HTML5 nähert sich der Fertigstellung. Erst im Mai dieses Jahres erhielt die neue Version der Seitenbeschreibungssprache fürs Web im Entwicklergremium den Status "Last Call", der als Aufforderung dient, wirklich letzte Kommentare zum Entwurf einzureichen, bevor die Version als entgültig veröffentlicht wird.
HTML5 ist für den Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, nicht weniger als die Neuerfindung vom HTML. In der Tat wirft die Beschreibungssprache lange Schatten voraus, etwa durch das Versprechen, dass für die Darstellung von Audio- und Videodateien sowie für 2D- und 3D-Grafiken keine externen Plugins mehr nötig sein werden. Bisher arbeiten die meisten Webseiten dafür mit Adobe Flash, was zum Beispiel Apple für iPhone und iPad ablehnt, weshalb dort solche Elemente nicht sichtbar sind.
Im Kern geht es bei vielen Diskussionen über HTML5 um nichts weniger als die Zukunft von Anwendungen, wie wir sie heute kennen. Bislang arbeiten die meisten Menschen mit einem Desktop-PC oder Notebook und Anwendungen, die fest auf dem Rechner installiert sind. Das Pendant bei mobilen Geräten sind proprietäre Apps, die in der Regel speziell für ein mobiles Betriebssystem angefertigt sind und auf anderen Endgeräten nicht genutzt werden können.
Das Gegenmodell zu diesen proprietären Applikationen sind die sogenannten Web Apps - Anwendungen, die im Browser laufen, aber ihren Code von Servern oder aus virtualisierten Umgebungen beziehen. Für diese Art von Anwendungen könnte HTML5 eine gute Basis sein. Ist die Seitenbeschreibungssprache also der "Heilige Gral" für die Webseiten und Anwendungen der kommenden Generation? Diese leicht übertriebene Fragestellung wählten ausgewiesene Experten von Microsoft, Google, Twitter und Flipboard jüngst auf einer Konferenz von Usenix im US-amerikanischen Portland. Sollen Entwickler künftig immer noch proprietäre Client-Anwendungen programmieren, die nur auf speziellen Geräten oder Betriebssystemen laufen? Oder auf der Basis offener Standards wie HTML5? Direkt einfach fällt die Antwort nicht aus.
Erik Meijer jedenfalls, ein Microsoft-Programmierer, ist skeptisch: "Wir haben schon öfter versucht, eine universelle Benutzeroberfläche für alle Systeme zu bauen. Aber das hat noch nie richtig funktioniert." HTML5 sei zunächst einmal nur ein weiterer Versuch, kein natives System.
HTML5 ist besser, aber keineswegs optimal
Patrick Chanezon, bei Google unter anderem Entwickler für Cloud-Anwendungen, meint, dass die Verwendung von HTML5 davon abhängt, wie großflächig eine Anwendung zur Verfügung gestellt werden soll. "Wenn Sie nur für iOS schreiben, dann tun Sie das mit der nativen iOS-Umgebung besser", so Chanezon. Aber soll eine Anwendung quer durch die Betriebssysteme funktionieren, dann sei HTML5 die bessere Wahl.
Allerdings, kritisiert Raffi Krikorian, Infrastruktur-Ingenieur bei Twitter, dass HTML5 zwar gut aussehe, aber auch nicht alles könne, zum Beispiel Benachrichtigungen an Nutzer versenden.
Charles Ying, Ingenieur bei Flipboard, kommt dagegen mit einem anderen Feature von HTML5 gut zurecht: 60 Bilder pro Sekunde für Videos und Animationen seien schnell genug. Allerdings sei diese Darstellungsgeschwindigkeit auf mobilen Geräten schwieriger zu erreichen. Mit geringeren Bildraten gebe er sich aber nicht zufrieden, so Ying.
Die Unterscheidung zwischen Desktop und Mobilgeräten zog sich durch die gesamte Expertendiskussion: Für den Desktop, da sind sich alle einig, ist HTML5 ein großer Schritt vorwärts. Bei mobilen Geräten, so die ebenfalls einheitliche Kritik, fehle es dagegen noch an allen Ecken und Enden.
Und das führt wieder zur Ausgangsfrage zurück: Sollen Entwickler für mobile Geräte Web-Applikationen anfertigen oder proprietäre Anwendungen, die über App Stores vertrieben werden?
Web-Apps oder App-Store?
Tim Berners-Lee ist sicher, dass das App-Store-Modell das Internet auf Dauer zerstören würde. Folgerichtig rief der Internet-Erfinder Entwickler auf, Browser-basierte Anwendungen zu schreiben. Entwickler selber äußerten sich auf der Konferenz weniger visionär als monetär: Sie bevorzugen das App Store-Modell, weil sie dort gutes Geld mit proprietären Apps verdienen. Da geht Kasse vor Klasse.
Aus Anwendersicht ist das App Store-Modell dagegen problematisch: Was auf dem einen Gerät läuft, muss auf einem anderen noch lange nicht funktionieren. Und wenn es auf beiden läuft, dann noch lange nicht mit identischer Oberfläche oder Funktionalität. Zum möglichen Ärger darüber kommen oft zusätzliche Kosten, denn die Lizenz für das eine System schließt die Rechte an anderen nicht ein.
Dennoch seien Anwendungen für Browser nicht notwendigerweise besser, widerspricht Charles Ying von Flipboard. Er findet zumindest bis jetzt Anwendungen, die nativ für mobile Geräte geschrieben wurden, besser, als Webseiten: "Das gilt sowohl vom technischen als auch vom ökonomischen Standpunkt her."
Browser der heutigen Generation seien einfach nicht dafür gebaut, Anwendungen auf mobilen Endgeräten optimal zu unterstützen. Auf dem Desktop würden diese Beschränkungen weniger ins Gewicht fallen, weil da Prozessorpower und Bandbreiten der Netze in der Regel größer seien. Aber auf Smartphones und Tablets fallen diese Einschränkungen besonders ins Gewicht.
Und so bleibt die Frage nach der Zukunft der Anwendungen vorerst unbeantwortet. Sogar Google, sonst Vorreiter einer "100 Prozent Zukunft im Web", ist über die Frage, welche Technologie die bessere Zukunft gewährleistet, nicht einig. Mal setzt das Unternehmen auf Chrome und damit auf die webbasierte Variante, mal liegt Android und damit das Shop-Modell vorne.
Auch Google kann sich nicht entscheiden
Google-Entwickler Chanzeon gibt denn auch offen zu, dass auch er nicht weiß, wohin die Reise geht. Wenn man sich nicht einmal bei Google einig ist, dann ist die Diskussion tatsächlich noch offen.