vom Mainframe zu Client-Server, von Client-Server zu Network-Computing …).
Dabei sollten doch mittlerweile auch junge Informatiker gelernt haben, dass das Alte nicht untergeht. Trotz aller Paradigmenwechsel ist der Mainframe nie untergegangen. Im Gegenteil. Denn was bedeuten Virtual Server, Virtual Desktop anderes als die Rückkehr zum ordentlichen Mainframebetrieb? Vor dreißig Jahren gab es bei IBM ein Mainframe-Betriebssystem, das Virtual Machine hieß. Hat etwas gewechselt oder haben wir nur dreißig Jahre gebraucht, um endlich anzuerkennen, dass manche der frühen Konzepte doch vernünftig waren und lieber nicht hätten gewechselt werden sollen?
Ab 1996 habe ich Folien über das neue Paradigma Network Computing gemalt. Heute würde man vielleicht Cloud Computing darüber schreiben. Außer den Überschriften hat sich nicht viel geändert. Es kommen vielleicht neue Technologien und Lösungsmöglichkeiten, aber sie machen deshalb alte Ansätze nicht überflüssig. Facebook mag eine neue Art der Schwatz-bude sein, aber es wird weder Kaffeklatsch noch Stammtisch auf absehbare Zeit ablösen.
Trinken Sie lieber einen Single-Malt-Scotch
Wenn Ihnen also demnächst ein Berater erklärt, dass sich die Paradigmen in der IT ändern, reagieren Sie entspannt. Schicken Sie den Kollegen unaufgeregt auf die Suche nach unserem IT-Nessie und trinken Sie lieber einen Single-Malt-Scotch. Und trösten Sie sich über fehlende Technologiekonvergenz und Paradigmenwechsel mit dem auf viele IT-Hypes übertragbaren Spruch über Multimedia aus den frühen 90ern: "Multimedia ist wie Sex unter Teenagern: Jeder redet darüber, keiner weiß wie es geht, aber jeder ist überzeugt, dass es ganz wunderbar sein wird, wenn man es endlich verstanden hat und tut."
Allerdings: Menschliche Teenager werden in der Regel mal erwachsen, lernen aus Lebenserfahrung und zwar in einem relativ überschaubaren Zeitraum. Wann der Jungspund IT endlich erwachsen und seriös wird, wage ich nicht zu prognostizieren. Auf den Paradigmenwechsel warte ich selber noch mit großer Spannung!
Ich freue mich auf Ihre Gegenwette!
Weitere Wetten finden Sie auf unserer Seite Wetten auf die nächste Dekade.