Es ist gerade anderthalb Jahre her, als Autozulieferer Continental herausfinden sollte, ob die Balanced corecard in der IT Sinn macht oder nicht. Das Management entschied, auf eine Balanced Scorecard zu verzichten. Immer wieder kommen IT-Manager im Unternehmen zur immer gleichen Einschätzung: zu aufwendig einzuführen, zu aufwendig zu pflegen, zu teuer, um sie irgendwann "verhungern" zu lassen. Der Nutzen? Zweifelhaft.
Andere Großunternehmen haben die BSC inzwischen wieder aufgegeben. Möglicherweise ersparen sie sich damit einen (weiteren) Leidensweg, glaubt man Roman Stöger. Ende 2007 hat der Partner aus dem Malik Management Institut in St. Gallen seine Auswertung aus Strategieseminaren der vergangenen acht Jahre veröffentlicht. Hier unterhielt er sich immer wieder mit Vertretern des Bereichs General Management. Es würde so vieles falsch gemacht, meint Stöger:
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Die Steuerung der Balanced Scorecard liegt oft bei Consultants, Controllern und CIOs, die für die Nutzung jedoch nicht verantwortlich sind.
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Die Balanced Scorecard ist nicht einfach zu handeln.
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Der CIO kennt die Aufgaben des General Management zu wenig.
Zu den "real verursachten Schäden" einer Balanced Scorecard zählen 80 Prozent der Befragten die Alibifunktion der Balanced Scorecard, die lediglich Ausgewogenheit vortäusche, wobei aber die Finanz-Scorecard überwiege. Viele Unternehmen (68 Prozent) gaben zu, die Balanced Scorecard mit einer Strategie verwechselt zu haben, die das Unternehmen vorher nicht hatte. Als drittwichtigster registrierter Schaden gaben 59 Prozent der Befragten an, dass die BSC eine Berichtsbürokratie mit wenig Bezug zur Realität schaffen würde.
Dabei ist die Idee von Robert Kaplan und David Norton aus dem Jahr 1992 so übel nicht: Der Harvard-Absolvent und der Harvard-Professor entwarfen ein Konzept, mit dem Unternehmen über eine überschaubare Anzahl von Kennzahlen eine Übersicht über den Status des Unternehmens bekommen und damit auch ein taugliches Kommunikationsinstrument. Die Voraussetzung für die BSC ist allerdings eine durchdachte Strategie. Erst dann lassen sich für die vier Standardbereiche, die die BSC erfasst, individuelle und geeignete Kennzahlen finden. Schulbuchmäßig stützt sich die BSC auf vier Perspektiven: Finanzen, Kunden, Prozesse und Potenziale. Damit - und das war der besondere Zweck - würden genauso harte wie weiche Kennzahlen nötig sein.
Sportler finden Scorecards klasse
Den bisherigen Erfolg der Balanced Scorecard beschreibt Malik-Mann Stöger so: "Balanced klingt in Zeiten des ganzheitlichen Denkens immer gut, und Scorecard weckt Anknüpfungspunkte an Sport, Wettbewerb und Punkte." Fast 50 Prozent der Führungskräfte in Deutschland gaben in einer Umfrage der Personalagentur Heidrick & Struggles an, früher Leistungssportler gewesen zu sein mit dem Willen, viele Tore zu schießen, die Schnellsten zu sein, am meisten Punkte zu bekommen. Das Marketing fruchtete: 2003 hatten über 60 Prozent der US-amerikanischen Unternehmen die Balanced Scorecard eingeführt, 2006 waren es an die 70 Prozent, wie Zahlen des von Darrel Rigby initiierten Bain Survey zeigen, an dem sich vornehmlich US-Unternehmen beteiligen.
Anders ist die Situation in Deutschland. Offenbar setzen nur 24 Prozent der börsennotierten und 35 Prozent der Mittelständler die Balanced Scorecard in ihrem Unternehmen ein, so die Ergebnisse einer Befragung des Controlling-Experten Gerhard Speckbacher aus dem Institut für Unternehmensführung an der Wirtschaftsuniversität Wien. Nur ein Bruchteil der Unternehmen habe die BSC zudem in vollem Umfang implementiert - wie etwa die Hannoverschen Verkehrsbetriebe Üstra. Ein Grund für den erheblich niedrigeren Anteil der BSC-Nutzer in Deutschland dürfte sein, dass die BSC in den USA "erfunden" wurde, aber auch darin - mutmaßt Stöger -, "dass in Deutschland immer alles hundertprozentig sein muss".
Die Üstra begann 2002, über den Einsatz der Balanced Scorecard ernsthaft nachzudenken. "2002 war ich optimistisch, vielleicht sogar zu sehr", sagt Peter-Hermann Möller, damals wie heute CIO der Üstra. Das niedersächsische Unternehmen ist tätig im ÖPNV, dem Öffentlichen Personennahverkehr, der wiederum eng an Regularien der öffentlichen Verwaltung ausgerichtet ist. "Die Freiheit war also nicht unbegrenzt, die BSC einzuführen“, sagt Möller.
