Second Life

Virtuelles Wunderland

19.03.2007 von Anja Tiedge
Die gefeierte Online-Welt Second Life bietet Spielern wie Unternehmen scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten, lang gehegte Web-2.0-Fantasien auszuleben. Wir haben die virtuellen Konzernableger besucht und uns auf eine Gratwanderung zwischen Schein und Wirklichkeit begeben.

Angenommen, Ihr Leben wäre langweilig. Sie suchten nach neuen Horizonten, interessanten Herausforderungen, frischen Geschäftsideen. Was würden Sie tun?

Vor wenigen Jahren wurde diese Frage wohl noch mit "Unternehmensberater konsultieren" oder "Psychologen aufsuchen" beantwortet. Heute, in Zeiten des Web 2.0, gibt es eine einfachere und vor allem kostengünstigere Lösung: Sie setzen sich vor den Computer und beschaffen sich einfach und gratis ein spannenderes zweites Leben. Second Life ist nicht nur die englische Übersetzung dafür, sondern auch ein Onlinespiel, das die Gesellschaft momentan umtreibt.

Wie eine gigantische Internet-Welle rollte Second Life im vergangenen Jahr aus Nordamerika auf uns zu und überflutet seitdem das Land. Diejenigen, die heute nicht auf der Welle schwimmen, werden morgen die begossenen Pudel sein oder müssen sich spät und übereilt in die Fluten stürzen - so die Befürchtung.

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Mittlerweile tummeln sich weltweit bereits mehr als vier Millionen Avatare, also virtuelle Personen, deren Namen, Aussehen und Figur von dem Spieler beliebig verändert werden können, in Second Life. Jede Stunde kommen mehrere Tausend hinzu. Wie viele sogenannte Unique Residents das sind, also echte Spieler vor dem Rechner, ist fraglich, denn jeder Spieler kann beliebig viele Avatare erschaffen. Hinzu kommt, dass es vermutlich viele Karteileichen gibt, die sich anmelden und Second Life einmal testen, um sich danach wieder in das virtuelle Nirvana zu verabschieden.

Offiziell hat sich etwa ein Drittel aller Second-Life-Nutzer in den letzten 60 Tagen eingeloggt. Insider vermuten aber, dass nur gut zehn Prozent aller Bewohner solche Nutzer sind, die regelmäßig ein Doppelleben führen. Das wären immerhin mehr als 400.000 aktive Spieler.

Die Möglichkeiten im zweiten Leben ähneln denen im ersten - und gehen noch weiter. Denn neben alltäglichen Dingen wie arbeiten, Geschäfte abwickeln und tanzen gehen können die Avatare fliegen, sich auf eine entfernte Insel "teleportieren" oder eine tierische Gestalt annehmen. Jeder kann machen, was er in der Realität nicht zu träumen wagt und sein, was er im ersten Leben schon immer werden wollte: erfolgreicher Unternehmer, Prostituierte oder einfach nur das andere Geschlecht.

Kundengespräche in virtuellen Filialen

Die Anmeldung für das vermeintliche Wunderland ist grundsätzlich kostenfrei. Wer Land, Designerkleidung, eine schicke Wohnung kaufen oder in Second Life Geld verdienen möchte, muss sich jedoch einen "Premium Account" für zehn US-Dollar im Monat zulegen und eine nach Größe des Immobilienbesitzes gestaffelte Pachtgebühr bezahlen.

Das offizielle Zahlungsmittel ist der Linden-Dollar, der nach dem kalifornischen Unternehmen Linden Lab benannt ist, das die Online-Landschaft 2003 entwickelt hat. Um an das Spielgeld zu kommen, muss zunächst echtes Geld berappt werden: Für einen US-Dollar gibt es momentan rund 270 Linden-Dollar; der Kurs wird jedoch ständig neu berechnet.

Wo eine Internet-Plattform die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit generiert, lassen Marketing-Strategen nicht lange auf sich warten. Seit Aufkommen des Web 2.0, des nutzergenerierten Internets, gibt es zahlreiche Versuche, es zu Gold zu machen. In Second Life sehen viele Unternehmen nun die ultimative Chance, eine begehrte Zielgruppe zu erreichen und mit ihr in Interaktion zu treten: Laut einer Statistik von Linden Lab wird das virtuelle Land überwiegend von 25- bis 34-Jährigen bevölkert. Knapp 40 Prozent aller Second-Life-Nutzer gehören dieser Altersgruppe an.

Amerikanische Konzerne sowie immer mehr deutsche Unternehmen gehen deshalb in die Offensive. Firmen wie IBM , Dell , BMW , Adidas und seit Neuestem Mercedes-Benz sehen Second Life als Chance, sich fernab der Homepage den potenziellen Käufern online zu präsentieren. Sie haben Inseln gekauft und mit ihren Filialen bebaut, um die Avatare in der virtuellen Welt von den Produkten zu begeistern, die im realen Leben angeboten werden. Die Simulation wird auch als Plattform für Kundengespräche genutzt. Immer mehr Unternehmen beschäftigen im wahren Leben Mitarbeiter, die ihre Arbeitszeit in Second Life verbringen und dort die einfliegenden Avatare persönlich begrüßen, ihre Fragen beantworten und ihnen die Produkte vorführen.

