Der Werksschutz kennt kein Pardon. Routiniert machen die Mitarbeiter ihre Runde durch Flure der MAN Holding in München. Um 22 Uhr schließen sie die Räume ab, und alle Mitarbeiter müssen das Haus verlassen. Schließlich sitzt hier auch der gesamte Holding-Vorstand des Lkw-Herstellers MAN, der zum Volkswagen-Konzern gehört.
Das wussten die Mitarbeiter des gerade neu gegründeten Data Labs von Volkswagen nicht, als sie in der ersten Woche ihre Arbeit aufgenommen hatten. Allerdings wussten sie, was jetzt zu tun war. Vier Mitarbeiter setzten sich in einen Golf und fuhren alle Wege rund um die Holding ab. Als sie die Stelle mit dem besten Wifi-Empfang gefunden hatten, arbeiteten sie im Auto mit ihren Laptops auf dem Schoß weiter. Auf diesem Parkplatz stand danach jeden Abend der Golf.
Anders ticken als die Konzern-IT
Im Data Lab läuft noch viel mehr anders, und das ist auch so gewollt. "Wir haben entschieden, ein Lab in München aufzubauen, das anders tickt als die IT in Großkonzernen", erklärt Volkswagen-CIO Martin Hofmann. Deswegen hat er sich auch schon mal seinen Schlips abgebunden - das Lab ist krawattenfreie Zone. Zusammen mit der Lab-Leiterin Cornelia Schaurecker sitzen wir in einem kleinen gläsernen Konferenzraum mitten im Lab. Direkt nebenan stehen und hocken 20 Leute in einem Glaskubus und diskutieren über ein Projekt. "Anders ticken heißt, wir wollen experimentell arbeiten und wie ein Startup agieren, das sehr schnell und agil an Themen herangeht. Und das mit einer hohen Fehlertoleranz: Alles wird probiert. Wenn etwas nicht funktioniert, geht's in die Tonne", führt Hofmann aus.
Ein spezialisiertes Beratungsunternehmen half, das Lab wie ein Startup aufzubauen: von der Kultur, Arbeits- und Denkweise her. Zudem wollte Volkswagen die besten Mitarbeiter am Markt für sich gewinnen, weshalb sich die IT nach einer Analyse für den Standort München entschied.
Synergien fehlten
Gut eineinhalb Jahre dauerte es von den ersten Ideen im Frühjahr 2013 bis zur offiziellen Eröffnung im November 2014. Zwar liefen schon lange viele BI- und Big-Data-Projekte in den einzelnen Konzerngesellschaften, Synergien ergaben sich dadurch aber kaum. Deshalb fiel die Entscheidung, diese Aktivitäten an einem zentralen Ort zu bündeln. "Wenn wir einen richtigen Sprung machen und das Thema systematisch ausrollen wollen, geht das nur mit vereinten Kräften", sagt Hofmann.
Im Lab versammelt Volkswagen nun alle Kompetenzen rund um das Thema Data Analytics. Hier arbeiten je nach Projekt mehrere Dutzend interne und externe Data Scientists, Robotikspezialisten, Wissenschaftler und Experten aller Fachrichtungen zusammen. "Das ist geballte Kompetenz, zum Beispiel in Statistik, Mathematik, Informatik und BWL. Unsere interdisziplinären Teams ergänzen sich hervorragend", sagt Cornelia Schaurecker.
Was kann Google nicht?
Die Spezialisten sollen IT-Lösungen für die aktuellen Hype-Themen wie Big Data und Internet of Things entwickeln. Denn neue Wettbewerber sind aufgetreten, die den Autobauern Marktanteile streitig machen wollen. Die Digitalisierung bedroht bisherige Geschäftsmodelle. "Wir fragen uns immer: Was können wir, was Google nicht kann?", formuliert Hofmann den Anspruch.
Man kann die Frage auch abwandeln: Was hat ein Autobauer wie Volkswagen, was Google nicht hat? Und das sind die Fahrzeugdaten. Smartphone-Daten reichten für viele Anwendungen nicht, erläutert Hofmann. So arbeiten beispielsweise die Data Scientists an Apps, die frühzeitig erkennen, wo ein Parkplatz in der Stadt frei wird.
