"Wenn Sie warten, bis sich alle Dinge geklärt haben, könnte es zu spät sein", sagt Martha Bennett, Principal Analyst und Blockchain-Expertin beim Marktforschungs- und Beratungshaus Forrester Research. Die Innovationsgeschwindigkeit im IT-Sektor sei derart hoch, dass Unternehmen nicht auf abgeschlossene Entwicklungen in einem Technologiefeld warten dürften. Die aktuelle Situation im Blockchain-Sektor beschreibt sie als "Wilden Westen", der sie an die frühen Tage des Internets erinnere. Damals wie heute sei weitgehend offen, wie sich die Technik weiterentwickle. Das aber dürfe Unternehmen nicht davon abhalten, sich damit auseinanderzusetzen.
Doch wie sollen CIOs, IT- und Business-Verantwortliche an das Thema herangehen? Pilotprojekte gibt es mittlerweile auch in Deutschland reichlich, im Produktivbetrieb hat sich aber bislang kaum eine Blockchain-Implementierung bewährt. Allerdings reden diejenigen, die sich davon handfeste Wettbewerbsvorteile versprechen, aus naheliegenden Gründen oft nur ungern darüber.
"Blockchain ist ein Teamsport - es geht um Sharing"
Bennett rät Unternehmen wie auch Behörden, zuerst zu prüfen, für welche Prozesse sich eine Blockchain grundsätzlich eignet - und für welche nicht. Um herauszufinden, ob es einen Use Case für Distributed-Ledger-Installationen gebe, müssten Entscheider die konzeptionellen Unterschiede zu klassischen IT-Systemen verstehen. So ließen sich beispielsweise mithilfe relationaler Datenbanken noch immer die meisten Transaktionsaufgaben einer Organisation abdecken.
Gehe es aber um unternehmensübergreifende Collaboration, biete eine Blockchain klare Vorteile: "Distributed Ledger ist ein Teamsport. Es geht um höchst vertrauenswürdige Daten und darum, diese zu teilen." Eine Frage bei der ersten Evaluierung könne lauten, ob es mehrere Abteilungen oder auch Geschäftspartner gibt, die ähnliche Probleme beim Prüfen und Abgleichen von Transaktionen haben und welche Vorteile eine Blockchain dabei bringen könne.
Ein aktuelles Beispiel liefert we.trade, ein Konsortium aus neun europäischen Banken. Die Institute entwickelten gemeinsam eine Blockchain, über die sie Handelsfinanzierungen für kleine und mittelständische Unternehmen abwickeln. Das System basiert auf der IBM Blockchain Plattform, die Technologie des Open-Source-Projekts Hyperledger Fabric nutzt. Die Blockchain erleichtere allen Beteiligten die Abwicklung von Inlands- und Auslandsfinanzierungen, berichten we.trade-Verantwortliche. Jenseits dieser Kooperation konkurrieren die Banken wie gehabt miteinander.
Um zu entscheiden, ob ein Blockchain-Einsatz sinnvoll ist, hat Forrester-Analystin Bennett eine Checkliste entwickelt, die typische Einsatzkriterien nennt. Dazu gehören unter anderem:
wenn mehrere Parteien dieselben Daten benötigen und in denselben Daten-Pool schreiben möchten,
wenn alle Parteien nachweisen müssen, dass Daten valide und nicht manipuliert worden sind,
wenn ein bestehendes System fehlerbehaftet, zu komplex und zu unzuverlässig ist,
wenn es gute Gründe gegen ein einziges zentrales System wie etwa eine relationale Datenbank gibt.
Wie die Notenbank von Boston Blockchain testet
Zu den Blockchain-Nutzern der ersten Stunde gehört die traditionell eher konservative Federal Reserve Bank of Boston. Schon 2016 begannen die Notenbanker damit, die Blockchain-Plattform Ethereum zu testen, später wechselten sie auf Hyperledger Fabric. Wie Paul Brassill, Vice President of IT, berichtet, investiert das Institut dabei durchaus größere Summen. Ein Ziel sei es herauszufinden, wie sich Blockchain-Technologie nicht nur im nationalen Banking-Sektor sondern auch in der globalen Finanzbranche auswirkt.
"Wenn der private Sektor dabei besser vorankommt als die Bostoner Fed, haben wir Nachholbedarf", so Brassill. Zu den ersten "Learnings" in Sachen Blockchain habe gehört, dass den hauseigenen Entwicklern grundlegende Kenntnisse der Technik fehlten. Also habe man angefangen, die ITler in Eigenregie weiterzubilden. Zu den Lehrmitteln gehörten auch Youtube-Videos. Besonders hilfreich war laut dem Manager ein von IBM produziertes Tutorial, das die Entwicklung einer Blockchain mithilfe des Hyperledger Composer erklärt.
Wie etliche andere Pioniere nutzte auch die Notenbank von Boston für die ersten Gehversuche in Sachen Blockchain Dienste aus der Cloud. So griffen die Entwickler etwa auf Amazon Web Services (AWS) zurück, um Linux-basierte virtuelle Maschinen einzurichten und auf dieser Basis mit Ethereum zu experimentieren. Wertvolle Erkenntnisse habe der Austausch mit Experten der Bank of England gebracht, erläutert IT-Manager Brassill. Die Briten untersuchen unter anderem, wie sich der Interbanken-Handel über eine geschlossene Blockchain auf der Basis von Hyperledger organisieren ließe.