Und wie im echten Leben lassen sich die Konzerne etwas einfallen, um die virtuellen Bewohner in ihre Filialen zu locken. Der Energiekonzern Energie Baden-Württemberg (EnBW ) beispielsweise hat eine eigene Arena errichtet, die allerdings eher wie ein aufgemöbelter Dorfsportplatz anmutet. Damit jedoch nicht genug. Für die Promotions-Kampagne "Neue Trikots braucht das Land" wurden tausende T-Shirts an Avatare verteilt, die diese wiederum an andere Second-Life-Bewohner weitergeben sollten. Für jedes verteilte Kleidungsstück waren zehn Linden-Dollar zu verdienen.

Heuschrecken mit T-Shirts

Die Aktion sorgte wie beabsichtigt bei vielen Spielern für Entzückung - andere probten hingegen nach einigen Wochen den Aufstand: "Wie die Heuschrecken stürzten sie sich auf uns und wollten unbedingt ihre T-Shirts loswerden", erzählt ein Spieler wütend. Wie ihm ging es Tausenden. Doch EnBW lässt sich dadurch nicht beirren. "Natürlich haben wir auch die Kritik wahrgenommen. Dafür haben wir ein Diskussionsforum eingerichet", sagt EnBW-Sprecher Ulrich Schröder. Der Bekanntheitsgrad von EnBW sei durch den Auftritt in Second Life definitiv größer geworden.

BMW hat mit der Bekanntheit dagegen scheinbar einige Probleme, denn auf der unternehmenseigenen Insel herrscht gähnende Leere. Die Gäste werden automatisch willkommen geheißen mit der Entschuldigung, dass der Gast leider nicht persönlich begrüßt werden könne. Nach einigen Minuten schwebt doch noch ein Unternehmensvertreter in Form eines gut gebauten Avatars mit dem komplizierten Namen "BMW Officer Munich Express" ein und erkundigt sich nach dem Befinden. Zum Glück ist es sein Job, die Besucher zu umgarnen, denn wie sollte man ihn auch ansprechen? "Mister Officer" oder vielleicht "BMW Officer"?

Das Unternehmen wolle auf der Insel sein Clean Energy Konzept vorstellen, sagt er. Das erklärt die Windräder, die in Sichtweite im Meer stehen und die Delfine, die im Wasser um die Wette hüpfen. Eine Teststrecke für die unternehmenseigenen Autos gebe es zwar noch nicht, sei aber in Planung. Da weit und breit kein Avatar zu sehen ist, bleibt eine Frage unvermeidlich: "Wo sind denn alle?". "Über den Tag gesehen sind schon ziemlich viele da", antwortet der Mitarbeiter. Second Life werde schließlich in allen Zeitzonen gespielt.

Bei der Konkurrenz herrscht zur gleichen Zeit mehr Rummel. Das ist nicht verwunderlich, denn die Insel von Mercedes-Benz existiert erst wenige Tage, und die Avatare sind gespannt, was es Neues zu entdecken gibt. Außerdem gibt es etwas umsonst: einen kostenlosen Rennanzug. Die dazu passende Rennstrecke fehlt aber auch hier. Sie soll im März mit der Enthüllung der neuen C-Klasse eröffnet werden.

"Wir verkaufen unsere Autos im ersten Leben - aber Second Life bietet eine tolle Möglichkeit, mit potenziellen Kunden in Kontakt zu treten und ein Gespür dafür zu bekommen, wie unser Produkt ankommt", erklärt eine Mercedes-Sprecherin das Engagement des Unternehmens in Second Life. Zur Eröffnung der Insel gab die deutsche Newcomerband "Wagner Love" ein Livekonzert. "Pretty neat", antwortet ein Avatar mit Hundegesicht und Flügeln auf dem Rücken auf die Frage, wie das Eröffnungskonzert bei Mercedes war. "Ganz ordentlich" also.

Die Antwort macht wieder einmal deutlich: Um sich ungezwungen in Second Life bewegen zu können, ist es von Vorteil, Englisch zu sprechen. Der Großteil der Spieler, nämlich mehr als 30 Prozent, kommt nach Angaben von Linden Lab aus den USA. Auch Befehle und Erklärungen sind größtenteils englisch. Die Deutschen rangieren mit gut zehn Prozent der Spieler nach den Franzosen an dritter Stelle.

