Transformation

Tommy Hilfiger will zum Software-Unternehmen werden

19.07.2018 von Scott Carey
PVH Europe, die europäische Niederlassung des amerikanischen Mode-Giganten mit Marken wie Tommy Hilfiger und Calvin Klein, verändert Produktion und Verkauf seiner Textilien drastisch.
  • 2015 launchte das Unternehmen den ersten digitalen Showroom.
  • Über Nacht mussten die Verkäufer digital verkaufen.
  • Jetzt wird digitale Kompetenz über den B2B-Verkaufsprozess hinaus auch in Entwicklung und Herstellung von Bekleidung eingebracht.

Hinter den Kulissen von Tommy Hilfiger krempelt die adrette 33-jährige amerikanische Modemarke die Art, wie sie ihre Kollektionen an Kaufhäuser verkauft, drastisch um. Das Unternehmen verlagert sich von Showrooms mit physischen Muster-Kollektionen zu einem "digitalen Showroom". Diese orientieren sich an daran, wie Verbraucher online einkaufen.

Die Modemarke Tommy Hilfiger zieht ein positives Fazit ihres digitalen Showrooms, der 2015 an den Start ging.
Die Modemarke Tommy Hilfiger zieht ein positives Fazit ihres digitalen Showrooms, der 2015 an den Start ging.
Foto: Tommy Hilfiger

Anne-Christine Polet ist SVP digital bei PVH Europe, dem europäischen Zweig des Bekleidungsunternehmens, zu dem Tommy Hilfiger, Calvin Klein und andere bekannte Marken gehören. Sie sagte im Juni auf der Couchbase Connect EU-Konferenz in London: "Die Modebranche ist alt. Das Geschäft war schon immer analog und wurde in Hinterzimmern abgewickelt, es ist ein bisschen altmodisch."

Das Geschäft neu überdacht

Angetrieben von Daniel Grieder, CEO von Tommy Hilfiger Global und PVH Europe, begann diese Außenstelle des Modegiganten, einen Kern des Geschäfts neu zu überdenken: die Art und Weise, wie Einkäufer aus Kaufhäusern wie Selfridges oder Harvey Nichols Artikel auswählen, um sie an ihre Kunden weiterzuverkaufen. Traditionell besuchten diese Einkäufer einen physischen Ausstellungsraum, stöberten in der neuen Kollektion und bestellten bei PVH.

Für PVH umfasst dies zwei Marken (CK und Tommy Hilfiger) mit jeweils rund acht Untermarken, die jeweils 1.500 Kleidungsstücke pro Quartal verkaufen. "Wenn Sie nachrechnen, sind das eine Menge Produkte, die nur hergestellt werden, um an ein Kaufhaus verkauft zu werden. Dann erst werden sie für den Konsumentenmarkt produziert", sagt Polet.

Vor vier Jahren hat PVH Europe von seinem Büro in Amsterdam aus ein kleines Team von IT-Mitarbeitern und ein spezielles "digitales Transformationsteam" zusammengestellt, um diesen Prozess drastisch zu überdenken und ihn für seine Marke Tommy Hilfiger effizienter und nachhaltiger zu gestalten.

Kunden waren "Eindringlinge"

Polet und ihr Team setzten sich zunächst für ein paar Wochen in die Ausstellungsräume des Unternehmens, um festzustellen, wie die Verkäufer mit den Kunden zusammenarbeiten. "Auf dem Boden bauten sie ihre Sortimente aus physischen Musterstücken auf, jemand kam und kaufte etwas. Dann gingen sie zum Mittagessen und machten das Gleiche mit einem neuen Kunden", sagte Polet. "Also haben wir ein Konzept für eine digitale Vorgehensweise geplant und ihnen präsentiert."

