Die Ankündigung löste einigen Wirbel aus: Mitte vergangener Woche erklärte Google, mit Chrome OS ein eigenes Betriebssystem auf den Markt bringen zu wollen. Es soll ab der zweiten Jahreshälfte 2010 zu haben sein. Eine Nachricht, die Microsoft auf keinen Fall ignorieren könne, meint Rüdiger Spies, Independent Vice President Enterprise Applications beim Beratungshaus IDC. "Chrome OS ist das erste Betriebssystem, das im und für das Zeitalter des Internets entwickelt worden ist", sagt Spies.
Cloud Computing verbreite sich derzeit stark, außerdem seien gerade junge Anwender zunehmend gewohnt, Daten nicht mehr lokal zu speichern, so Spies. Vor diesem Hintergrund sei Chrome OS eine "interessante Idee". Google betont in seiner Ankündigung des neuen Systems, Chrome OS sei vor allem für die Arbeit übers Internet gemacht. Nach dem Rechnerstart solle der Nutzer "binnen weniger Sekunden" surfen können. Spies erwartet, dass das aufs Web zugeschnittene Betriebssystem in Unternehmen vor allem auf sogenannten Net Stations zum Einsatz kommen könnte, also schlanken Endgeräten, von denen aus der Anwender über den Browser nur auf wenige Anwendungen zugreift.
Ein Feld, auf dem Google Microsoft womöglich empfindlich treffen könnte. Der Verkauf seines Betriebssystems Windows und des darauf abgestimmten Office-Pakets sei der Kern des Geschäfts von Microsoft. Beide Produkte machten im vergangenen Jahr 58 Prozent des Umsatzes der Redmonder aus. Auf der anderen Seite habe Microsoft auch die Mittel, um sich gegen den Angriff zu wehren, meint IDC-Mann Spies. Der Kampf könnte sich vor allem in Verhandlungen mit Hardware-Herstellern abspielen, vermutet er. Möglich wäre zum Beispiel, dass Microsoft sein Windows 7 für eine begrenzte Zeit kostenfrei an die Hersteller von Netbooks abgebe. Ein klarer Nachteil für Google auf diesem Feld ist aus Spies’ Sicht, dass der Internet-Gigant anders als Microsoft keine bestehenden Partnerschaften mit Hardware-Anbietern hat.
Zweifel daran, dass es überhaupt zu einem ernsthaften Konkurrenzkampf auf diesem Feld kommen wird, hegt dagegen Autor Ian Paul von unserer amerikanischen Schwesterpublikation PC World. Chrome OS sei für Microsoft in etwa so gefährlich "wie eine Mücke für einen Bären", schreibt er. Googles System sei als Lösung für Heimanwender angekündigt. Dagegen habe Microsoft mit seiner Plattform Azure schon längst eine Umgebung geschaffen, über die Entwickler in der Cloud Anwendungen auf professionellem Standard anbieten könnten. Und unser US-Schwestermagazin CIO.com zitiert den langjährigen Marktbeobachter Roger Kay von Endpoint Technologies mit den Worten: "Ein richtiges Betriebssystem muss auch Hardware verwalten können."
Paul sieht grundsätzlich keinen Sinn darin, "sich selbst mit einem weniger fähigen Betriebssystem zu behindern", wenn man doch ein Netbook mit gutem Prozessor habe. Wenig hält Ian Paul auch von dem im offiziellen Google-Blog gemachten Versprechen, Nutzer von Chrome OS würden sich "nicht mit Viren, Schadprogrammen oder Sicherheits-Updates" herumschlagen müssen. Das werde höchstens solange der Fall sein, wie das Betriebssystem ein Nischenprodukt bleibe. Auch Spies ist zurückhaltend, was die vollmundige Ankündigung von Google angeht. Die beworbenen Vorteile in punkto Sicherheit vermag er noch nicht einzuschätzen.
Chrome OS für mobile Endgeräte
Günstig scheinen indes die Rahmenbedingungen zu sein. Die Spanne unterschiedlicher mobiler Geräte, für die Chrome OS besonders geeignet sein soll, differenziert sich Spies zufolge weiter aus. Und mit der fortschreitenden Glasfaser-Anbindung und sinkenden Mobilfunk-Preisen spielten die Verzögerungen im Internet und hohe Kosten beim Surfen über mobile Geräte eine immer geringere Rolle.