"Die Freiheit war nicht unbegrenzt"
Denn die Balanced Scorecard hilft den Unternehmen, groß zu denken. Das gesamte General Management sollte in den Prozess eingebunden werden. Die einzelnen BSC-Bereiche überlappen sich in der Verantwortung, was bedeutet, dass das Management bereit sein muss für mehr Transparenz. "Sie sind auf Unterstützung aus allen Unternehmensteilen angewiesen", sagt Möller von der Üstra, "das Ganze wurde plötzlich komplex." Möller bemerkte, dass innerhalb des Unternehmens "Interessen gegeneinanderliefen": Wer ist Process Owner? Welche Auswirkungen hat das auf andere Bereiche? - das waren einige der Fragen, die nicht im Vorbeigehen beantwortet werden konnten.
Letztlich stand mehr die Kennzahl im Mittelpunkt der Gespräche als die Strategie. Und die Strategie sollte ja eigentlich der Ausgangspunkt für eine BSC sein. Nach zwei Jahren also einigte sich die Üstra auf eine abgespeckte Version der Balanced Scorecard, ohne die Bereiche Prozesse und Potenziale, beschränkt also auf die Finanzen und die Kunden. Für Letzteres stützt sich die Üstra jetzt auf Kriterien wie Verfügbarkeit und Service Levels. "Die Balanced Scorecard ist lebend", meint CIO Möller, Kennzahlen ändern sich immer wieder.
BSC bremst die Governance
Bei Continental übernehmen nach wie vor Strategietreffen die Funktionen der BSC. Hier werden Strategien immer wieder neuen Erfordernissen angepasst. Um zu erkennen, dass eine Integration der IT von der übernommenen Siemens-Sparte VDO nur über Standardisierungen möglich ist, brauchte man keine BSC. Die Balanced Scorecard bremst demnach die Governance. Denn sie will gepflegt, mit Informationen gespeist und ständig auf dem aktuellen Stand gehalten werden.
Bei der hannoveranischen Üstra stützt sich das Management primär auf Zielvereinbarungen, im Englischen auch Management by Objectives oder MBO genannt. "MBO wirkt aus sich selbst heraus", meint Möller, der einmal im Jahr mit seinen 69 Mitarbeitern individuelle Gespräche führt. So kann er sich sehr differenziert mit den Fähigkeiten und Wünschen der Einzelnen beschäftigen. Im Rahmen der Balanced Scorecard seien sehr allgemeine Kennzahlen entwickelt worden, die für einen einzelnen Mitarbeiter selbst kein Ansporn gewesen seien.
Roman Stöger vom Malik Management Institut geht in seiner Argumentation noch einen Schritt weiter als Möller, der jetzt möglicherweise mehr ein Kennzahlensystem als eine Balanced Scorecard bei der Üstra einsetzt - auf jeden Fall aber die BSC abgespeckt hat. "Warum", provoziert Stöger, "beschränken sich Unternehmen nicht auf klassische Reports?“ Umsätze, Deckungsbeiträge, die Innovationsrate, die Liquidität und eine Produktivitätskennzahl sind darin enthalten. Und alle paar Wochen treffen sich die Bereichsleiter sowieso, um Zahlen auszutauschen. Ganz persönlich.
Das Problem liegt jedoch nicht im Konzept der BSC begründet, sondern in der oft mangelhaften Umsetzung. Die BSC ist ein unterstützendes Instrument, ihr Ziel ist, die Unternehmensstrategie umzusetzen. "Und es hilft keinem, auf Basis der BSC erst eine Strategie zu entwickeln", meint Roman Stöger vom Malik Management Institut. Zudem dürfe die Verantwortung eines BSC-Projekts nicht bei den CIOs liegen: Die seien oft in Querschnittsfunktion im Unternehmen unterwegs, aber für keinen Geschäftsbereich verantwortlich. "Wenn Sie Leute haben, die viel Zeit haben, dann können Sie eine BSC bauen", frotzelt Stöger. Das bewirke zum einen, dass die Balanced Scorecards zu komplex würden, zum anderen komme das Management gar nicht nach, die zahlreichen Reports aus den verschiedenen Geschäftsbereichen zusammenzutragen.
Spartendenken bricht auf
Dieser Gefahr hat sich die Üstra durch die reduzierte BSC gar nicht erst ausgesetzt. Möller sieht darin inzwischen, vier Jahre nach der Einführung, durchaus positive Effekte: "Das Spartendenken bricht mehr und mehr auf, es entsteht ein Verständnis für die anderen Bereiche", sagt Möller. Zudem entdeckt der CIO eine bessere Ergebnisdokumentation und Kommunikationsplattform. "Wir haben ja auch keinen zusätzlichen Verwaltungsapparat geschaffen", kommentiert Möller, "das fließt mir aus der Hand." Hilfreich mag hier gewesen sein, dass die BSC bei der Üstra zunächst ein Excel-Sheet war, das nach und nach erweitert wurde. Möller: "Nicht, dass wir nachher viel für die BSC tun müssen, und zu wenig rauskommt."
Auch Stöger findet, wenn er einen Schritt zurück geht, positive Aspekte an der BSC. Wenn das General Management die Balanced Scorecard richtig anpackt, dann
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ist die BSC ein taugliches Mittel, die Strategie umzusetzen,
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ein gutes Kommunikationsinstrument, das eine einfache Übersicht bietet, und
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sie zwingt die BSC-Manager, in verschiedenen Dimensionen zu denken und etwa nicht allein in der finanziellen.
Nur bei der ordentlichen Umsetzung hapert es nun mal. Selbst Norton und Kaplan werden inzwischen schon etwas ungeduldig. „Strategien (endlich) umsetzen“ forderten die BSC-Väter schon Anfang 2006 im Harvard Business Manager leicht verzweifelt.