Mittlerweile fragt die Konkurrenz Tommy Hilfiger um Rat in Sachen digitaler Showroom.
Mittlerweile fragt die Konkurrenz Tommy Hilfiger um Rat in Sachen digitaler Showroom.
Foto: Tommy Hilfiger

Es bleibt festzustellen, dass die Verkäufer im Ausstellungsraum die "Eindringlinge" nicht zu schätzen wussten. Sie reagierten mit Äußerungen von "Sie werden mir niemals meine Muster wegnehmen" bis "Wenn Sie mir das antun, werde ich das Unternehmen verlassen".

Change Management

Davon unbeeindruckt, machte Polet weiter: "Wir legten ihnen etwas vor, und von den 25 Leuten, mit denen wir sprachen, sagten zwei 'vielleicht'." Sie fährt fort: "Also schnappten wir uns diese Jungs und sagten: was, wenn wir das ändern? Oder das hier bauen? Und ohne zu wissen, was Agile Software-Entwicklung war, begannen wir, diese iterative Arbeitsweise selbst durchzuführen. Weil wir wussten, dass das, was wir erschufen, so weit von dem entfernt war, was sie gewohnt waren, mussten wir sie einfach mit ins Boot holen".

Dieser Ansatz trug Früchte: 2015 launchte das Unternehmen den ersten digitalen Showroom. "Was wir seitdem entwickelt haben, ist in jeder Hinsicht ein großer Durchbruch", sagt Polet. "Nicht nur aus Sicht der Mitarbeiter, sondern auch aus technologischer Perspektive."

In der Praxis sehen die Arbeitsplätze in den Ausstellungsräumen wie Jumbo-Tabletts aus, mit ganzen Kollektionen auf 3M-Monitoren und HD-4K-Bildschirmen, mit Produktdetails und Preisen, Einkaufshistorie und Lieferterminen, die mit einem einzigen Klick abrufbar sind. Sofortige E-Mail-Bestätigungen an den Einkäufer reduzieren den Papierkram.

"Über Nacht mussten unsere Verkäufer digital verkaufen"

Als PVH 2016 sein neues Büro in Amsterdam eröffnete, verfügte es über zwei Etagen mit digitalen Showrooms. "Über Nacht mussten unsere Verkäufer digital verkaufen", sagte Polet. "Das war eine große Veränderung."

Heute laufen 80 Prozent des Verkaufsprozesses von PVH in Europa digital ab. Das bewirkt eine direkte Reduzierung der Anzahl der benötigten Muster um 80 Prozent und verbessert die Nachhaltigkeitsbemühungen von PVH deutlich. Seit Juni verfügt PVH über 139 Arbeitsplätze an 19 Standorten in 18 Ländern, darunter eine Erweiterung der Marke Calvin Klein.

Wertschöpfungskette verändert sich drastisch

Das sind noch nicht alle Auswirkungen. "Nicht nur haben sich unser Renommee und die Wahrnehmung unseres Unternehmens in der Branche verändert. Es wirkt sich auf die Time-to-Market aus, wir konnten unsere Sell-in-Frist um sechs Wochen verringern, das ist in unserer Branche einmalig." sagt Polet. "Wir konnten die Anzahl der Termine pro Tag erhöhen, unsere Verkäufe sind viel genauer und unsere Kunden sind sehr zufrieden."

Die Top CIOs im Handel

"Der digitale Showroom war ein Katalysator für uns", berichtet sie. "Als wir das Potenzial sahen, das die Digitaltechnik in eine Sphäre bringen könnte, von der wir dachten, dass das einfach die Art und Weise ist, wie Mode für denGroßhandel funktioniert, haben wir erkannt, dass es so viel mehr gibt, was wir durch den Einsatz von Technologie über unsere gesamte Wertschöpfungskette hinweg drastisch verändern können".

Am aufschlussreichsten ist vielleicht diese Aussage: "Die Konkurrenz ruft uns an und fragt, ob sie unsere digitalen Showrooms bei uns kaufen können."

