Frankenstein aus der Microsoft-Küche: Tester Woody Leonhard lässt kaum ein gutes Haar an Windows 8 - es enttäusche Desktop- wie Tablet-User gleichermaßen.
von Werner Kurzlechner
Woody Leonhards Urteil ist unmissverständlich und hart. Windows 8 sei tatsächlich so schlecht wie sein Ruf, schreibt der Buchautor und Microsoft-Experte in einem Betrag für unsere Schwesterpublikation InfoWorld. Als eigenartiger Zwitter enttäusche das neue Betriebssystem sowohl die klassischen Desktop-User als auch die Tablet-Aficionados. „Windows Frankenstein“ und „Dr. Jekyll & Mr. Hyde-Betriebssystem“ seien durchaus berechtigte Etiketten, so Leonhard weiter. Sein abschließendes Fazit: „Es wird in absehbarer Zukunft einen signifikanten Bedarf an Laptops und Desktops mit Windows 7 geben.“
Klingt bis hierhin nach Totalvernichtung. Ganz so arg ist es nicht, denn der emsig testende Leonhard nimmt im Vergleich zur Beta-Version durchaus auch einige Fortschritte und Verbesserungen in der aktuellen Version wahr. Das ändert aber wenig daran, dass er Windows 8 in vielen Passagen regelrecht zerpflückt.
Dabei gibt es zum Einstieg sogar ein Lob für eine „fulminante Engineering-Leistung“, die Microsoft durch das Verbinden bewährter Arbeitstools mit dem modernen, Touchscreen-Interface namens Metro (Leonhard benutzt den derzeit zurückgezogenen Namen) gelungen sei: „Vom Nutzerstandpunkt betrachtet ist Windows 8 aber ein Fehlschlag – ein unbeholfener Mischmasch, der den User gleichzeitig in zwei Richtungen drängt.“ Wer das klassische Windows-Desktop gewohnt sei, werde das Metro-Interface nicht mögen, andere verabscheuten die angestaubten Desktop-Anwendungen unter der aufpolierten Oberfläche.
Leonhard vergibt einen Pluspunkt dafür, dass ein Teil des positiven Windows-7-Erbes beibehalten worden sei: Steuerbarkeit, Sicherheit und breite Kompatibilität mit bestehenden Hardware- und Softwarelösungen. Hinsichtlich der Benutzerfreundlichkeit sei Windows 8 aber missraten. Die „begrenzten, oftmals sogar verstümmelten“ Metro-Apps seien da keine Hilfe.
Im Vergleich zu seinen früheren Kritikpunkten an der Beta-Version sei in der finalen RTM-Version manches Ärgernis weiterhin vorhanden. Es gebe etwa keinen Start-Button auf dem Desktop, der Metro-Start-Screen bleibe hoffnungslos zweidimensional mit aufpoppenden Elementen, die an billige Las-Vegas-Leuchtreklame erinnerten. Wer auf einem großen Monitor von Metro zu Desktop und wieder zurück wechseln wolle, brauche unweigerlich Beruhigungsmittel. Zudem hätten Hunderte von Testern bestätigt, dass „echte Arbeit“ mit Tastatur und Mouse mit Windows 8 schlechterdings unmöglich sei.
Optik wie billige Leuchtreklame
Optisch habe man sich vom Aero-Interface der Vista-Ära zurückentwickelt zum quadratischen und schattenlosen Flachland-Stil vergangener Windows-3.1-Tage. Die Ausnahme sei aus unerfindlichen Gründen der ansatzweise transparente Desktop-Taskbar. Leonhards Geschmack ist damit nicht getroffen. Das schlichte Design solle offenkundig weniger Strom fressen, als das zuletzt der Fall war.
Auch die Metro Apps – Mail, People, Calendar, Messaging, SkyDrive, Weather, News, Finance, Travel, Sports, Games, Camera, Music und Video – reißen den Tester nicht vom Hocker. Immerhin seien im Vergleich zur Beta-Version einige der schlimmsten Bugs behoben worden, wenngleich keineswegs alle.
