Plötzlich zückt der junge Mann eine Waffe. "Wir sind hier im Keyboard-Cowboyland!", brüllt er noch, schon trifft ihn das Geschoss des Gegners an der Schulter. Das Plastikteil aus der orangeblauen Spielzeug-Pistole trudelt zu Boden, das Lachen der Softwareentwickler steigt zur hohen Decke des großen Büros. "Softwareentwicklung ist eben ein kreativer Prozess", versichert Thomas Bunn.
Bunn arbeitet bei MovingImage24. Das Unternehmen entwickelt und vertreibt Video-Streaming-, Video-Hosting- und Video-Management-Lösungen für Business-Kunden, nach eigenen Worten als Marktführer. Konzerne von der Allianz über Henkel bis zu VW nutzen dieses Angebot. Firmensitz ist - wie könnte es anders sein - Berlin. Bunn stellt sich ans Bürofenster und deutet auf die Aussicht. "Direkt an der Spree. Hier kann man überall geil essen gehen", schildert der junge Mann die Vorteile seines Arbeitgebers.
Sie scheinen zu überzeugen. Fachkräftemangel? Knappheit an IT-Talenten? Natürlich kennt Erdal Ahlatci, Geschäftsführer von MovingImage24, solche Klagen - und kann es sich leisten, mit den Schultern zu zucken. "80 Prozent unserer neuen Mitarbeiter kommen über die Empfehlung von Kollegen, die bereits bei uns tätig sind", sagt er.
Über Geld funktioniert das nicht. "In dem Punkt können wir mit Google oder BMW nicht mithalten", erklärt Ahlatci offen. Er argumentiert anders: "Bei uns kann man mitgestalten." Wer bei MovingImage24 einsteige, könne etwas bewegen, etwas machen.
Neue Mitarbeiter müssen offen sein
Damit das fachlich Richtige gemacht wird, redet das Team, in dem der Bewerber gegebenenfalls arbeiten wird, bei der Einstellung mit. Mindestens drei, manchmal vier Gespräche gehen jeder Neueinstellung voraus. Ahlatci selbst, die Personalentscheider und eben die Fachabteilung sehen sich den Kandidaten an. "Beim ersten Kennenlernen geht es zunächst einmal darum, zu gucken, ob wir von der Persönlichkeit her zusammenpassen", erklärt der Geschäftsführer. Sein Lieblingswort dabei ist "Offenheit". Wirkt jemand kommunikativ und kritikfähig, wach und aufgeschlossen, geht es in der zweiten Runde um das Fachliche. Das dritte Gespräch, in dem die Einzelheiten geklärt werden, findet meist bei einem gemeinsamen Mittagessen statt.
Mehr als 80 Menschen arbeiten heute für MovingImage24. Stichwort Offenheit: die Social Skills, die Ahlatci in seinem Team braucht, lassen sich auch unter "agiles Arbeiten" subsumieren. Typisch dafür sind beispielsweise die Sprints. Das heißt: der Product-Owner definiert gegenüber dem Team, welche Anforderungen für einen bestimmten Kundenauftrag zu erfüllen sind. Er legt das "Was" fest. Binnen 14 Tagen arbeitet das Team selbstständig das "Wie" aus, wer also beispielsweise welche Rolle übernehmen und welche Funktionen erfüllen wird. Dann wird präsentiert.
Nach diesen 14-tägigen Sprints funktioniert die gesamte Firma. Alle zwei Wochen steht ein Projekt auf dem Prüfstand, gegebenenfalls werden Prozesse neu justiert oder Aufgaben neu verteilt. MovingImage24 orientiert sich dabei an Scrum. "Wir halten aber nicht sklavisch an irgendeinem Handbuch fest", sagt Ahlatci. "Wir ändern das Regelwerk so ab, dass es zu unserem Unternehmen passt."
Nicht jeder kann bei diesem Tempo mithalten
Ein Tempo, bei dem allerdings nicht jeder mithalten kann. Voriges Jahr habe man einen Mitarbeiter verloren, berichtet der Geschäftsführer. Der Mann empfand die vielen schnellen Richtungswechsel als Fehlentscheidungen und das Stichwort von der Agilität als vorgeschoben. Ahlatci sagt, da hätten die Mentalitäten dann eben doch nicht gepasst. Der ehemalige Kollege hatte zuvor bei einem stark hierarchisch geprägten Unternehmen gearbeitet.