Digitalisierung auf die Produktion ausweiten

Jetzt will PVH seine neu gewonnene digitale Kompetenz über den B2B-Verkaufsprozess hinaus in die Entwicklung und Herstellung von Bekleidung einbringen. "Wenn man über Mode nachdenkt, steht das Produkt im Mittelpunkt. Die Produktentstehung ist im Wesentlichen ein umständlicher Arbeitsvorgang", so Polet.

Polet erklärt, wie der aktuelle Prozess abläuft: "Sie müssen ein Produkt entwerfen, eine Handskizze anfertigen, diese per E-Mail an eine Fabrik in China schicken, die das, so hoffen Sie, richtig versteht und einen Prototyp zurückschickt. Dann ist dieser Prototyp nicht genau das, was Sie wollten, also korrigieren sie ihn, schicken ihn hin und her, bis Sie schließlich nach drei Runden das Produkt bekommen, das Sie wollten - wenn sie Glück haben."

3D-Modelle vereinfachen die Prozesse

Sie führt weiter aus: "Auch hier handelt es sich also um einen Prozess, der nur nach Störungen verlangt, weil er so ineffizient und sequenziell ist. Deshalb konzentrieren wir uns jetzt auf die 3D-Konstruktion. Wir greifen die Erkenntnisse aus dem digitalen Verkauf auf und setzen sie in der Konstruktion um."

Durch die Möglichkeit, 3D-Modelle von Kleidungsstücken anstelle von Handskizzen zu erstellen, und die Möglichkeit, gemeinsam mit Fertigungspartnern Prototypen direkt aus diesen weitaus detaillierteren Modellen zu erstellen, hofft PVH, diesen Prozess drastisch zu verkürzen und den Ausschuss weiter zu reduzieren.

Praktischer ausgedrückt: PVH gründet derzeit ein Joint Venture mit einem ungenannten Fertigungsunternehmen, "um die Konstruktion in 3D auf eine viel einfachere Art und Weise zu ermöglichen", wie Polet sagt. Das wird zunächst PVH zur Verfügung stehen, "aber möglicherweise mit der Idee, diese zu kommerzialisieren und die gesamte Branche davon profitieren zu lassen".

Zum Software-Unternehmen werden

Der Erfolg, den PVH mit seinen digitalen Transformationsbemühungen erzielt, hat tatsächlich dazu geführt, dass einige ziemlich existenzielle Fragen innerhalb des Unternehmens gestellt wurden. "Wir gehen jetzt systematisch alle Teile unserer Wertschöpfungskette an", sagte Polet. "Also nicht nur B2C. Wir denken jetzt: Wie verändern wir unsere Wertschöpfungskette? Was, wenn unsere Geschäftsmodelle nicht mehr existierten, was würde das bedeuten?"

Sie fragt: "Was wäre, wenn wir zur Softwarefirma würden?" Die Idee von Tommy Hilfiger als Technologieunternehmen sei nicht so lächerlich, wie es einmal geklungen habe. "Eigentlich sind wir bereits in diese Richtung gegangen, wegen des digitalen Showrooms und des immensen Wertes, den er für uns hatte", fügt Polet an. "Unsere Wettbewerber in der Modebranche konnten ein solches Werkzeug nicht nachbauen, und es gab ein echtes Interesse an unserem Produkt."

Corporate Startup gegründet

"Also haben wir jetzt ein sogenanntes Corporate Startup gestartet, das cool klingt, aber wirklich ein engagiertes Tech-Team ist, um das digitale Verkaufs-Ökosystem aufzubauen", erklärt Polet. "Nicht nur für PVH, sondern, um es in Zukunft potenziell zu kommerzialisieren."

"Wir sehen wirklich, dass dies die Zukunft für uns ist. Jeder sagt, dass wir ein Softwareunternehmen werden sollten, langsam und sehr vorsichtig, und wir versuchen tatsächlich, das zu werden".