Spies’ Ansicht, dass Chrome OS Microsoft auf dem Terrain mobiler Geräte angreifen könnte, teilt Laurent Lachal, Experte für Open Source beim Beratungshaus Ovum. Mobile Internet-Geräte (MID) würden immer beliebter. Auf diesem Markt fasse derzeit bereits das von Google gemeinsam mit Mobiltelefon-Herstellern entwickelte Betriebssystem Android Fuß. Es ist wie Chrome OS Linux-basiert.
Passende Anwendungen per Mausklick
Mit Blick auf die vermuteten Eigenschaften von Google Chrome OS erwartet Rüdiger Spies, dass das Betriebssystem "intuitiv und leicht zu bedienen" sein werde. Auch diese Ansicht teilt Ovum-Experte Lachal. Mit Chrome OS werde dem Anwender möglicherweise ein einheitlicher Zugriff auf verschiedene Google-Anwendungen möglich sein. Außerdem vermutet Lachal, dass daran eine Online-Boutique angebunden sein wird, über die sich mit wenigen Klicks auf das System abgestimmte Anwendungen beziehen lassen.
Rüdiger Spies’ amerikanischer Kollege Al Gillen von IDC fordert gegenüber unserem US-Schwesterorgan Computerworld, Chrome OS müsse vor allem soziale Anwendungen integrieren. Anders sei gegen Microsoft kein Stich zu machen. "Soziales Netzwerken muss Teil der Desktop-Erfahrung werden", sagt er. Statt beispielsweise den Dienst Twitter über ein Browser-Fenster zu nutzen, könne er als Mini-Anwendung in einer Ecke des Desktops untergebracht werden.
Chrome OS konkurriert mit Ubuntu
Dass Google Chrome OS auf dem Markt spürbar einschlagen wird, erwartet Laurent Lachal von Ovum nicht. Dafür komme das System zu spät. Die Veröffentlichung von Windows 7 steht kurz bevor. Deshalb "wäre es für Google jetzt besser gewesen, eine Alternative für den Netbook-Markt zu veröffentlichen und nicht bloß anzukündigen". Chrome OS werde nur Erfolg haben, wenn es eine starke Gemeinde von Anhängern versammeln könne. Und das hält Lachal für unwahrscheinlich. Google solle das Projekt überdenken und einen Verbund mit der Ubuntu-Community erwägen, rät er.
Andere Beobachter vermuten ohnehin, dass Google Chrome OS weniger Microsofts Windows in Bedrängnis bringen könnte, sondern vielmehr andere Linux-Distributionen. Das sagt etwa Joshua Martin vom Beratungshaus Yankee Group gegenüber dem IDG News Service. Mehrere Linux-Distributionen hätten gerade erst Fuß gefasst. Mit der Stärke seiner Marke werde Google vor allem deren Marktanteile beschneiden. "Die Kunden werden sich von einer Marke anziehen lassen, die sie kennen und mit effizienten Online-Diensten assoziieren", so Martin. Das Nachsehen hätten weniger bekannte Namen wie Ubuntu oder Moblin.
HP und Lenovo zurückhaltend gegenüber Chrome OS
Bei den Hardware-Herstellern ist von Begeisterung über das neue System unterdessen wenig zu spüren, wie Dan Nystedt, Autor beim IDG News Service, im Gespräch zu hören bekam. So ließ der weltgrößte PC-Anbieter HP verlauten, er prüfe Chrome OS. "Wir wollen wissen, was Chrome für den Computer- und Kommunikations-Markt zu bieten haben könnte", so die eher zurückhaltende Antwort. Auch andere Hersteller wie Lenovo oder Asustek gaben bisher lediglich bekannt, sie befassten sich mit dem System. Auf Chrome OS zugeschnittene Geräte entwickelt demnach aber noch niemand. Google hatte in seinem Blog schon mitgeteilt, mit mehreren Herstellern gemeinsam an Rechnern zu arbeiten, die "eine außerordentliche Erfahrung für den Anwender" bereithielten.
Microsofts Windows-Chef Bill Veghte übt sich währenddessen in Gelassenheit. „Googles Chrome OS ist bislang nichts weiter als ein Blog-Eintrag“, sagte er der Agentur dpa. Er verweist auf das Beispiel Google Docs. Auch bei der übers Internet verfügbaren Office-Software habe es eine große Ankündigung gegeben, danach sei erst einmal nichts passiert.