Aber nicht nur Mitarbeiter von Technologieanbietern kommen immer wieder temporär ins Lab. Auch Leute von Startups oder aus der Wissenschaft schauen für ein paar Wochen vorbei. Wenn das Lab eine Technik nicht hat, dann lädt es sich ein Startup ein und erarbeitet mit ihm Lösungswege. "Technische Restriktionen wie vor zehn Jahren gibt es nicht mehr. Was heute zählt, sind clevere Ideen", sagt Hofmann.
Und wenn es sehr gut läuft, dann schafft ein getestetes Tool auch den Weg ins Business, wie beispielsweise bei der Fehlerfrüherkennung. Kommt ein Kunde mit einer Beanstandung zu einem der Händler, gibt der Händler die Daten in seinen Rechner ein. Jährlich kommen so einige Millionen Meldungen zustande.
Machine-Learning-Tool im Rollout
Ein Tool erkennt nun durch automatische Übersetzungen der Landessprachen, durch Matching von Begriffen und durch statistische Analyse, ob sich im Markt ein Thema aufbaut. Wenn das System Auffälligkeiten frühzeitig erkennt, kann der Autohersteller schneller reagieren. "Wir haben das mit einem Machine-Learning-System umgesetzt. Damit haben wir den Analysezeitraum von mehreren Monaten auf wenige Wochen verkürzt", erklärt Hofmann. Das vom Data Lab entwickelte System wird gerade in den Konzern überführt, in den Rollout investiert Volkswagen viel Geld: mehrere Millionen Euro.
Klar ist aber auch: Das Lab entwickelt einen ersten Prototypen. Doch bevor er in Serie geht, muss er die üblichen Tests und Qualitätssicherungen bestehen. Stabile Systeme sind Pflicht: "Unsere weltweit 119 Werke müssen unterbrechungsfrei arbeiten. Dasselbe gilt für die Systeme bei unseren Händlern und Zulieferern", betont Hofmann. Im Lab selbst haben die Mitarbeiter aber viele Freiheiten: "Die Leute dürfen hier Fehler machen - und sollen daraus lernen." Deswegen hat der Wolfsburger Autokonzern auch die klassische IT vom experimentellen Lab getrennt. "Nach vielen Gesprächen mit Experten und Beratern bin ich der festen Überzeugung: Es geht nur mit einer zweigleisigen Organisation", sagt Hofmann. Oder auf Neudeutsch: einer Two-Speed-Organisation.
Seine Begründung: In der klassischen IT der Autobauer drehe es sich um hochverfügbare Systeme, die konstant und zuverlässig arbeiten müssten. Deshalb lasse die IT dort der Technologieentwicklung bewusst etwas Vorsprung, weil die Systeme etabliert sein und stabil laufen müssten. Da gebe es keine Kompromisse.
Hürden der Two-Speed-Organisation
Eine Two-Speed-Organisation bietet allerdings auch Reibungsfläche. Die Leute aus der "neuen IT-Welt" stehen auf der Bühne und präsentieren ihre hippen Projekte im Rampenlicht, während Mitarbeiter aus der "alten IT-Welt" viel weniger wahrgenommen werden. Das weiß auch Konzern-CIO Hofmann und stellt klar: "Es gibt keine Mitarbeiter zweiter Klasse. Jeder ist wichtig. Und jeder bringt das Unternehmen mit seiner Aufgabe voran. Denn nur gemeinsam arbeitet die IT als starkes Team.
So kommen immer wieder Leute aus der klassischen IT ins Lab, wo sie für einige Zeit mitarbeiten. "Wer einmal hier war, ist begeistert. Die Arbeit im Data Lab öffnet den Blick für neue Herangehensweisen. Das wirkt auch auf das eigene Tun", berichtet Cornelia Schaurecker. Letztlich schießen die zeitweiligen Mitarbeiter dann das Tor im Fachbereich, weil sie dort neue Ideen mitbringen und umsetzen.
