IT-Markt

Ukrainische IT-Branche trotzt dem Krieg

04.04.2022 von Doug Drinkwater
Laut dem IT-Handelsverband der Ukraine arbeiten IT-Firmen trotz Krieg weiter. Investitionen sollen helfen, Wirtschaft und Hilfsprojekte am Laufen zu halten.
Trotz des andauernden Invasion durch Russland wollen die IT-Anbieter in ukrainischen Städten weiterarbeiten.
Foto: Alexey Fedorenko - shutterstock.com

Konstantin Vasyuk sitzt in einem schwach beleuchteten Raum. Er spricht mit Journalisten via Internet von einem geheimen Ort aus. Er ist um seine Sicherheit besorgt, da russische Streitkräfte von Süden und Osten weiter in die Ukraine einfallen und Mariupol belagern. Während seine Kinder online Hausaufgaben machen, ertönen im Hintergrund Luftschutzsirenen.

Vasyuk ist Geschäftsführer der IT Ukraine Association und berichtet in einem Interview über die Lage der ukrainischen IT-Branche. Der Verband vertritt rund 100 Unternehmen mit insgesamt 75.000 IT-Fachleuten. Sie fungiert als Vermittler zwischen den ukrainischen IKT-Unternehmen und ihren Angestellten.

Beliebtes Near-Shore-Land

Die Ukraine hatte sich in den letzten Jahren zu einem beliebten Near-Shore-Standort für westliche Unternehmen entwickelt, insbesondere für Software-Entwicklung und Engineering. Laut dem ukrainischen Außenministerium betreiben mehr als 100 der Fortune-500-Unternehmen Outsourcing in die Ukraine.

Das IT-Exportvolumen sei nach Angaben der IT Ukraine Association 2021 um 36 Prozent auf 6,8 Milliarden Dollar gestiegen (2020: 5 Milliarden Dollar; 2019: 4,2 Milliarden Dollar). Weitere Studien besagen, dass die dortige IT-Branche zwischen 2013 und 2018 von 0,06 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 3,3 Prozent gewachsen ist. Die IT-Fachkräfte stammen meist aus Universitäten oder staatlichen Programme wie dem IT Creative Fund.

Dann startete Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine.

70 Prozent können arbeiten

Vasyuk sagt, dass die IT Ukraine Association und ihre Mitglieder auch nach einem Monat Krieg weiter durchhalten. Die ukrainische IKT-Branche habe in den ersten zehn Tagen der Invasion 24 Millionen Dollar für die Armee und humanitäre Hilfe gespendet. Die meisten Unternehmen könnten immer noch IT-Projekte durchführen, selbst wenn sich ukrainische Mitarbeiter der Armee anschließen oder sich freiwillig melden, um die Cybersicherheitsmaßnahmen des Landes zu verstärken.

Eigene Studien des Branchenverbands besagen, dass etwa sieben von zehn IT-Fachleuten immer noch in "sicheren" Regionen der Ukraine arbeiten. Davon sind etwa 16 Prozent, darunter meist Frauen, im Ausland stationiert. Zirka 2 Prozent der IT-Fachkräfte haben sich den Streitkräften angeschlossen, während 5 Prozent freiwillig helfen, die Cybersicherheit aufrechtzuerhalten und kritische nationale Infrastrukturen zu unterstützen.

Sichere Netze und Bankgeschäfte

Der Internetzugang sei von der russischen Invasion bisher weitgehend unberührt geblieben, so Vasyuk. Die Glasfasernetze liefen "stabil". Nachdem der Minister für digitale Transformation des Landes, Mykhailo Fedorov, per Twitter um Hilfe gebeten hatte seien zudem Verbindungen über die Starlink-Satelliten von Elon Musk auf Reservekanälen verfügbar.

Zwar haben die anhaltenden Störungen in Regionen wie Mariupol, Charkiw und Cherson die lokale Wirtschaft getroffen, aber Vasyuk behauptet, dass die wichtigsten Bank- und Zahlungsdienste relativ unbeeinträchtigt bleiben. "Einige Unternehmen hatten Probleme mit dem Zugang zu ihren Konten, aber das ist nur ein sehr kleiner Prozentsatz", sagt er. Allerdings hätten russischen Sanktionen einige kleinere Unternehmen getroffen, die in Regionen unter der Militärkontrolle der Invasoren angesiedelt sind. Die Donbass-Regionen Luhansk und Donezk befinden sich seit 2014 unter der Kontrolle der russischen Separatisten und fallen daher nicht unter seine Einschätzung.

Geschichten des Trotzes

Seit dem Ausbruch des Krieges am 24. Februar versuchen viele Technologieunternehmen, die Ukraine zu verlassen. EPAM, einer der größten Exporteure sowie Softwareentwicklungs- und Beratungsanbieter des Landes, unterstützte seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Er stellte Services für Kunden in Russland ein und gab 100 Millionen Dollar für humanitäre Hilfe aus.

