Die Geräuschkulisse eines Atomkraftwerks hat eigentlich etwas Beruhigendes: Überall auf dem Gelände ist dieses immer gleiche, leise Surren zu hören. Besuchern suggeriert es einen Prozess der Energieerzeugung mit der unveränderlichen Präzision eines Uhrwerks. Im Normalfall ist das auch so, doch die Abläufe sind zu komplex, als dass sie jahrzehntelang frei sein könnten von allen Problemen.
Überdeutlich wurde das im Jahre 1998, als das Kernkraftwerk an der Weser einen Störfall erlebte. „Damals wurde festgestellt, dass bei der Überwachung unserer Prozesse Verbesserungsbedarf besteht“, so Karl Ramler, der Technische Direktor des Kraftwerks, das zum E.ON Konzern gehört. Diese Probleme beim Qualitäts- Management waren der Anlass, über eine integrierte Prozesssteuerung nachzudenken, die Schwächen in den Abläufen frühzeitig aufzeigen sollte.
Die Entwicklungsphase begann 2002. Ihr Ergebnis können die Mitarbeiter Tag für Tag besichtigen: Im Eingangsbereich fällt der Blick auf einen Monitor, der in wechselnden Bildern Daten wie die aktuelle Reaktorleistung oder den Stand von Sicherheitschecks anzeigt. Denn beim Störfall 1998 hatte es auch Kritik an Fehlern von Mitarbeitern gegeben. Auch deshalb legt das Management heute besonderen Wert darauf, die Qualitätskontrolle in die Hände aller zu legen.
Grundlage des Tools ist der Aris Process Performance Manager (PPM) von IDS Scheer. Er liefert aktuelle Steuerungsinformationen aus derzeit sieben Arbeitsvorgängen vom Arbeitsauftragsprozess über Strömungs- und Mängelmeldungen bis zum Erfahrungsrückfluss. Sämtliche Vorgänge sind mit über 100 Kennzahlen hinterlegt. „Zu viele, um sie ohne ein Steuerungsinstrument wie PPM verfolgen zu können“, so Jürgen Schwarzin, Leiter des Stabsbereichs Prozesscontrolling.
Daten automatisch aufbereiten
Grundlage der Kennzahlen sind Daten aus operativen IT-Systemen, vor allem aus dem Betriebsführungssystem (BFS) und dem Dokumenten-Management-System. Das PPM-Tool übernimmt sie automatisch und bereitet sie für Bewertung und Darstellung auf. Das System vergleicht ständig Soll- und Istwerte miteinander und weist auf Abweichungen hin. Den jeweiligen Status dokumentieren Grafiken mit je einer Art Ampel darüber: Zeigt sie Grün, ist alles in Ordnung, Gelb warnt vor Problemen und bei Rot stimmt irgendetwas nicht.
Die drei Farben allein reichen allerdings für die Analyse nicht aus. Mit einem Mausklick auf die entsprechende Auswertung kann sich Controller Schwarzin ein differenzierteres Bild machen. „Wenn zum Beispiel die Schwingungen eines Stahlträgers im normalen Bereich liegen, zeigt die Ampel grünes Licht.Aber trotzdem kann es interessant sein, sich die dahinter liegenden Werte im Detail anzusehen. Die Ampel dient vor allem als Aufmerksamkeitsschwelle.“
Das System unterscheidet zwischen diagnostischen und zukunftsgerichteten Kennzahlen. „Schließlich wollen wir auch die Wirkung von beschlossenen Maßnahmen und eingeleiteten Veränderungsprozessen gezielt beobachten“, so Schwarzin. Wird an einer technischen Komponente, etwa dem Ansaugtrichter einer Pumpe, bei der Korrosionsprüfung ein Schaden festgestellt, dann gelangt diese Meldung in einen standardisierten Prozess für Störungs- und Mängelmeldungen des PPM.
Ursachen statt Schuldige finden
Das PPM stuft das Ereignis zunächst nach Sicherheitsrelevanz und Dringlichkeit ein. Außerdem weiß das System, wie lange die Behebung des Fehlers dauern darf, und vergleicht diese Vorgabe mit dem tatsächlichen Zeitraum der Reparatur. Eventuelle Abweichungen analysiert anschließend das Management. Aus diesen Daten unterschiedlicher Abteilungen entsteht auch eine Statistik, die den Verantwortlichen zeigt, im welchem Teil der Organisation überdurchschnittlich viele Verzögerungen vorkommen. „Das wird aber niemals personalisiert aufgeschlüsselt“, so der Technische Direktor Ramler. „Wir wollen keine Schuldigen finden, sondern Ursachen für Probleme, um diese abzustellen.“ Außerdem will Ramler feststellen, ob er mit den getroffenen Entscheidungen auf dem richtigen Weg ist. Im Falle des Beispiels hat das PPM ganze Arbeit geleistet: Die Zahl der Terminverzögerungen bei Reparatur- und Wartungsarbeiten habe deutlich abgenommen.
Obwohl das PPM erst seit gut zwei Jahren läuft, vergleicht das Tool auch Analysen mit älteren Ereignissen. Das System greift auf Daten aus dem Betriebsführungssystem zu, die bis ins Jahr 1996 zurückreichen. Noch nicht Teil der Analysen sind Zahlen aus den SAP-Anwendungen. „Die Art des Arbeitens und der Darstellung ist hier ganz anders als in unserem Betriebsführungssystem“, so Ramler. In zwei bis drei Jahren soll das zentrale Steuerungs-Tool auch diese Informationen auswerten.
Den SAP-Bereich integrierte das Kraftwerk erst nach den Betriebsführungsdaten,weil das technische Controlling das Projekt getrieben hatte. Umsetzungsprobleme gebe es nicht, so Andreas Kronz, Leiter des Bereichs Aris PPM Consulting bei IDS Scheer. „Technisch ist es im Grunde sogar einfacher, ein SAP-System an das PPM-Tool anzubinden, als eine Betriebsführungssoftware.“
Kontrolle durch Balanced Scorecard
Eine Balanced Scorecard kontrolliert zusätzlich das PPM. Sie wird ausschließlich mit den Daten von jeweils höchstens sieben bis acht Prozessen gefüttert. Von genau jenen, bei denen erheblicher Verbesserungsbedarf besteht. Zur Steuerung umfangreicher Abläufe hält Controller Schwarzin das Tool für weniger geeignet: „Man sollte Balanced Scorecards nicht überstrapazieren.“
Schwarzin und Ramler sind zufrieden. „96 Prozent der Mitarbeiter bestätigen, dass sie die Aufgaben und Ziele ihres Arbeitsbereiches sehr gut kennen“, so Ramler. „Das liegt vor allem an der hohen Transparanz der Ergebnisse: Jeder weiß genau, an welchen Stellen die Prozessqualität nicht den Anforderungen entspricht, und kann entsprechend reagieren.“
Schwieriger war es, das Management zu überzeugen. Denn der Nutzten des PPM lässt sich nicht in einer ROI-Berechnung mit harten Zahlen nachweisen. Sicher, die Zahl der Fehlhandlungen nahm ab, die auffälligen Ereignisse im Betrieb sanken. Aber es fällt schwer, den kausalen Zusammenhang zwischen diesen Fortschritten und der Einführung des PPM zu beweisen. IDS-Mann Kronz weiß: „Die Führung zu überzeugen, dass sie als erstes solch ein Instrument einsetzen soll, ist nie ganz einfach.“