Bei Metro Mail gebe es nach wie vor keine handliche Möglichkeit, neue Ordner anzulegen und Nachrichten in bestimmte Ordner abzulegen; dazu seien ein rechter Mausklick und eine manuelle Auswahl nötig. Zudem gebe es keine Konsolidierung der Inboxes für multiple E-Mail-Accounts. Zwar könne Metro Mail mit Hotmail, Exchange und Gmail vernetzt werden, erkenne aber weiterhin kein POP3. Besonders nervig sei, dass die Mail-App nichts aus anderen Mail-Programmen von Microsoft wie Office Outlook, Windows Live Mail, Windows Mail oder Outlook Express importiere.
Ein Lob des Kritikers gibt es für die Social-Networking-Integration. Metro People synchronisiere Kontakte über Facebook, Twitter und LinkedIn. Für sich betrachtet funktioniere es zudem ganz gut, die Daten von Mail, People und Metro Calendar zu konsolidieren. Wer aber aus allen dreien einen einheitlichen Datensatz schaffen möchte, scheitere nahezu unweigerlich.
Über die neue App Metro Bing führe einen die hauseigene Suchmaschine erst einmal auf eine Trending-List – aus Sicht Leonhards ein überflüssiges Zugemülltwerden mit Klatsch und Tratsch. Dafür seien die schlimmsten Schnitzer in Bing Finance behoben, wenngleich es immer noch 20 Minuten dauere, bis Aktienkurse aktualisiert seien. Dafür sei Metro Bing News mittlerweile aktueller als in der Beta-Version.
Aktienkurse nach 20 Minuten aktuell
Metro Bing Travel beziehe einen Großteil seiner Hotel- und Restaurant-Empfehlungen von Frommer’s. Allerdings hat inzwischen Google angekündigt, den Reiseführerverlag zu verkaufen, weshalb Leonhard mit einer Umstrukturierung dieser App rechnet.
Der Windows Store immerhin enthalte neue Versionen von Spielen wie Solitaire und Minesweeper, die „eine Augenweide“ seien. Auch das Angebot von Metro Music sei gut, während Metro Photos und Metro Video immer noch eine Editierfunktion vermissen ließen.
Die Veränderungen bei den Windows-Desktop-Programmen seien alles in allem kosmetischer Natur, so Leonhard. Eine Ausnahme in der Enterprise-Version sei Windows To Go: eine tragbares Windows 8 für den USB-Stick.
„Ich war überrascht, dass das tatsächlich auf jedem Rechner funktionierte, den ich finden konnte – vorausgesetzt er konnte von USB booten“, urteilt Leonhard zufrieden. Allerdings sei das ganze ohne USB 3-Verbindung unerträglich langsam, zudem sei die Software nur in der Enterprise-Version enthalten.
„Insgesamt laufen die Microsoft-Programme in der RTM-Version von Windows 8 deutlich schneller als in der Release-Preview-Version“, so der Tester. Irritierend sei, dass man „Do not Track“ (DNT) über das Win8-Setup statt über den Internet Explorer 10 ausstellen müsse.
Wohl kein Massenansturm
Der Tester erinnert daran, dass Microsoft mittlerweile auch mehrere Upgrade-Routen von XP, Vista und Windows 7 bekanntgemacht hat. Demnach kann jeder Windows-Kunde eine Upgrade-Lizenz erwerben – bis kommenden Januar für 39,99 US-Dollar.
Wer kein Upgrade benötigt, kann laut Microsoft auch mit der System-Builder-Version von Windows arbeiten. Das gilt zum Beispiel für die Installation von Windows 8 auf einer neu konstruierten Maschine oder für eine Dual-Boot-Nutzung. Eine Neuerung ist laut Leonhard, dass Windows 8 klar je Nutzer an beliebigem Rechner lizensiert werde.
Anders als manche andere Experten denkt Leonhard nach einem Jahr intensiven Testens an Desktop, Laptop und Tablet nicht, dass Windows 8 und die darauf basierenden Tablets den Markt im Sturm erobern. „Obwohl Win8 auf Intel-Tablets zweifellos einige besondere Anforderungslücken von Firmen und Endverbrauchern schließt, erwarte ich sicherlich keinen massiven Umstieg auf Windows 8 – weder im Büro noch für den Hausgebrauch“, kommentiert der Experte. Womöglich anders liege der Fall bei den Windows-RT-Surface-Tablets, die auf ARM-Prozessoren basieren.
Dieser Artikel stammt von unserer Schwesterpublikation CIO. (kv)