Finanzbranche rechnet fest mit der Blockchain
Die Finanzbranche knüpft generell hohe Erwartungen an die Blockchain. Laut einer aktuellen Umfrage von Infosys Finacle erwarten mehr als 80 Prozent der Finanzexperten weltweit einen kommerziellen Blockchain-Einsatz bis 2020. Bereits im laufenden Jahr investiert demnach mehr als die Hälfte der internationalen Finanzinstitute in die Technik oder plant entsprechende Initiativen. Durchschnittlich investierten die Unternehmen dabei etwa eine Million Dollar in Blockchain-Vorhaben. Getrieben würden solche Projekte mehrheitlich von CTOs und CIOs.
Der amerikanische Finanzdienstleister Northern Trust startete bereits 2017 ein kommerzielles Blockchain-Netzwerk auf Basis von Hyperledger Fabric. Das Management wollte damit die Verwaltung eines großen Private-Equity-Fonds vereinfachen. Die Blockchain ermöglicht den Beteiligten den Austausch von Dokumenten in Echtzeit. Mithilfe von Smart Contracts gelang es dem Unternehmen unter anderem, Genehmigungsprozesse deutlich zu verschlanken.
Forrester-Expertin Bennett hebt den konkreten Nutzen dieser Implementierung hervor: "Statt drei Wochen dauert es jetzt nur noch drei Tage, bis alle Unterlagen für eine Private-Equity-Transaktion vorliegen." Northern Trust habe es sogar einem Auditor gestattet, die Transaktionen auf der Blockchain nahezu in Echtzeit zu prüfen. Üblicherweise würden solche Audits erst mit einigem zeitlichen Versatz für abgeschlossene Transaktionen durchgeführt.
Eine Blockchain für die Bankenprüfung
Die Bostoner Notenbank hat mittlerweile drei Proof-of-Concepts (PoC) für den Blockchain-Einsatz erarbeitet. In einem Fall geht es um die Frage, ob sich damit das Hauptbuch (General Ledger) ersetzen lässt, über das die Fed mehr als sechs Milliarden Dollar an Reserveguthaben der regionalen Banken verwaltet. In einem anderen Szenario prüft das Institut, wie es seinen Prüf- und Regulierungsaufgaben gegenüber den angeschlossenen Banken mithilfe von Distributed-Ledger-Technik (DLT) besser nachkommen kann.
"Wir müssen eine Art Spinnennetz zwischen Banken weben, um am Ende alle Transaktionen über eine sehr mächtige Blockchain-Umgebung kontrollieren zu können", beschreibt IT-Manager Brassill das ehrgeizige Ziel. Die damit einhergehenden Herausforderungen seien immens; doch nur so könne man lernen, wie sich die Blockchain in der Praxis auf die Finanzmärkte auswirke.
Schon etwas näher am praktischen Einsatz liegt eine Blockchain-Initiative für einen Teilbereich der Personalverwaltung. Die daraus entstandene HR-Anwendung auf Blockchain-Basis sei nicht geschäftskritisch, wie Brassill erläutert. Sie laufe aber im 24x7-Betrieb und solle dabei helfen, Probleme zu erkennen, die bei einem kontinuierlichen Betrieb etwa hinsichtlich der Skalierbarkeit auftreten könnten. In den kommenden zwölf Monaten will die Bostoner Fed außerdem verstärkt mit anderen Notenbanken zusammenarbeiten, um Finanzanwendungen in einer geschützten Umgebung zu testen.
Blockchain und die Hürden in der Praxis
Forrester-Expertin Bennett hält solche Ansätze generell für richtig, mahnt aber dennoch zur Vorsicht. Auch wenn ein Unternehmen ein Blockchain-Netzwerk mehrmals getestet habe, bedeute das noch lange nicht, dass es reif für den produktiven Einsatz sei: "Es könnte immer noch nicht ausreichend skalieren, es muss mit bestehenden Business-Systemen integriert werden und es muss schließlich regulatorischen und Compliance-Anforderungen genügen, die in etlichen Branchen erst noch zu formulieren sind." Auch aus diesen Gründen wird es aus ihrer Sicht noch geraume Zeit dauern, bis sich Blockchain-Implementierungen auf breiter Front durchsetzen.
Last, but not least sollten Unternehmen sich gut überlegen, welche Gründe gegen ein einziges zentrales datenbankorientiertes System sprechen, gibt die Analystin zu bedenken. Denn eines sei schon heute absehbar: Mit der Blockchain nehme die Komplexität tendenziell zu. Und der geringe Reifegrad der Technik berge Risiken, die sich schwer kalkulieren ließen. Alleine die Vielzahl an konkurrierenden technischen Spezifikationen und Plattformen führe zu einer Unsicherheit im Markt bezüglich der weiteren Entwicklung. So gesehen scheint Abwarten dann doch nicht die schlechteste Option zu sein.
Mit Material von IDG News Service