Was treibt Sie als CIO der Allianz Gruppe derzeit am stärksten um, Herr Schneider?
SCHNEIDER: Mein Vorstand erwartet von mir zunächst einmal, dass ich mit der IT Kostensynergien hebe. Wir sind ein globales, sehr komplexes Unternehmen mit vielen verschiedenen Organisationseinheiten, die in Sachen IT historisch individuell gehandelt haben. Deshalb ist der Wunsch nach Kostenreduktion absolut verständlich; sie kann allein durch Standardisierung und Konsolidierung in teilweise erheblichem Ausmaß erzielt werden.
Zudem will die Allianz Gruppe IT als Effizienzhebel einsetzen und mit ihrer Hilfe Betriebs- und Vertriebsaufwände reduzieren. Dabei setzen wir vor allem auf Automatisierung und Digitalisierung. Die dritte Herausforderung ist viel anspruchsvoller: die Überführung der Allianz in die digitale Welt. Dabei geht es um die Kundenschnittstelle, um die Produkte und um unsere Prozesse.
HAUPTER: Ist denn die digitale Welt für Endkunden, Agenturen oder Großkunden die gleiche oder stellt sie sich unterschiedlich dar?
SCHNEIDER: Auf abstraktem Niveau findet in diesen Segmenten das Gleiche statt. Was macht ein Kunde oder Partner? In der Regel taucht er über eine Mensch-Maschine-Schnittstelle, ein Portal, einen Browser oder ein anderes Frontend in die digitale Produktwelt der Allianz ein. Jeder Medienbruch, ob beabsichtigt oder nicht, verursacht zusätzliche Kosten. Also müssen wir unsere Systeme am Frontend vereinfachen. Kein Kunde oder Partner will in einem Formular 80 Attribute angeben, um eine KfZ-Versicherung abzuschließen.
Bring your own? - kein Problem!
HAUPTER: Spielt bei Ihnen der Begriff Consumerization der IT eine Rolle? Darunter verstehe ich zum einen die Orientierung der Mensch-Maschine-Schnittstelle an den Oberflächen, die im privaten Bereich benutzt werden, und zum anderen die Zunahme privater Geräte am Arbeitsplatz.
SCHNEIDER: Ja. Ich war zum Beispiel vor kurzem innerhalb einer Woche in Sao Paulo, Bogota, Novato in Kalifornien, London, Brüssel, Dublin und Bratislava. Gott sei Dank nur virtuell. Über das Videokonferenzsystem halte ich Kontakt zu meinen 50 CIOs in den Ländergesellschaften der Allianz. Dazu werden eine Vielzahl verschiedener Endgeräte genutzt, auch die persönlichen. Bring your own device ist bei uns schon an der Tagesordnung. Wir haben viele Applikationen zentralisiert und virtualisiert. Deshalb brauchen wir für Vieles nur noch einen Browser auf dem Endgerät. Es ist zumindest kein technisches Problem mehr, private Geräte zu nutzen. Allerdings haben wir noch nicht alle rechtlichen und organisatorischen Fragen in diesem Zusammenhang beantwortet.
HAUPTER: Wieviel Prozent Ihrer Anwendungen haben Sie zentralisiert?
SCHNEIDER: Es gibt Länder, in denen die Anwendungen schon zu 100 Prozent virtualisiert sind, zum Beispiel in Irland oder Brasilien. In anderen Ländern ist das erst zu zehn Prozent der Fall, beispielsweise in Deutschland. Hier vollziehen wir den großen Wandel in diesem Jahr. Wir bezeichnen übrigens sowohl Web-Anwendungen als auch Citrix-basierende Infrastrukturen als virtualisiert. Ob wir dabei jemals von dem Fat Client wegkommen, weiß ich gar nicht. Aber solange er auf einem virtuellen Server läuft, ist mir das auch nicht so wichtig.
HAUPTER: Ob Web-basierte oder virtuelle Desktop-Applikationen - das ist in der Tat nicht so relevant wie die dahinter liegenden zentralen Strukturen und Datenbestände. Wie Sie das aus Unternehmensperspektive für Ihre Kernapplikationen sehen, so sehen wir das für unser Produktportfolio, das wir in den vergangenen 18 Monaten mit weiteren Cloud-Services ausgebaut haben. Nahezu jedes Microsoft-Produkt ist heute auch als Online-Service verfügbar. Die Marktbewegungen von Anwender und Anbieter laufen synchron.
