Kompetenz ist in der Wirtschaft gefragt. Aber wie kompetent darf eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter sein? Was, wenn sie oder er das erwartete Maß an Kompetenz übersteigt? Etwa über den Kernbereich des zugewiesenen Arbeitsbereichs hinaus denkt, fühlt und sogar danach strebt, außerhalb dieser Grenzen aktiv zu werden? Dann ist die Verunsicherung groß, denn weniger kompetente Vorgesetzte können diese hohen Fähigkeiten oft weder einschätzen noch beurteilen und reagieren primär abweisend.
Es bedarf Größe, um die bisher üblichen Kontrollen aufzugeben - zugunsten von mehr Freiraum für Freidenker und Freigeister. Vertrauen ist nötig. Wenn die Neugier auf die dadurch entstehenden Chancen weit stärker ist, als die Angst vor Kontrollverlust, können sich neue innovative Arbeitskonzepte durchsetzen. Bislang sind sie rar gesät in unserer Wirtschaft, die noch fremdelt mit so ungewöhnlichen Skills wie Intuition oder Integrität, geschweige denn Empathie oder Sensibilität.
Viel zu lange setzte sie allein auf Hard Facts und Cluster-artig scharf abgegrenzte Einteilungen in sogenannte Kernkompetenzen. Soft Skills grenzte sie als unerwünscht und unrelevant aus. Und somit auch hochsensible und besonders begabte Menschen - samt ihren übergreifenden Talenten.
Ohne soziale Kompetenz keine Sachkompetenz
"Kompetenz" kommt vom Lateinischen "competere" ('zusammentreffen'). Der Soziologe Bourdieu postulierte 1993, dass ohne soziale Kompetenz keine Sachkompetenz möglich sei. Hochsensible Mitarbeiter haben die ganze Palette zu bieten: Mit ihren seismografischen, empathischen und intuitiven Kompetenzen können sie die Wirtschaft zukunftssicherer machen. Krankheitsbedingte Ausfälle und der Fachkräftemangel könnten reduziert, Arbeitsleistung und Motivation gesteigert werden.
"Zukunftssicherheit" ist heute gleichzusetzen mit "nachhaltiger Rentabilität" - einerseits an den Bedürfnissen des Marktes orientiert bleiben und sich andererseits keine Sünden gegen Personen oder Umwelt zu erlauben. Die Wirkung nach außen ist wichtiger denn je, das Ansehen eines Unternehmens wird im Internet bewertet (Stichwort Employer Branding). Bewerber suchen sich ihre zukünftigen Arbeitgeber danach aus, Kunden vergleichen Anbieter. Werden hochsensible Mitarbeiter als Leitbildentwickler und Unternehmensethik-Controller oder als Community Manager eingesetzt, können sie eine nachhaltige Social-Media-Arbeit hervorbringen - beste Voraussetzungen für Zukunftssicherheit.
Was sind "hochsensible" Mitarbeiter?
Hochsensibilität ist kein Krankheitsbild, sondern eine angeborene, geschlechtsunabhängige und genetisch bedingte Form von Intelligenz, also eine spezifische Ausprägung von Hochbegabung. Erste Forschungen auf diesem Gebiet ergaben, dass das Gehirn Hochsensibler eine höhere Aktivität der für die Sinnesverarbeitung bedeutsamen Regionen aufweist.
Erregungsdämpfende Gehirnteile scheinen hingegen weniger aktiv und weniger stark ausgebildet. Jeder Mensch vermag eine Vielzahl an Sinnesreizen parallel aufzunehmen, das hochsensible Gehirn jedoch stuft sehr viel mehr Reize als "wichtig" ein, die somit ins Bewusstsein gelangen. Etwa 20 Prozent aller höheren Populationen - Tier wie Mensch - weisen diese Begabung auf, und sie lässt sich bestimmen.
Acht bis neun Intelligenzen werden in der Intelligenzforschung insgesamt unterschieden. Vier von Ihnen - die sogenannten kognitiven Begabungen, wie beispielsweise das logisch-mathematische Verständnis oder die Merkfähigkeit - stehen bei der klassischen Hochbegabung im Fokus. Lediglich diese sind mit standardisierten IQ-Tests derzeit messbar. Um andere Aspekte geistiger Leistungsfähigkeit, wie die Kreativität und die emotionale Intelligenz, die psychomotorische oder die sogenannte soziale Intelligenz zu bestimmen oder gar zu messen, bedarf es differenzierter psychologischer Tests und Experimente.
