Viele können es sich schon gar nicht mehr vorstellen: Im Wartezimmer des Doktors, an Bushaltestellen und auf Amtsstuben verbrachte man früher geraume Zeit mit Warten. Warten im Sinne von Nichtstun. Gegen die Wand starren. In den Himmel schauen. Andere Leute beobachten. Ausharren und sich in Geduld üben.
Heute gibt es das praktisch nicht mehr, weil nahezu jeder mit einem Smartphone ausgestattet ist und sich die Zeit mit Surfen, Chatten oder Spielen vertreibt. Das Ende der Langeweile – eine Erlösung?
Ohne Zweifel: Das Warten konnte quälend sein. Zum Beispiel beim Zahnarzt, da ist man heute für die Ablenkung dankbar. Und doch meint der Philosoph Stefan Gosepath: "Wenn wir das Warten verlernen würden, wäre das ein kultureller Verlust."
Warten können hat etwas mit Selbstdisziplin zu tun. Heute können viele noch nicht mal fünf Minuten an der Supermarktkasse warten, ohne das Handy zu zücken. Und wenn das aus irgendeinem Grund nicht gehen sollte – kein Empfang, Hände voll – dann werden sie ganz ungeduldig.
Warten heißt nachdenken
"Das Warten – so unangenehm es sein konnte – hatte etwas Positives", meint der Kommunikationswissenschaftler Peter Vorderer von der Universität Mannheim. "Das war dieses Moment der Kontemplation. Ein Moment der Pause. Man ließ die Welt auf sich wirken. Man konnte nachdenken. Dass das verschwindet, ist sicherlich ein Problem. Das wird etwas sein, das uns nachhaltig verändern wird."
Zum einen kann es das Denken beeinträchtigen. Von Kindern weiß man, dass sie nicht kreativ sein können, wenn sie jeden Tag ein vollgepacktes Programm haben. Sie brauchen die Langeweile, um selbst Ideen zu entwickeln. Erwachsene dürften da nicht so viel anders sein.
"In der Erfahrung des Wartens kann eine Chance liegen", meint Gosepath, Professor an der Freien Universität Berlin. "Man braucht die Phasen des Nichtstuns, auch der Langeweile, zum Beispiel während einer Fahrt in der U-Bahn, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Was man sonst fast nur beim Psychotherapeuten hat."
Man schaut aus dem Fenster, die Gedanken gleiten weg – und plötzlich hat man einen guten Einfall. Plötzlich weiß man, wie man etwas anpacken muss. "Das ist natürlich nicht garantiert, aber wenn man keine Gelegenheiten schafft für solche Gedanken, dann kommen sie auch nicht", sagt Gosepath. "Man muss ihnen Raum geben."
Warten heißt genau hinschauen
Doch nicht nur das Denken, auch das Sehen könnte an Qualität verlieren, wenn das Warten vollends abgeschafft wird. Es geht um die Fähigkeit, genau hinzuschauen. Wenn man früher Morgen für Morgen an derselben Haltestelle wartete, fielen einem kleinste Veränderungen auf. Die Frau, die auch jeden Morgen da stand, trug einen neuen Mantel. Die Leute von gegenüber hatten andere Vorhänge. Der Kirschbaum bekam erste Knospen.
War es eine Straße, die man weit einsehen konnte, versuchte man, den Bus schon möglichst früh zu erkennen. "Da kommt er!" – "Nee, das ist nicht der 42er, das ist die 22!" Solche Dialoge an der Haltestelle sind ausgestorben. Heute schauen viele noch nicht mal beim Einsteigen vom Display auf.
Schon äußern Galeristen auf der Kunstmesse Art Cologne die Befürchtung, dass die heranwachsende Generation das Bildersammeln verlernen könnte – weil sie es eben nicht mehr gewohnt ist, immer wieder denselben Anblick zu ertragen. Die Bilder müssen im Sekundentakt wechseln.
Vorderer glaubt allerdings, dass das Warten ein Comeback erleben wird. "Ich bin davon überzeugt, dass wir uns diese Momente des Wartens zurückholen werden. Die Zunahme von Kommunikation in Situationen, an denen man bisher nicht kommuniziert hat – oder nur mit seinem direkten Gegenüber kommuniziert hat - ist so dramatisch, dass es hier unweigerlich eine Gegenreaktion geben muss." (dpa/tö)