Ein Hühnchen mit Microsoft rupfen
SCHNEIDER: Ich glaube, wir haben da mit Microsoft zurzeit noch einen Diskussionspunkt offen. Eine Public Cloud kommt für uns strategisch nicht in Frage. Wenn es aus Preisgründen unumgänglich ist, wird man sich das im Einzelfall vielleicht überlegen, aber strategisch gehen wir in die Richtung Private Cloud. Wir wollen unsere zentralen Anwendungen und vor allem unsere Daten selbst unter Kontrolle haben - schon allein, weil wir sie auch mit Datamining-Tools intensiv analysieren.
HAUPTER: Aber da liegt ja genau der Unterschied. Wir bieten umfassendes Cloud Computing an - als Software as a Service, Infrastructure as a Service und Platform as a Service. Für Sie ist wahrscheinlich wichtiger, wie wir Ihnen Office für Ihre 160.000 Arbeitsplätze weltweit zur Verfügung stellen können. Wenn Sie persönlich entscheiden, dass Sie 140.000 davon in einem Rechenzentrum installieren, 10.000 an einen Provider geben, mit dem die Allianz gute Erfahrungen gemacht hat, und weitere 10.000 in einem anderen Rechenzentrum unterbringen, können Sie das mit Microsoft realisieren. Alle arbeiten dann mit dem gleichen Active Directory.
Ihre Agenturen und Partnern können die E-Mail-Infrastruktur ebenfalls aus der Public Cloud bekommen - wieder mit dem gleichen Directory. Dann haben Sie alle Teilnehmer in der gleichen Architektur und dadurch viel bessere Skalierungsmöglichkeiten, als wenn Sie alles selbst betreiben. Der Diskussionspunkt ist folgender: Wieviel mehr bin ich als Anwender bereit, dafür einzubringen, dass ich die Daten bei mir behalte? Für den Gegenwert einer Tasse Kaffee, also zwei Dollar, bekommen Sie einen Exchange-User inklusive Sharepoint-Zugriff pro Monat in Ihre E-Mail- und IT-Infrastruktur integriert. Das geht aber nur, wenn wir das in unseren Infrastrukturen betreiben. Lasen Sie das in Ihren RZ laufen, funktioniert das zu dem Preis nicht.
SCHNEIDER: Wir stehen als Versicherer mit Compliance und Data Protection vor zwei riesigen Herausforderungen. Ich habe überhaupt keine Lust, von irgendeinem Provider abhängig zu sein, wenn es um die Verbindung zu unseren Daten geht. Ich will nicht, dass er entscheiden kann, ob er mir Zugang gibt oder nicht. Das will ich selbst entscheiden - zu jeder Zeit und in jeder Situation. Unsere Daten geben wir nicht aus der Hand. Selbst wenn ein Provider durch wasserdichte Verträge gebunden ist, darf der Abschalter nicht auf seiner Seite sein. Diese faktische Macht, meinem Unternehmen entweder durch schlechte Leistung oder sogar absichtlich den Zugang zu meinen Daten zu verweigern, darf er nicht haben.
HAUPTER: Ich will Sie keineswegs davon überzeugen, dass Public Cloud die einzige Lösung ist. Cloud verändert die Art, wie IT ausgeliefert wird, nämlich als Services. Und wenn beim Kunden am Frontend Appetit auf eine entsprechende Anwendung entsteht, muss das IT-Backend darauf reagieren können. So wie wir diese Cloud-Services anbieten, können Sie selbst entscheiden, ob sie und welche Dienste beziehungsweise Anwendungen Sie in Ihren eigenen Rechenzentren betreiben - mit den gleichen Funktionen wie in der Cloud - oder in einer gemischten Umgebung. Sie können das sogar bei laufendem Betrieb ändern.
SCHNEIDER: Damit kommen wir aber auf das heiße Thema: Ein bisschen schwanger geht nicht. Ich weiß natürlich auch, dass sich Ihr Geschäftsmodell zurzeit verändert. Deshalb muss man das als Übergangszeit sehen. Aber ein Anbieter - und damit meine ich nicht nur Microsoft - kann nicht in einer Public Cloud ein Pay-per-use-Modell anbieten und für eine Private Cloud kein Concurrent-User-Lizenzmodell haben. Das ist ein Widerspruch in sich.