Experimentelle Plattform

Mit Angaben, wie viel Planung und Durchführung eines Auftritts bei Second Life kosten, halten sich die Unternehmen bedeckt. Ohnehin ist eine Außenstelle im zweiten Leben für viele Konzerne eher eine Image-Frage als der Versuch, den Umsatz anzukurbeln. "Second Life wird von den Unternehmen hauptsächlich als experimentelle Plattform genutzt. Sie möchten herausfinden, wie das Web 2.0 funktioniert und wie seine Nutzer angesprochen werden können", sagt Stefan Weiß von Future Lab, einer Unternehmensberatung für Neue Medien. Er hat sich auf Second Life spezialisiert und bietet im echten Leben Seminare zum Thema an.

"Die emotionale Tiefe, die bei der Zielgruppe durch das Web 2.0 erreicht werden kann, ist im normalen Internet nicht möglich", meint Weiß. Er warnt aber auch vor falschen Hoffnungen, die momentan durch den Hype um Second Life geschürt werden. "Das Spiel ist kein Wunderland, in das man hineingeht, schnelles Geld verdient und dann reich wieder herauskommt."

Vorbild für alle, die spielend reich werden wollen, ist Anshe Chung. Im richtigen Leben heißt die medienaffine Wunderfrau Ailin Gräf. Die 33-Jährige hat mit Grundstücks- und Immobiliengeschäften so viele Linden-Dollar verdient, dass sie umgerechnet eine Million US-Dollar wert sind - vorausgesetzt, sie würde das Geld tatsächlich umtauschen.

Nach eigener Aussage hat sie dies bisher nur zum Teil getan und baute von dem Geld ein eigenes Unternehmen, die Anshe Chung Studios (ACS), in China auf. Rund 50 Mitarbeiter engagiert sie dort zurzeit. Sie entwerfen und programmieren virtuelle Landschaften, Häuser und Kleidung.

Chung zufolge ist ihr Unternehmen profitabel und kann ein monatliches Wachstum von zehn Prozent vorweisen. Das lässt auch erfahrene Investoren nicht kalt. Erst kürzlich gaben die Samwer-Brüder bekannt, dass sie sich über ihre Beteiligungsgesellschaft European Founders mit zehn Prozent an dem Unternehmen beteiligen. Die drei Brüder Alexander, Marc und Oliver Samwer gründeten bereits die deutsche Ebay-Vorgängergesellschaft Alando und das Handyportal Jamba und verkauften diese gewinnbringend. Momentan investieren sie auch in Internet-Unternehmen wie StudiVZ oder LinkedIn.

Die Grenze zwischen Schein und Sein

Anshe Chung will sich von Second Life unabhängig machen - oder ist es doch Ailin Gräf? Die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit verschwimmen im Spiel. So auch während eines Gesprächs mit dem Gräf-Avatar in einem virtuellen Glaspalast in Second Life - natürlich made by ACS.

Chung möchte zwar nicht mehr als Anhängsel von Second Life begriffen werden. Trotzdem stellt sie gleich zu Anfang klar: "Ich bin Anshe, eine virtuelle Persönlichkeit". Im nächsten Moment wiederum plaudert der virtuelle Gesprächspartner über die Mitarbeiter der ACS, die aus Fleisch und Blut sind, im chinesischen Wuhan sitzen und deren Chefin sie ist. Ja, wie denn nun? Einen Real-Lifer, wie sie die Menschen aus dem "ersten" Leben nennt, kann das schon mal verwirren.

Auch die Technik bringt so manchen Avatar und mit ihm den Spieler vor dem Rechner zur Verzweiflung. Es kommt vor, dass das Gegenüber plötzlich in nicht enden wollende Zuckungen verfällt oder das Programm vollständig abstürzt. Von Zeit zu Zeit schließt die virtuelle Welt auch ihre Tore. Dann wird das zweite Leben zur besten mitteleuropäischen Zeit für mehrere Stunden dichtgemacht - wegen Umbau geschlossen. "Durch das enorme Wachstum kommt die Technik nicht mit", erklärt auch Second-Life-Experte Weiß.

Hinzu kommen Probleme, die durch Hacker verursacht werden. Second-Life-Prominente wie Anshe Chung haben solche Angriffe schon am eigenen virtuellen Leib zu spüren bekommen: Während einer Pressekonferenz schwebten plötzlich männliche Geschlechtsteile auf sie zu. "Der Angriff diente dazu, Aufmerksamkeit zu erheischen", meint Chung. "Ich hätte den Vorfall lieber ignoriert."

Wer die Online-Landschaft als Geschäftsplattform nutzt, kann derartige Probleme allerdings nicht ignorieren, sondern sollte sich bewusst sein, dass der Weg vom gefeierten Neuankömmling zur Zielscheibe virtueller Angriffe kurz ist. "Hier gibt es Intrigen und andere Dinge, die auch im echten Leben passieren - nur manchmal noch hemmungsloser", warnt Chung. Im Reiz von Second Life lauert offenbar auch seine Gefahr: Die simulierte Welt ist unberechenbar.