Als kleines Mädchen wünschte sich Kenza Ait Si Abbou Lyadini ein Heft mit Stift, in das ihre Eltern Rechenaufgaben schrieben, die sie mit Begeisterung löste. Mathe blieb ihr Lieblingsfach, nach dem Abitur entschied sie sich für ein Studium der Elektrotechnik und Telekommunikation.
"Ich habe mir überlegt, welcher Job bringt mir die besten Beschäftigungschancen und womit kann ich eine Familie ernähren", erzählt Kenza Ait Si Abbou Lyadini, die in Marokko geboren und aufgewachsen ist. Zum Studieren ging sie nach Valencia, Spanien. Als sich Ende der 90er-Jahre der Mobilfunk etablierte, das Internet professionalisierte und die erste Startup-Welle Europa euphorisierte, beschäftigte sie sich mit neuronalen Netzen, künstlicher Intelligenz (KI) und in ihrer Abschlussarbeit mit Algorithmen.
Berufseinstieg in Barcelona
Für ihren ersten Job nach dem Bachelor zog sie nach Barcelona und begann für ein TK-Unternehmen zu arbeiten, das Hardware entwickelte. "Dort habe ich die technische Seite kennengelernt, aber auch in Vertrieb und Logistik gearbeitet. Obwohl ich noch jung war, sind alle mit ihren Fragen zu mir gekommen, ich habe dort alle Aufgaben der Geschäftsführung kennengelernt", erinnert sie sich. Mit einem Master-Studium in Berlin wollte die Ingenieurin ihr (Projekt-)Management-Wissen weiter ausbauen. Als sie Mitte 2009 ihr Zeugnis in der Hand hielt, steckte Europa in der Finanzkrise. "Ich war Ingenieurin mit Berufserfahrung, hatte ein erfolgreich abgeschlossenes Aufbaustudium und war nach dem Studium monatelang arbeitslos."
In China ist vieles anders
Was tun? Sie absolvierte an der Universität in Shanghai einen siebenmonatigen Sprachkurs und entdeckte ein interessantes Jobangebot: Für den spanischen Pavillon der Weltausstellung Expo in Shanghai wurde eine Managerin gesucht, die Chinesisch und Katalan sprach. Nach der Expo kehrte Kenza Ait Si Abbou Lyadini nach Europa zurück. "In China habe ich gelernt, dass alles relativ ist. Obwohl ich sechs Sprachen spreche und ganz unterschiedliche Kulturen kenne, habe ich verstanden, dass in China vieles anders ist."
Auch der Liebe wegen wollte Kenza Ait Si Abbou Lyadini wieder nach Berlin und bewarb sich bei der Deutschen Telekom. 2011 begann sie als Projekt-Managerin für das Unternehmen zu arbeiten, später wechselte sie in den Vertrieb, war viel unterwegs und entschied sich nach der Elternzeit für eine Stabsstelle.
"Als Projekt-Managerin im Stab mit strategischen Organisationsaufgaben musste ich weniger reisen, konnte oft von zu Hause aus arbeiten und meine Zeit selbst organisieren", schildert die KI-Spezialistin ihren Arbeitsalltag mit Kind. Die 30-Stunden-Woche stockte sie nach sieben Monaten zur Vollzeitstelle auf, weil sie dank flexibler Arbeitszeiten und Home Office keine Zeit für lange Wege ins Büro verlor. Ein hohes Arbeitspensum gehört zu ihrem Leben. "Ich habe immer viel gearbeitet und treibe gerne Themen voran. Trotzdem hole ich meinen Sohn pünktlich von der Kita ab."
In der Zeit überlegte die Managerin, wie es beruflich weitergehen sollte. "Ich wollte wieder fachlich arbeiten und eigene Erfolgserlebnisse haben. In einer Stabsstelle kassiert der Chef alle Erfolge, aber natürlich auch die Misserfolge", erzählt sie lachend. In Gesprächen mit Freunden und nach intensivem Nachdenken kristallisierten sich einige Themen heraus. Mit der Empfehlung "Finde deine Leidenschaft" konnte sie jedoch wenig anfangen, da sie sich stets für mehrere Dinge interessiert habe, so die mathematikbegeisterte Ingenieurin. Sie verrät, wie sie eine Antwort fand: "Künstliche Intelligenz hat mir im Studium am meisten Spaß gemacht, hier wollte ich meine Kenntnisse ausbauen."
KI-Systeme ohne Vorurteile
Kenza Ait Si Abbou Lyadini investierte viel Zeit in die Recherche und entdeckte den Hinweis, dass die Telekom ein neues IT-Team aufbaut, das sich mit maschinellem Lernen und KI beschäftigt. Mit anderen Telekom-Mitarbeitern bewarb sie sich um den Job und erhielt nach einem Bewerbungsverfahren den Zuschlag.
Seit einem Jahr arbeitet sie als Senior Manager Robotics & Artificial Intelligence bei der Telekom in Berlin. "In einer großen Firma braucht man ein Netzwerk", so die Managerin. "In Marokko lernt man, dass man Menschen und ein Netzwerk fürs Leben braucht." Bei der Telekom fand sie ein Frauennetzwerk, das für sie "ein Anker" wurde. Auch Informationen über das geplante KI-Team bekam sie hier.
Heute gehört es zu ihren Aufgaben, sich mit den Konzerneinheiten auszutauschen, die auch an KI-Lösungen arbeiten. Die Managerin leitet ein kleines Team und kann dort ihre Erfahrungen und ihr Wissen einsetzen. Noch lösen KI-Systeme nur kleine Aufgaben. Doch über Daten fließt ein Weltbild in das Maschinenlernen ein. Ob eine KI-Software gut arbeitet, hängt entscheidend von der Qualität der Daten ab. Vorurteilsfreie Informationen einzupflegen ist wichtig. Diversität sieht die Ingenieurin daher als wichtigen Aspekt ihrer Arbeit an.
Kinder und Karriere lassen sich für Kenza Ait Si Abbou Lyadini gut vereinbaren: "Ich habe mein Kind nicht alleine bekommen, sondern teile mir die Betreuung unseres Sohnes mit meinem Mann." In ihren Eltern hatte sie ein modernes Vorbild, da beide Vollzeit arbeiteten - "für mich war das immer selbstverständlich". Neben einer fairen Rollenverteilung hilft auch das Gehalt: "Ich verdiene genauso viel wie mein Mann. Wir leisten uns eine Haushaltshilfe, das reduziert das Konfliktpotenzial. Ich habe auch meine Einstellung angepasst; es muss nicht immer alles perfekt sein."
Laut und mit sicherer Stimme sprechen
Zielstrebig verfolgt Kenza Ait Si Abbou Lyadini ihre Karriere. Doch sie registrierte früh die ungleich verteilten Chancen. "Im Studium fiel mir auf, dass Frauen mehr leisten müssen, damit sie der Professor wahrnimmt." Auch im Beruf entdeckte sie dieses Schema wieder. Mit zwei älteren Brüdern musste sie früh lernen, mit Männern umzugehen: "Selbstbewusst aufzutreten und mit lauter, sicherer Stimme zu sprechen ist wichtig." Durchsetzungsfähigkeit brauche es auch für eine Karriere in einem Konzern. Hierarchiespiele und Machtstrukturen sollten Frauen kennen und verstehen, wenn sie vorankommen wollen. "Frauen dürfen sich nicht verstellen, sie sollen sich treu bleiben, aber sie sollten die Spielregeln kennen."