Das Unternehmen führte Business-Intelligence-Dashboards ein, um die Sicherheit der Mitarbeiter zu überwachen. Zudem hat EPAM Busse gemietet und eine Ridesharing-App entwickelt, um den Menschen beim Grenzübertritt zu helfen. Vom Krieg Vertriebenen hilft der Konzern bei der Suche nach Unterkünften.

Atlassian-Partner Rozdoum entwickelt kundenspezifische Anwendungen und betreibt Niederlassungen in Charkiw sowie Jersey City im US-Bundesstaat New Jersey. Die Familie von CEO Andrey Dekhtyar ist nach Europa und in sicherere Teile der Ukraine umgezogen, aber er ist nach Charkiw zurückgekehrt. Er sieht das als seine "moralische Verpflichtung". Es sei sein Land, seine Heimat, und er leiste seinen Beitrag, so gut er könne. Während eines 20-minütigen Interviews ist im Hintergrund ständiger Beschuss durch die russischen Streitkräfte zu hören.

Dekhtyars Beitrag besteht etwa darin, auf Partner wie Atlassian und Dell einzuwirken, ihre Geschäfte in Russland einzustellen. Zudem kauft er aus eigener Tasche Gebrauchtwagen und schenkt sie dem Militär. Währenddessen geht die tägliche Arbeit ununterbrochen weiter. Seine Belegschaft ermutigt der Manager dazu, sich freiwillig an der "Cyber-Frontlinie" zu engagieren, wenn sie Zeit haben.

Business-Continuity-Pläne des Unternehmens sind seit Beginn des Russlandkonflikts im Jahr 2014 weitgehend in Kraft und wurden durch die Coronapandemie noch beschleunigt. Kolleginnen und Kollegen wechselten von ihren Workstations auf Laptops und mobile Geräte, die Büros wurden vorübergehend geschlossen. "Wir haben immer noch 100 Prozent unserer Kunden. Keiner von ihnen hat seinen Vertrag gekündigt", sagt Dekhtyar. Einige potenzielle Kunden hätten sogar im Voraus bezahlt, um die Finanzen der Organisation zu unterstützen.

Aufträge helfen beim Überleben

Verbandschef Vasyuk betont, dass die IT-Branche des Landes nach wie vor in guter Verfassung ist. Untersuchungen der Association besagen, dass 85 Prozent der IT-Fachleute noch arbeiten. Nur etwa 5 Prozent der lokalen IKT-Projekte seien gestrichen oder verschoben worden.

Die meisten Kunden seien sich der Situation bewusst und hätten es geschafft, die Risiken durch Business-Continuity-Pläne zu mindern. Ein Großteil der ukrainischen Technologieunternehmen verfüge über eine breit gefächerte Partnerlandschaft innerhalb und außerhalb des Landes, auf die sie sich im Falle einer weiteren Störung verlassen könnten.

Vasyuk ermutigt neue und bestehende Kunden, weiterhin mit ukrainischen IT-Betrieben zusammenzuarbeiten. Zum einen könnten sie weiterhin effektiv und kostengünstig liefern. Zum anderen kurbeln die Investitionen die Wirtschaft an und fließen in humanitäre Hilfe.

Rozdoum-Chef Dekhtyar sieht das ähnlich: "Je mehr Geld wir bekommen können, desto mehr Dienstleistungen können wir anbieten." Das werde der ukrainischen Wirtschaft helfen zu überleben. Er befürchtet, der kurze Krieg werde in einen langen übergehen und damit zusehends zu einem Wirtschaftskrieg werden. Der ukrainische Industriesektor sei durch den Beschuss im Osten des Landes "verloren oder beschädigt". Daher müsse man sich stärker auf eine IKT-Industrie konzentrieren, die noch funktioniere.

Chancen für ukrainische Anbieter

Vasyuk wittert unterdessen eine Chance für lokale Technologieunternehmen, wegen der russischen Sanktionen und der Abwanderung russischer Talente aus dem Land: "Das gibt ukrainischen Unternehmen die Möglichkeit, zusätzliche Aufträge von denjenigen zu erhalten, die ihre Beziehungen zu russischen IT-Anbietern eingestellt haben." Er deutet an, dass in den USA ansässige Unternehmen nach Empfehlungen für Dienstleister in der Region suchen.

Laut Dekhtyar können globale und europäische IT-Konzerne helfen, indem sie Druck auf lokale Politiker ausüben, ihre Geschäfte in Russland einzustellen und ihre Mitarbeiter zu verlagern. Er betont jedoch, dass dies nur begrenzte Auswirkungen haben wird, wenn die Steuern der Mitarbeiter nicht in die lokale ukrainische Wirtschaft zurückfließen.

Letztendlich sind beide davon überzeugt, dass sich die Ukraine dank seiner robusten und widerstandsfähigen IT-Industrie durchsetzen wird. Zwar mache das Land schwere Zeiten durch, das bedeute für Vasyuk aber nicht, dass Ukrainer die Hände in den Schoß legen und die Situation einfach aussitzen würden.

Die IT Ukraine Association sucht die Zusammenarbeit mit Partnern für eine Jobplattform für vertriebene Ukrainer. Der Verband kann über seine LinkedIn-Seite kontaktiert werden. (jd)

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation Computerworld.