HAUPTER: Da vermischen Sie zwei unterschiedliche Dinge. In der Public Cloud zahlen Sie für den Service eine nach Serviceplänen und Anzahl der User gestaffelte wiederkehrende Gebühr. In der Private Cloud kaufen Sie Softwarelizenzen, die Sie einmal zahlen, und laufende Wartungsgebühren. Das sind zwei unterschiedliche Preismodelle. Allerdings sind wir in unserem Lizenzierungsmodell inzwischen so flexibel, dass der Kunde entscheiden kann, welchen Teil der Software er für wie viele Arbeitsplätze zu welcher Zeit lizenzieren will. Wenn Sie sich zum Beispiel für unser Office-365-Angebot entscheiden, bestimmen Sie genau, welcher Serviceumfang jedem einzelnen Anwender bereitgestellt wird. Wenn davon beispielsweise ein Teil lediglich auf die E-Mail-Funktionen zugreift, dann zahlen Sie auch nur dafür. Und das können Sie monatlich ändern.
Druck auf die Anbieter steigt
Herr Schneider, Sie möchten also das Preismodell der Public Cloud - pay what you use - auch für die Private Cloud haben. Sie haben hierfür einmal das Wort vom "Pay for value" benutzt.
SCHNEIDER: Das wäre dann die nächste Stufe. Dabei geht es einfach darum, dass ich den Softwareanbieter bezahle, indem ich ihm einen Anteil von dem Gewinn gebe, den ich dank seiner Software in einem bestimmten Geschäftsbereich oder Prozess erziele. Das ist schwer zu messen, deshalb begnügt man sich meistens mit dem Pay per use, was sicher ein erster Schritt ist. Der Trend geht aber in diese Richtung. Der Druck auf die Anbieter steigt stark an. Das liegt auch daran, dass es kaum noch eine Software oder einen Service gibt, den wir nicht durch einen anderen ersetzen könnten - einen, für den uns ein Pay-per-use-Modell angeboten wird. Wenn es zum Beispiel kein Open Office gäbe, könnten wir sicher weniger Einfluss auf unseren jetzigen Office-Anbieter nehmen.
HAUPTER: Ich glaube, dass wir ein Modell anbieten, das Ihren Forderungen schon gerecht wird. Man muss aber auch fair bleiben. Man kann sich nicht nur die Rosinen aus dem Kuchen picken. Sie sind Group CIO und müssen auch für Governance und Guidance sorgen. Das heißt aber auch, dass Standards, Integration und Collaboration-Fähigkeiten einen Mehrwert für die Gesamtorganisation bedeuten. In diesem Kontext glauben wir, dass wir mit unserem Modell den Wünschen der Anwender recht nahe kommen. Wir unterscheiden zwischen Lizenzmodell und Online-Pricing.
Wenn Sie die Public Cloud aus nachvollziehbaren Compliance-Gründen nicht nutzen wollen, sondern Ihre Infrastruktur lieber innerhalb des Unternehmens als Private Cloud realisieren wollen, bieten wir Ihnen die gleiche Technologie, die wir in der Public Cloud nutzen, für Ihr Rechenzentrum - und zudem ein skalierbares, sehr flexibles Lizenzmodell. Der einzige Meinungsunterschied zwischen uns bezieht sich auf den Tagespreis für die Benutzung.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang eine Analogie aus Ihrem Geschäft: Ich kann ja auch keine Rechtsschutzversicherung erst dann abschließen, wenn ich bereits einen Rechtsstreit habe. Das muss ich vorher machen und eine gewisse Karenzzeit einhalten. So gesehen, muten Sie Ihren Kunden auch eine Investition vor der eigentlichen Nutzung des Service zu.Sie können bei Microsoft auf Monatsbasis einen User an- und abschalten - über das gesamte Portfolio. Sie möchten pay per use. Gut, das kriege ich noch nicht auf Stundenbasis hin, aber doch auf Monatsbasis.
SCHNEIDER: Aber genau das funktioniert bei uns nicht.
HAUPTER: Dennoch können Sie Funktionalitäten steuern. Der Schritt, der noch gemacht werden muss, ist …
SCHNEIDER: ... Warum sollte ich das? Warum soll ich beispielsweise nach dem Preismodell eines einzelnen IT-Anbieters meine Sachbearbeiter steuern? Ein Anbieter hat ein interessantes Preismodell für Mainframes. In dem wäre es für uns am günstigsten, wenn alle Maschinen 24 Stunden am Tag gleichmäßig arbeiteten. Gute Idee! Aber in Deutschland arbeiten die Leute nicht 24 Stunden am Tag. Dazu fällt mir sofort das böse Wort vom Raubrittertum ein.
