Nur wenn Kabelkunden Daten auch senden und nicht nur empfangen können, sind Dienste wie Video-on-Demand, Internet- und Telefonnutzung über das Kabel möglich. Diese Erkenntnis zwang den Münchener Kabelnetzbetreiber, das Kabelnetz aufzurüsten – und rückkanalfähig zu machen.
Um sich vom Infrastrukturbetreiber zum Multimedia- Anbieter wandeln zu können, musste das Unternehmen zunächst die Technik auf den Stand bringen: Für die Internet-Nutzung müssen die digitalen Daten nach dem Internet-Protokoll-Standard transportiert werden. Auch die Telefonie baut darauf auf. Für die Übertragung von Sprache hat Kabel Deutschland alle seine Netzknoten mit neuer Kommunikationstechnik aufgerüstet. 809 Kopfstationen, 2220 Hubs, 133500 Verstärker und 2,2 Millionen Splitter hat der Münchener Kabelnetzbetreiber nach und nach auf den neuesten technischen Stand gebracht. Jetzt können die 31400 Kilometer Kabelrohre und 261000 Kilometer Kabel parallel zum analogen Signal auch digitale IP-Signale verarbeiten. Allein diese „Hardware“ kostete Kabel Deutschland seit 2003 jährlich mehr als 100 Millionen Euro – hinzu kamen Investitionen für Voice-over-IP. In den kommenden drei Jahren wird das Unternehmen weitere 500 Millionen Euro in den Ausbau investieren. Ziel ist es, 90 Prozent der 9,6 Millionen Kunden mit Triple-Play versorgen zu können.
Für die Vermarktung der neuen Produkte musste sich das Unternehmen neu auf den Kunden ausrichten. Der Grund: Wenn jeder Kunde sich sein Programmpaket individuell zusammenstellen kann, erwartet er auch individuelle Betreuung vom Call-Center. „Der Kunde kannte früher seinen Kabelnetzprovider überhaupt nicht. Doch das wandelt sich dramatisch, seit wir ihm digitale Programmpakete, Breitband, Internet und Telefonie anbieten können. Das erfordern ein neues System, um Kunden betreuen und verbrauchsabhängige Rechnungen stellen zu können“, sagt der IT-Chef von Kabel Deutschland André Wehner.
Bis Ende Juni 2005 hatte Kabel Deutschland mit drei Billing- Systemen gearbeitet, mit der keine einheitliche Sicht auf den Kunden möglich war. Es gab Kunden der „Netzebene drei“ (regionale Signalverteilung), der „Netzebene vier“ (hausinterne Signalverteilung am Wohnort des Kunden) und für die Internet-Kunden – eine Altlast aus Strukturen der Vorgängerunternehmen, als die Netzregionen noch zur Deutschen Telekom gehörten.
Ad-hoc-Auskunft für alle Anrufer
Die IT bekam deswegen die Aufgabe, ein so genanntes Customer Care & Billing System (CC&B) aufzubauen, um alle bisherigen Abrechnungssysteme in ein neues einheitliches System zu überführen. „Das neue System für etwa 600 Mitarbeiter hatte eine Schlüsselstellung unter all unseren neuen serviceorientierten Projekten“, sagt Kabel-CIO Wehner.
In Zukunft soll jeder Anrufer sofort Auskunft zu allen Fragen bekommen oder ein Produkt bestellen können, egal aus welcher Region der Anruf kommt oder um welche Produkte es sich dreht. Wehner wertet dies als „keine einfache Aufgabe, schließlich haben wie eine Datenmenge von rund zehn Millionen Kabelkunden und verfügen über ein komplexes Kabelnetz mit den verschiedenen Netzebenen“. Zumal die Migration ins Neusystem während des laufenden Betriebs bewerkstelligt werden musste.
Weiteres Ziel war es, die regionale und hausinterne Signalverteilung einschließlich der Abbildung des Netzabschnitts bis in die Wohnung des Kunden in das neue System zu integrieren. „Erst dann nämlich können Kunden und Servicetechniker erfahren, welche Produkte an der Adresse des Kunden zu welchen Vertragsbedingungen verfügbar sind“, so Wehner.
Außerdem sollten Kunden ihre Stammdaten online einsehen und ändern können sowie die für Video-on-Demand und Telefonie nötige volumenabhängige Abrechnung möglich sein. „Verglichen damit ist die Monatsrechnung von Kabelanschlüssen trivial“, so Wehner. Bei Telefonie erfasst das System „Call Data Records“ und übergibt sie ans Billingsystem, das die Daten dem Kunden und Vertrag zuordnet und den Preis berechnet.