Glaubt man dem Geschäftsführer, sind solche Vorfälle die Ausnahme. Die Fluktuation sei niedrig, betont er. Beim Arbeitgeberbewertungs-Portal Kununu verzeichnet MovingImage24 aktuell 59 Bewertungen, im Schnitt gibt es vier von fünf möglichen Sternen. Für die Mitarbeiterbindung bekommt jeder Neue in dem Unternehmen einen Mentor an die Seite gestellt. Dieser ist aber nur für die soziale Begleitung zuständig, die fachliche übernimmt das Team. Um Abteilungsblindheit zu vermeiden, stammen Mentor und Mentee aus verschiedenen Teams, etwa Sales und IT. Eine solche Begleitung kann zwei Wochen dauern - oder auch ein Jahr. Ganz nach Bedarf.
Ahlatcis Ziel ist, dass jeder Neue nach zwei, drei Wochen mitgestalten kann. Verantwortung hat für ihn wenig mit Haftung zu tun und viel mit Engagement. Eines der schönsten Komplimente, die er über seine Firma hört, sind denn auch Aussagen wie: "Ich habe hier in zwei Monaten mehr Verantwortung gehabt als in drei Jahren Ausbildung vorher." Ein Praktikant sagte das.
Eben diese Gestaltungsfreiheit scheinen die Mitarbeiter zu schätzen. Bei Softwareentwickler Bunn klingt das dann so: "Es ist immer wieder schön, bei der Software, an der man arbeitet, zu sehen, wie das Kind langsam entsteht. Wie es immer mehr lernt, damit es dann immer mehr kann."
Immer mehr können, das hat sich der Geschäftsführer selbst als Lebensmotto gesetzt. Ahlatci ist Jahrgang 1971. Sein Vater kam als Gastarbeiter aus der Türkei ins bayerische Deggendorf. Er hatte sich vorgenommen, hart zu arbeiten und als wohlhabender Mann in die Heimat zurückzukehren. "Da wurde nichts draus", grinst Ahlatci. Er selbst war als Junge auch in diesem Geiste aufgewachsen - viel zu arbeiten und Geld zu verdienen. Und so startete er nach dem Hauptschulabschluss als Arbeiter am Fließband bei BMW. Nach einer Lehre zum Elektro-Installateur wagte Ahlatci den Sprung in die Selbstständigkeit und machte in Deggendorf, für ihn längst sein Zuhause, eine Kneipe auf. Parallel dazu lernte er Restaurantfachmann. Mit fast 30 wiederum gab er seinem Leben erneut eine andere Wendung und studierte Medien-Informatik. So kam er 2011 nach verschiedenen Stationen als Web-Designer und Software-Entwickler zu MovingImage24.
"MovingImage24 ist wie Berlin, genauso bunt"
Dass ein Bewerber bei dem Video-Management-Anbieter keinen geradlinigen Lebenslauf haben muss, versteht sich angesichts Ahlatcis Werdegang von selbst. "MovingImage24 ist wie Berlin", schwärmt er, "genauso bunt." Ein Statement, in dem allerdings Wunschdenken mitschwingt. Wer sich in den schicken Räumen umsieht, findet wenige Frauen, wenige ältere Mitarbeiter. Ahlatci würde das gern ändern. "Bei gleicher Qualifikation der Bewerber ziehe ich Frauen vor", versichert er. Leider gebe es eben wenig Softwareentwicklerinnen.
Grundsätzlich sagt er: "Mich interessiert immer der Mensch." Und so nahm er sich auch für einen Kandidaten Zeit, bei dem sich in kürzester Zeit herausstellte, dass dessen Skills und die Job-Beschreibung wirklich gar nicht zusammen passten. Der Kandidat fand das auch - bat aber darum, noch "einen Moment" bleiben zu dürfen. Der Blick auf die Spree sei so schön. Und der Kaffee so lecker. Da konnte der gelernte Restaurant-Fachmann Ahlatci natürlich nicht Nein sagen. Er blieb einfach noch sitzen und unterhielt sich mit seinem Gast. Aus dem "Moment" wurden eineinhalb Stunden.