Der Anbieter weiß genau, dass die meisten Unternehmen eine Belastungsspitze um elf Uhr am Vormittag haben und beispielsweise vor Weihnachten. Die Preismodelle berücksichtigen das aber nicht. Ich kann nicht bestimmen, wann welcher Mitarbeiter wie viele E-Mails oder Dokumente bearbeitet. Ich kann das nur beobachten und mir dann das passende Preismodell aussuchen. Gesetzt den Fall, dass es eines gibt. Das sieht vielleicht nur nach einem kleinen Dissens aus, aber der ist für Sie als Anbieter potenziell gefährlich.
Anwender fordern Innovationen
Diesen Dissens können wir hier wohl nicht aus der Welt schaffen. Lassen Sie uns deshalb noch einmal auf das Thema Digitalisierung zu sprechen kommen. Herr Schneider, Sie fordern von den Herstellern an dieser Stelle mehr Engagement an der Innovationsfront.
SCHNEIDER: Im Bereich Collaboration und Communications hat sich enorm viel getan. Das ist wichtig für uns. Im Bereich User-Interface muss einiges noch einfacher werden. Die Collaboration-Tools und andere Werkzeuge sollten so einfach zu bedienen sein wie das Telefon. Schließlich ist nicht jeder Allianz-Mitarbeiter technologieaffin oder ein Internet-Fax.
HAUPTER: Da schütten Sie Wasser auf meine Mühlen. Gerade im Bereich Cloud-Services arbeiten wir an einheitlichen, einfach zu bedienenden Nutzerschnittstellen. In diesem Zusammenhang hegen wir große Pläne für unsere haptische Gestensteuerung Kinect, die wir für unsere Spielekonsole XBox auf den Markt gebracht haben. Wir werden sie um Spracheingabe erweitern und in PCs, Tablets und Smartphones einsetzen. Dann kommen wir einer einfach und einheitlich zu bedienenden Benutzerschnittstelle schon viel näher.
Konkurrenz durch Facebook & Co.
Die Collaboration-Tools dienen zunächst der Zusammenarbeit von Allianz-Mitarbeitern. Aber müssen Sie diese digitalen Kommunikationswege nicht auch für die Kunden öffnen?
SCHNEIDER: Das vermischt sich bereits. Natürlich müssen wir die Kunden ebenfalls auf digitalem Weg ansprechen. Sie werden in Zukunft nur noch die Produkte kaufen, die sie wollen und selbst konfigurieren. Aber egal, ob interne oder externe Communities: Wir haben nicht mehr allzu viel Zeit, um das selbst zu realisieren. Wenn das in absehbarer Zeit nicht klappt, kann ich mir vorstellen, dass wir innerhalb von Facebook geschlossene Benutzergruppen eröffnen, wo sich unsere Leute miteinander austauschen. Aber in diesem Fall haben wir beide gezeigt, Herr Haupter, dass wir unseren Job nicht können.
Ich nicht, weil ich kein System auf die Straße bringen kann, das den Ansprüchen der Mitarbeiter und Kunden genügt. Sie nicht, weil Sie kein richtiges Pricing hinbekommen. Wir müssen endlich begreifen, dass uns das Thema Consumerization vollständig eingeholt hat. Die Hierarchien und die auf das Unternehmen beschränkte Kommunikation und Innovation brechen auf. Der Cloud-Trend ist richtig. Die Frage ist aber noch, wer davon am stärksten profitiert: die klassischen IT-Anbieter oder die Facebooks und Googles dieser Welt. Consumerization eröffnet ganz neue Spielfelder. Plötzlich hat Facebook durch seine simple Art der digitalen Vernetzung von Menschen eine große Chance im Enterprise.
HAUPTER: Trotzdem werden Sie als Group CIO weiterhin IT-Standards und -Strategie definieren sowie die notwendigen Infrastrukturen, Versicherungsanwendungen inklusive Business Intelligence und Data-Mining betreiben und weiterentwickeln. Nur mit einem optimal aufgestellten Back-end erreichen Sie die notwendige Flexibilisierung am Frontend. Ich sehe uns als Ihren Unterstützer. Wir wollen ihnen helfen, die maximalen Freiheitsgrade an der Schnittstelle zum Kunden zu erreichen, um die Veränderungen in der Kundengewinnung und -bindung sowie in der Mitarbeitersteuerung und -integration erfolgreich zu gestalten. Facebook sehe ich als Synonym für die Digitalisierung der Gesellschaft, ob es das Unternehmen in fünf Jahren noch gibt, ist nicht so wichtig.
SCHNEIDER: Richtig ist auf jeden Fall, dass wir das Frontend sehr stark individualisieren und gleichzeitig das Backend hochgradig standardisieren. Das machen uns Facebook, Google oder Amazon vor. (Computerwoche)