Seit bald vier Jahren geht Verdi immer wieder mit Streiks gegen Amazon vor. Weil die Aktionen laut dem Online-Handelsriesen aber oft ohne große Wirkung verpuffen, will die Gewerkschaft 2017 nun eine härtere - und international koordinierte - Gangart einlegen. "Wir haben unsere Hoffnung auf einen Tarifvertrag für die Beschäftigten in Deutschland noch lange nicht begraben", versicherte Thomas Voß im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. "Wir werden einen langen Atem haben."
Der Handelskenner arbeitet in der Berliner Verdi-Zentrale als Bundesfachgruppensekretär im Bereich Versand- und Onlinehandel. Sein Chef, Verdi-Boss Frank Bsirske, mahnte schon früher: "Das ist eine harte Auseinandersetzung, die wird dauern, aber wir bleiben dran."
Im neuen Jahr will Verdi auf europäischer Ebene verstärkt an einer Vernetzung der Gewerkschaften arbeiten, wie Voß erklärte. So soll eine multinationale Streik-Koalition geschmiedet werden. Das Ziel: verhindern, dass Amazon an Streiktagen in Deutschland Bestellvolumen und Arbeitsaufkommen etwa ins benachbarte Polen oder nach Tschechien auslagern kann. "Wir wollen europaweit einen synchronisierten Arbeitskampf. Darauf arbeiten wir 2017 systematisch hin", sagte Voß.
Gewerkschaftstreffen zur besseren Zusammenarbeit finden seit drei Jahren regelmäßig statt. Gemeinsame Aktionen gab es bereits im Mai 2016 im polnischen Breslau und Ende September in Luxemburg.
Auch im vergangenen Jahr versuchte Verdi unverdrossen, Druck auf den Branchenprimus auszuüben. Die Amazon-Streikbilanz 2016: An 55 Tagen sei zum Ausstand aufgerufen worden. An 29 Tagen sei nur ein Standort betroffen, an 26 Tagen seien es gleich mehrere Standorte gewesen.
Die Summe der Streiktage habe sich nicht wesentlich verändert, berichtete Voß. Auch 2015 seien es mehr als 50 Streiktage gewesen. Amazon hingegen kommt in seiner Bilanz für 2015 auf deutlich mehr Streiktage, nämlich 65 - und so zu einer deutlichen Abnahme 2016.
Unstrittig ist, dass sich die Taktik der Gewerkschaft bereits verändert hat. Früher versuchte Verdi, das Management mit tagelangen Dauerstreiks mürbe zu machen. So sollte Amazon entnervt an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Im zurückliegenden Jahr probierte es Verdi laut Voß dagegen mit flexiblen, unberechenbaren Aktionen.
"Wir haben gestreikt, wenn wir an Standorten von vielen Bestellungen und ausgedünnten Schichten wussten", verriet Voß. "Die neue Taktik hat sich als wirksamer erwiesen - auch, weil Amazon für mögliche Streiks Ersatzpersonal vorhält, das dann oft doch nicht gebraucht wird. Das verursacht hohe Kosten." Amazon zeigt sich aber unbeeindruckt: Man habe das Versprechen pünktlicher Lieferungen stets eingehalten. Zudem habe nur ein Bruchteil der Angestellten überhaupt an den Ausständen teilgenommen. Auslieferung trotz Streik-Störungen - das ist laut Amazon möglich, weil ein europäisches Netzwerk mit 31 Logistikzentren in sieben Ländern genutzt wird.
Der US-Konzern betreibt allein in Deutschland neun Logistikzentren an acht Standorten, der größte liegt im osthessischen Bad Hersfeld mit zwei Warenlagern. 11 000 Festangestellte arbeiten bundesweit für das Unternehmen. 2016 schuf Amazon nach eigenen Angaben 800 unbefristete Arbeitsplätze in Deutschland. Und der Wachstumskurs hält an: Amazon verkündete bereits den Aufbau neuer Standorte: in Dortmund und Werne (NRW), Frankenthal (Rheinland-Pfalz) und Winsen (Niedersachsen).
Der Kern des Streits ist unverändert: Verdi fordert, die Blockade gegen Tarifverhandlungen aufzugeben. Die Gewerkschaft verlangt einen Tarifvertrag nach den Bedingungen des Einzel- und Versandhandels. Amazon weigert sich, sieht sich als Logistiker und verweist auf eine Bezahlung am oberen Ende des Branchenüblichen. Deswegen kommt es seit Mai 2013 immer wieder zu Streiks. Die Amerikaner sehen keinen Anlass für ein Einlenken. "Wir beweisen jeden Tag aufs Neue, dass man auch ohne Tarifvertrag ein fairer und verantwortungsvoller Arbeitgeber sein kann", meint Ulrike Leikeb aus der Amazon-Deutschland-Zentrale in München. "Amazon und Verdi passen nicht zusammen."
Dieser Eindruck hat sich beim Handelsexperten Gerrit Heinemann schon lange verfestigt. "Mit den Streiks bei Amazon hat Verdi rein gar nichts erreicht", sagt der Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Niederrhein. "Die Gewerkschaft beißt sich an dem Handelsriesen die Zähne aus. Denn Amazon kann mit Leiharbeitern auf die Streiks reagieren und die Bestellungen der Kunden auch über Versandlager im benachbarten Ausland abwickeln." Er kenne Zahlen, wonach die Lieferqualität sich überhaupt nicht verschlechtert habe.
Dass Verdi mit anderen Gewerkschaften an Amazon-Standorten im Ausland eine Art multinationale Streikfront bilden kann, hält Heinemann für unrealistisch: "Die Koordinierung ist ja schon in Deutschland schwierig. Es spricht wenig dafür, dass Verdi eine schlagkräftige Zusammenarbeit mit ausländischen Gewerkschaften gelingt." Man müsse aufpassen, dass Amazon nicht sogar Jobs ins Ausland verlagere. (Jörn Perske, dpa/ib)