Als Instrument für den Wandel diente bei Kabel Deutschland die Methode Business Process Management (BPM). „Indem es abteilungsorientiertes Denken in den Hintergrund stellt, schafft es die Möglichkeit, die Prozesse über Abteilungsgrenzen hinweg zu optimieren. Ganzheitliches Prozessdenken entspricht dem natürlichen Lebenszyklus der Geschäftsprozesse eher als das traditionelle Abteilungsdenken“, so Wehner. BPM funktioniere aber erst dann richtig, wenn die verschiedenen Unternehmensbereiche mit der IT eng verzahnt seien.
Früh Geschäftsmodelle verstehen
Deswegen musste sich auch die Unternehmens-IT mit 140 Mitarbeitern wandeln: „In der Vergangenheit befanden wir uns in einer rein ausführenden Rolle“, sagt CIO Wehner, „das Business kam mit seinen Anforderungen, die IT versuchte die Strategie bestmöglich zu unterstützen.“ Heute müsse man stärker und schon im Vorfeld Geschäftsmodelle verstehen, um frühzeitig in deren Anforderungen denken zu können. Dafür gibt es nun in der IT Ansprechpartner für jeden Bereich, die eng mit entsprechenden Business-Abteilungen zusammenarbeiten.
Die IT sieht sich heute als Partner des Business. Wehners Ziel für BPM: Anforderungen frühzeitig erahnen, unnötige Investitionen vermeiden und durch IT einen Mehrwert für das Unternehmen schaffen. „Wir befinden uns teilweise noch auf dem Weg, wissen aber, wo wir hin müssen“, sagt der CIO zum Stand der Dinge.
Das prozessorientierte Arbeiten verlangt von allen Mitarbeitern ein Umdenken.Die IT ist heute nicht mehr nur für interne Anwendungen verantwortlich, sondern auch für Kundenapplikationen. Außerdem entwickelt und betreibt die IT zusammen mit der Technik das Netz- Management-System, das die Hard- und Softwarearchitektur des Kabelnetzes abbildet.
Statt drei Altsystemen ein neues
Dieser Denkansatz hat Wehner schon bei der Implementierung des neuen Abrechnungssystems geholfen: Zum Projektstart hat das IT-Team die Funktionen bisheriger Billing-Systeme analysiert und Anforderungen an das künftige System in ein Pflichtenheft aufgenommen. Bis Mai 2003 wurde es zum Fachfeinkonzept, welches das Design für die Software- und Datenbankentwicklung vorgibt, die Anfang 2004 abgeschlossen wurde. Den Tests folgte im September 2004 die erste Migration in Leipzig. Bis Juni 2005 waren die Regionen Hamburg, Rheinland- Pfalz und Saarland, Bayern, Niedersachsen und Berlin genauso weit. Wehner: „Die Migration dauerte jeweils bis zu einer Woche.“ In dieser Zeit konnten Call-Center- Mitarbeiter zwar Auskünfte geben, die vorhandenen Daten aber nicht verändern. Nun sind alle Kunden und ihre Verträge mit ihrer Historie erfasst. Call-Center-Mitarbeiter können Vertragsänderungen, täglich mehrere tausend, problemlos im integrierten System durchführen – „und zwar ohne Redundanzen“, so Wehner.
Das Standard-CC&B-System des Billing- und CRM-Spezialisten Convergys musste an vielen Stellen angepasst werden. Besonders die verschiedenen Netzebenen in Deutschland machten zusätzliche Arbeiten notwendig. Heute ersetzt dieses neue System die drei Altsysteme.
Zudem unterstützt das System den Vertrieb: Interessenten können sich über das Internet nicht nur informieren, sondern auch bestellen. Außerdem können Kunden nun im Internet nachschauen, welche Produkte unter welchen Adressen zu welchen Vertragsmodalitäten verfügbar sind. Dahinter steckt eine komplexe Auswertung aller Kunden- und Technikinformationen.
Nicht nur Kabelfernsehen, sondern auch Breitbandinternet und Telefonie runden jetzt das Angebotsspektrum ab. Bis Ende des Jahres sollen mehr als 7,5 Millionen Haushalte in Deutschland das „Triple Play“ nutzen können – alles eine Frage der Technik.