Für Zehntausende Diesel-Fahrer ist der Weg für Schadenersatz von Volkswagen frei. Das Verhalten des Konzerns sei "objektiv als sittenwidrig zu qualifizieren", entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe am Montag in seinem ersten Urteil zum VW-Abgasskandal. Das bedeutet, dass klagende Käufer ihr Auto zurückgeben und das Geld dafür einfordern können. Das gilt auch für Gebrauchtwagen. Auf den Kaufpreis müssen sich Diesel-Besitzer aber die gefahrenen Kilometer anrechnen lassen. (Az. VI ZR 252/19)
Volkswagen kündigte unmittelbar nach der Urteilsverkündung an, viele der klagenden Kunden zu entschädigen. Man werde Einmalzahlungen als "pragmatische und einfache Lösung" anbieten, erklärte der Konzern. Das würde es den Klägern ersparen, ihren Prozess zu Ende zu führen.
Kraftfahrt-Bundesamt systematisch getäuscht
VW hatte Millionen Diesel-Autos mit einer illegalen Abgastechnik ausgestattet, um bei behördlichen Prüfungen die Stickoxid-Grenzwerte einzuhalten. Die obersten Zivilrichter kamen zu dem Schluss, dass der Wolfsburger Autobauer damit das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) systematisch und langjährig getäuscht hat - und zwar bewusst und gewollt zur Gewinnmaximierung. All das sei auf Basis einer grundlegenden strategischen Entscheidung passiert.
Die massenhafte Software-Manipulation sei nicht nur mit einer erhöhten Umweltbelastung verbunden gewesen, heißt es in dem Urteil. Es habe außerdem die Gefahr bestanden, dass die betroffenen Autos beim Auffliegen des Skandals die Betriebsgenehmigung verlieren.
Richter werfen VW Arglosigkeit vor
Gegenüber den Käufern sei das "besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren". Die Arglosigkeit und das Vertrauen der Käufer seien gezielt ausgenutzt worden, sagte der Vorsitzende Richter Stephan Seiters.
Die Karlsruher Richter bestätigten mit ihrer Entscheidung im Wesentlichen ein Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Koblenz. Es hatte den VW-Konzern wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung verpflichtet, dem Käufer eines gebrauchten VW Sharan gut 25.600 Euro plus Zinsen zu erstatten. Der Mann hatte argumentiert, er habe der Werbung vertraut und geglaubt, ein sauberes Auto gekauft zu haben.
Auch die BGH-Richter gehen davon aus, dass der Mann das Auto sonst nie gekauft hätte. Sein Schaden liege darin, dass er ein Auto bekommen habe, das "für seine Zwecke nicht voll brauchbar war". Es sei letztlich allein vom Zufall abhängig gewesen, ob der Mangel aufgedeckt werde. Damit sei der Erwerb unvernünftig und nachteilig.
Das von VW später angebotene Software-Update beseitigt aus Sicht der Richter das Problem nicht. "Der Schaden liegt im ungewollten Vertragsschluss", sei also schon beim Kauf entstanden, sagte Seiters.
VW flog mit dem Motor EA189 auf
Der Skandal um die illegale Abgastechnik in Millionen VW-Fahrzeugen war im Herbst 2015 aufgeflogen. Damals kam ans Licht, dass die Stickoxid-Emissionen des Motorentyps EA189 viel höher waren, als Tests auf dem Prüfstand zeigten. Verantwortlich war eine Software, die die volle Abgasreinigung nur auf dem Prüfstand aktivierte.
Das OLG war zu dem Schluss gekommen, dass leitende Mitarbeiter und auch Vorstände von den Manipulationen zumindest gewusst und diese gebilligt hätten. Denn VW hatte im Prozess nichts Gegenteiliges vorgetragen. Gegen diese Wertung hat der BGH nichts einzuwenden.
Gegen das Koblenzer Urteil hatten beide Seiten Revision eingelegt. Der Kläger, Herbert Gilbert, hatte 2014 knapp 31.500 Euro für das Auto bezahlt und wollte den vollen Preis zurück. VW wollte gar nichts zahlen. Der Autobauer hatte stets argumentiert, die Autos seien jederzeit voll nutzbar gewesen. Es gebe keinen Schaden.
Richter nahmen Gesamtlaufleistung von 300.000 Kilometern an
Gilbert freute sich über das Urteil. Es habe aber auch einen "bitteren Beigeschmack". Denn bei der Berechnung des Schadenersatzes werden ihm die gefahrenen Kilometer angerechnet. Juristen sprechen von Nutzungsersatz. Allzu hoch ist der Abzug in seinem Fall aber nicht. Das OLG hatte für Gilberts Sharan eine Gesamtlaufleistung von 300.000 Kilometern angenommen. VW hatte kritisiert, das sei zu viel. Laut BGH haben die Richter der unteren Instanzen aber einen großen Spielraum. Das OLG hätte auch mehr oder weniger schätzen können.
Nach VW-Angaben sind bundesweit noch rund 60.000 Verfahren anhängig, also nicht rechtskräftig entschieden oder per Vergleich beendet. Das BGH-Urteil ist für viele dieser Fälle eine wichtige Weichenstellung. Trotzdem sind immer noch viele Rechtsfragen ungeklärt. Die Karlsruher Richter haben für Juli bereits die nächsten drei Verhandlungen zu anderen Diesel-Fällen angesetzt, weitere sollen folgen.
Auf den im Rahmen einer Musterfeststellungsklage ausgehandelten Vergleich, den laut VW inzwischen rund 240.000 Diesel-Besitzer akzeptiert haben, hat das Urteil keine Auswirkungen mehr. (dpa/rs)