Kurz vor der Mittagspause schickt Oberstaatsanwalt Klaus Ziehe das nächste Beben durch den VW-Konzern. Formal mag es nur ein nüchterner juristischer Vorgang sein - aber die potenzielle Sprengkraft ist enorm: Das amtierende Führungsduo des weltgrößten Autokonzerns und dazu auch noch einen Ex-Vorstandschef wegen Verschweigens von Milliardenrisiken anzuklagen, ist selbst unter erfahrenen Ermittlern kein alltägliches Geschäft.
Herbert Diess, Hans Dieter Pötsch, Martin Winterkorn - diese drei Namen stehen für das aktuelle sowie ehemalige Machtzentrum von Volkswagen. Und nun tauchen sie zusammen in einer 636 Seiten dicken Anklageschrift auf. Nach mehr als drei Jahren Aktenwälzen und zahllosen Zeugenbefragungen sind die Braunschweiger Strafverfolger mit ihren Kollegen aus dem Landeskriminalamt überzeugt: Die VW-Spitze hat die Aktionäre vor dem Auffliegen der Dieselaffäre im September 2015 nicht rechtzeitig über die massiven Probleme informiert.
Der heutige Chefaufseher Pötsch - damals Finanzvorstand - und heutige Vorstandsvorsitzende Herbert Diess - damals als Chef der Kernmarke frisch vom Wettbewerber BMW geholt - haben den Ermittlern zufolge die Gefahr für den Konzern nicht klar kommuniziert. Vielmehr sollen sie die Strategie verfolgt haben, "ohne Offenlegung aller relevanter Umstände mit den US-Behörden einen Vergleich zu erzielen, in dem in der Wortwahl zwar von technischen Problemen, nicht aber von einem Betrug gegenüber Behörden und Kunden die Rede sein sollte".
Diese Rechnung ging nicht auf - "was angesichts der Verärgerung der US-Behörden über die bis dahin praktizierte Hinhaltetaktik auch zu erwarten war", so die Staatsanwälte. Dabei habe die VW-Führung sich auf einen Schaden von bis zu 39 Milliarden Euro einstellen müssen.
VW hat es nicht geschafft
Als Motiv für die Nutzung der Täuschungssoftware vermuten die Ermittler die 2007 verschärfte US-Umweltgesetzgebung. VW habe es nicht geschafft, einen Dieselmotor zu entwickeln, der die Abgasnormen einhalten konnte. Die Behörden seien dem schon 2014 auf die Schliche gekommen. VW habe klar sein müssen, was sich da zusammenbraute. Im Fall Winterkorns datieren die Ermittler dies auf Mai 2015, bei Pötsch auf den 29. Juni und bei Diess auf den 27. Juli 2015.
Jener 27. Juli war auch der Tag eines Treffens von Führungskräften, bei dem Probleme in den USA zur Sprache gekommen sein sollen. Nur in welcher Detailschärfe - das ist umstritten. VW erklärte, es habe noch keine Hinweise auf illegale Praktiken gegeben. Der Anwalt Pötschs, Norbert Scharf, betont: "Im Sommer 2015 ist schon rein kapitalmarktrechtlich zu keinem Zeitpunkt eine Pflicht zur Information entstanden." Pötsch habe auf Basis der ihm damals vorliegenden Informationen die nötigen Rückstellungen nur als sehr viel kleiner einschätzen können.
Etliche Anleger blieben am Ende dennoch auf hohen Verlusten sitzen, als die VW-Vorzugsaktie im Herbst 2015 binnen weniger Tage teils die Hälfte an Wert einbüßte. Dabei müssen börsennotierte Firmen bei Signalen auf Entwicklungen, die ihren Wert beeinflussen könnten, sofort die Finanzwelt ins Bild setzen. Und Marktmanipulation ist ein Wirtschaftsdelikt, das nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist.
Nicht nur durch falsche Informationen kann der Wertpapierhandel unzulässig beeinflusst werden - auch durch das Unterlassen wichtiger, kursrelevanter Auskünfte. Laut Finanzaufsicht Bafin ist nach den Regelungen des Wertpapierhandelsgesetzes bei Vorsatz hier eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe möglich.
Und nicht nur Pötsch und Diess müssen sich verantworten - auch der lange nahezu unantastbare Winterkorn. Dessen Anwalt Felix Dörr sieht indes keinen Grund dafür. Der Ex-Konzernchef habe nicht mehr wissen können: "Herr Prof. Dr. Winterkorn verließ sich in dieser Situation auf eine korrekte und gesetzeskonforme Arbeit der zuständigen Mitarbeiter sowie auf eine vollständige Berichterstattung an ihn."
Strafverfolger Ziehe und sein Team können sich noch lange nicht zurücklehnen. Das Landgericht Braunschweig muss ihre Anklage erst zulassen. Aber Ziehe hat einen langen Atem und Routine. Am Nachmittag tritt er in Anzug und Krawatte vor die Kameras und Mikrofone, verliest sein Statement - und verschwindet wieder in Richtung seines winzigen Büros. Mehrfach hatte er im Zuge der aufwendigen Ermittlungen mehr Transparenz aufseiten von VW angemahnt.
Vergangenheit bleibt für VW eine Belastung
Für den Autobranchen-Experten Stefan Bratzel ist unabhängig vom Ausgang des Verfahrens klar, dass die VW-Spitze die Tragweite und Auswirkungen der Diesel-Manipulationen völlig unterschätzt hat. Der Professor vom Center of Automotive Management (CAM) bemängelt das vor allem mit Blick auf Winterkorn und Pötsch. "Die Vergangenheit bleibt eine Belastung für die Zukunft von VW", meint er. Strafrechtliche Anklagen und auch der Start der Verbraucherklage für mehr als 430.000 Autobesitzer in der kommenden Woche bedeuteten jedes Mal eine Imagebelastung, weil Verfehlungen im Unternehmen beleuchtet würden.
Der Aufsichtsrat gibt sich einstweilen unbeeindruckt. Man habe Respekt vor der Arbeit der Ermittler. Die Kursturbulenzen hätten aber an der Veröffentlichung der Vorwürfe durch die US-Behörden gelegen - die "erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden und dem Vorstandsvorsitzenden" werde daher fortgesetzt. (dpa/rs)