Ein wichtiger Bestandteil der neuen Arbeitsmethoden besteht im Design Thinking. Kern dieser Methode ist es, den Kunden bedingungslos in den Mittelpunkt zu stellen. Das heißt auch, dass Kunden inzwischen mit in den Workshops sitzen. Das ist neu. ITler und Fachbereich können sich nach Projektstart nun nicht mehr in ihr Kämmerlein zurückziehen. Im Lab arbeitet dafür eigens eine Design-Thinking-Coachin für die Mitarbeiter.
Der Kunde muss begeistert sein
Im Zentrum steht immer die Frage: Brauchst du das, was bringt dir das? "Wenn vom Kunden kein Hurra kommt, wird die Anforderung schon in der Diskussion gestrichen", erklärt Hofmann. So sollen Tools nicht mit überflüssigen Funktionen überfrachtet werden: "Dank Design Thinking und agiler Softwareentwicklung wie Scrum oder Extreme Programming vermeiden wir unnötigen Ballast.
Im Lab durchläuft ein Großteil aller Projekte eine vorgelagerte Design-Thinking-Phase, wie man es auch an den Postern überall an den Wänden des Labs sehen kann. "Damit erkennen wir schnell, was wir in einem Projekt erreichen und wie wir uns organisieren wollen", erklärt Schaurecker. Und das Wichtigste: "Am Ende ist das Produkt ein Teamergebnis und nicht die Idee eines Einzelnen.
"Volkswagen plant drei weitere Labs - in Berlin, Peking und San Francisco. Insgesamt sollen dort 300 Mitarbeiter beschäftigt werden. Während in München die Data Scientists sitzen, sollen die Kollegen in San Francisco das Silicon Valley nach interessanten Startups durchkämmen, das Prototyping für neue Technologien übernehmen sowie digitale Retail-Lösungen entwickeln und Trends aufspüren. In Peking wiederum soll ein Team aus Wissenschaftlern und Entwicklern entstehen, das die Lösungen aus den Labs in München, San Francisco und Berlin weiterentwickelt.
Größter Fahrzeugleitstand in Berlin
Im Berliner Lab, das in diesem Sommer eröffnet werden soll, wollen die Wolfsburger den größten Fahrzeugleitstand der Automobilbranche bauen. Dort sollen verkehrsrelevante Informationen zusammengeführt werden, die von vernetzten Fahrzeugen produziert werden. Eine der Visionen: Wenn beispielsweise ein Autofahrer auf dem Weg zum Flughafen in Hannover auf der A2 im Stau steckt, wird er automatisch bei seiner Fluggesellschaft auf den späteren Flug umgebucht. Auch vor Staus oder Glatteis würde das System warnen. Zudem soll es bei Car-Sharing-Angeboten helfen oder die Parkplatzsuche unterstützen. "All das ist eine wichtige Vorstufe zum autonomen Fahren", sagt Lab-Leiterin Schaurecker.
Nicht nur Volkswagens IT-Organisation und das Management sehen die Data Labs als wichtige Forschungslabore für die Zukunft an. Auch die Mitarbeitervertretung unterstützt sie. "Ohne Betriebsrat würde es uns nicht geben, dafür bin ich den Kollegen sehr dankbar", sagt Schaurecker. Der Betriebsrat aus Wolfsburg besucht das Lab alle vier Wochen und finanziert es sogar mit. Denn ihm ist wichtig, dass Volkswagen bei Zukunftsthemen vorne mitspielt.
"Das Auto ist und bleibt der Kern"
Trotz allem ist Hofmann sicher: "Die Entwicklung und Produktion von Autos steht auch in zehn Jahren noch im Zentrum. Das Auto ist und bleibt der Kern." Um diesen Kern herum entständen neue Mobilitätsangebote wie etwa gemanagte Verkehrsinfrastrukturen. "Die IT macht gerade riesige Sprünge nach vorn. Mitunter ist das ein spannender Lernprozess", sagt Hofmann.