Erfahrungsgemäß erkennen Hochsensible sich in der Beschreibung des Phänomens Hochsensibilität selbst. Gewissheit geben können auf Hochsensibilität spezialisierte Psychologen, Berater und Coaches.
Diversity: Hochsensible Menschen im Unternehmen
Auf den Arbeitsmarkt bezogen sind hochsensible Menschen mindestens so "vielfältig" wie andere: Vom Spezialisten bis hin zum Entscheider auf oberer Ebene erstreckt sich die Bandbreite; die hohe Wahrnehmungsbegabung stellt lediglich eines von vielen Persönlichkeitsmerkmalen dar.
Wie bereits geschrieben blicken Hochsensible dank ihrer intensiven Wahrnehmung oft über den berühmten Tellerrand hinaus und erfassen leicht größere Zusammenhänge. Sie erkennen Trends, bevor diese anbrechen und sind somit prädestiniert für verantwortungsbewusste Zukunftsplanung, wie beispielsweise Standortbestimmungen oder Markterschließungen.
Ein Frühwarnsystem gegen Fehlentwicklungen lässt sich mit hochsensiblen Mitarbeitern ausgezeichnet aufbauen und ihr Talent, aufkommende Konflikte zu erspüren, gepaart mit hohem Gerechtigkeitssinn kann maßgeblich zu einem besseren Betriebsklima beitragen. In Auslandseinsätzen punkten Sie als interkulturelle Vermittler und in Forschung und Entwicklung verzeichnen sie dank ihrer sprichwörtlichen Akribie und Beharrlichkeit höchste Erfolge.
Es lohnt sich also, diese hochsensiblen Talente im Unternehmen ausfindig zu machen. Auch wenn diese sich selten in den Vordergrund drängen, das Vier-Augen-Gespräch der großen Runde vorziehen und ihre Kommunikation oft auf wenige "Verbindungsleute" reduzieren.
Die Begabten selbst sollten Mut fassen und auf die Ergebnisse hinweisen, die sie dank ihrer hohen Skills erzielen. So können - und sollten - sich Vorgesetzte und Kollegen damit auseinandersetzen und die Leistung spezifisch anerkennen. Die eigenwillig erscheinende Kollegin, der etwas introvertierte Mitarbeiter, der zurückhaltende Chef - ist es wirklich so schwierig, Menschen jenseits des individuellen Mainstream tolerant und respektvoll zu begegnen und sie fachlich anzuerkennen?
Sicherlich harmonieren ähnliche Menschen leichter, aber gerade die, die anders ticken, ergänzen sich im Team am Besten. Konkurrenzdenken ist Hochsensiblen meist fern. In der Geschäftswelt ist es Usus und den meisten von uns vertraut. Kooperation - oder, wie es heute heißt: gutes Teamplay - ist uns allen jedoch abhanden gekommen. Es zu lernen und zu üben gehört zum Einmaleins der Mitarbeiterförderung.
Potenzial von hochsensiblen Mitarbeitern nutzen
Im Einklang mit allen Beteiligten einen guten Job zu machen ist das Bestreben hochsensibler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Äußerst kritisch (auch sich selbst gegenüber!) arbeiten sie sehr gewissenhaft und bringen in der Regel von sich aus einen hohen Einsatz. Um diesen zu messbaren Ergebnissen zu führen, ist das geeignete Umfeld für diese Mitarbeiter kein Luxus, sondern Voraussetzung.
Denn wer differenzierter und sehr viel mehr Reize aufnimmt braucht länger für die gründliche Verarbeitung. Eigentlich logisch, doch der Vorwurf "mangelnde Belastbarkeit" ist schnell im Raum. Stellt man den negativen Vorurteilen die Vorteile der Hochsensibilität gegenüber, überwiegen diese klar.
Im richtigen Umfeld sind Hochsensible oft die Konsequenteren und Zielstrebigeren und finden Lösungen, wo andere längst kapituliert haben. Sie sind die Unbestechlichen und finden Fehler, die anderen entgehen. Sie denken schlicht mehr und weiter als andere.
Deshalb vor Hochsensiblen auf die Knie zu fallen, dient niemandem. Aber Kompetenzen souverän zu erkennen und in weiser Voraussicht alle zur Verfügung stehenden Talente gemeinsam zu nutzen, das würde der Wirtschaft dienen. Es mangelt uns nicht an Fachkräften, nur am Talent und der Sensibilität, diese zu erkennen.