Die Freude ist nicht zu überhören, kreuz und quer geht das Geschnatter: "Supergeil", "Der ist ja irre", "Der blinkt ja sogar!" Aus einiger Entfernung beobachtet Claudia Krause das turbulente Treiben in ihrem Showroom und verfolgt aufmerksam, wie ihr neuester Schulranzen bei den angehenden Erstklässlern ankommt.
Ergo Light Trekking heißt die Version, die Jouline Walter und die Geschwister Luke und Finnja Kessler mit kindlicher Neugier kritisch unter die Lupe nehmen. Die Sechsjährigen kennen noch den Prototyp. "Bei dem rutschte der Gurt", sagt Jouline, und Finnja weiß noch, dass der Verschlussriemen "so schwer ging, das war richtig blöd". Blöd ist jetzt nichts mehr. Dieser Ranzen passt, die Kinderkrankheiten sind endgültig ausgemerzt. Und Claudia Krause weiß, sie hat alles richtig gemacht.
Die Geschäftsführerin von Thorka, einem der größten deutschen Hersteller von Schulranzen, kennt die Wünsche der Kids. Nicht einfach nur einen x-beliebigen Tornister mit Platz für Hefte, Ordner, Bücher, Mäppchen. Cool sollen sie aussehen und möglichst ein Fach für den MP3-Player oder für das Handy haben.
Produkte als Statussymbol
Ob i-Dötzchen oder angehender Abiturient - Schulranzen und Rucksack, Brustbeutel und Ordner sind für die Schüler heute längst auch ein Statussymbol. Wer bei den Schülern punkten will, muss wissen, was ihnen gefällt. Deshalb hat das, was unter dem Label McNeill in Hainburg bei Frankfurt und im brandenburgischen Eberswalde produziert wird, vor dem Produktionsstart den Segen der Schüler bekommen.
"Unsere Produktentwickler und Designer versuchen, sich so gut wie möglich in die Fantasiewelt der Kinder hineinzudenken und ihren Geschmack zu treffen", sagt Thorka-Geschäftsführerin Claudia Krause. "Aber das letzte Wort haben die Kinder - und die wissen ganz genau, was sie wollen."
Wie der hessische Ranzenhersteller Thorka wählen mittlerweile immer mehr Unternehmen bei der Produktentwicklung den direkten Weg zur Basis. Produktideen werden nicht mehr nur in den Marketingabteilungen kreiert, sondern an Ort und Stelle erprobt - beim Anwender und Verbraucher.
Holz und Käse tun's auch
"Unternehmen, die diese Informationskanäle nicht nutzen oder außer Acht lassen, vergaloppieren sich", sagt Oliver Gassmann, Direktor des Instituts für Technologiemanagement an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Nur etwas mehr als sechs Prozent aller Produkte schaffen es, sich dauerhaft auf dem Markt durchzusetzen. Die Gründe sind laut Gassmann ernüchternd: 28 Prozent der Unternehmen scheitern, weil ihre Produkte übertrieben aufwendig ausgestattet sind - wie etwa High-Tech-Mäusefallen, die mit Distanz- und Geruchsmesser ausgerüstet sind. "Holz und Käse tun’s auch", sagt Gassmann. Etwa ein Viertel der Produkte floppen, weil sie einfach nur nachgeahmt sind und keine Neuheiten mit sich bringen.
Fast die Hälfte aller Entwicklungsleistungen fließt in Projekte, deren Ergebnisse nie auf den Markt kommen. "Die tatsächlich erfolgreichen Produkte erhalten durchschnittlich nur etwa fünf Prozent des Entwicklungsbudgets", so Gassmann, "95 Prozent werden förmlich verbrannt", weil sie am Bedarf der Kunden vorbeiproduziert sind. Bis zu 80 Prozent, schätzt Gassmann, hängt der Erfolg eines Produktes von Informationen der Verbraucher ab.
Öfters auf den Kunden hören
Dass es sich lohnt, dem Kunden zuzuhören, stellt auch der US-Technologiekonzern 3M immer wieder fest. So wie im Sommer 2011, als sich eine italienische Werft bei Diplom-Chemiker Adrian Jung meldete. Das Unternehmen hatte Probleme mit seinen vielen ungelernten Arbeitskräften, die nicht abschätzen konnten, wann der Klebstoff für die tragenden Teile der Luxusyachten durchgehärtet war. Den Kitt, der in der Industrie zunehmend das Schweißen ablöst, gab es bereits. Doch anders als beim Schweißen fehlten beim Leimverfahren bislang Indikatoren, die signalisierten, wann der Stoff hart genug war.
Der Anruf war Auftrag zugleich. Auf Basis der Schilderungen des Werft-Managements entwickelten die 3M-Forscher einen Klebstoff, der den Aushärtungsverlauf während des Klebevorgangs durch die Ampelfarben Rot, Gelb und Grün anzeigt. Nun kann der chemische Garzustand kontrolliert und eine zu frühe Belastung der zusammengefügten Bauteile vermieden werden - Rot heißt schlicht und einfach: Stopp! Selbst an Farbenblinde haben die 3M-Forscher gedacht und eine Kartusche entwickelt, die durch Kontrastfarben und eine simple Skalierung für das richtige Mischungsverhältnis des Zweikomponentenklebers sorgt.
Zehn Monate dauerte es vom Telefonanruf der italienischen Kunden bis zum Prototyp. Eingeführt wird der innovative Klebstoff voraussichtlich Anfang 2013. Bei 3M sind sich die Verkaufsstrategen einig, dass durch die Veredelung des ursprünglichen Klebstoffs auch die Nachfrage in diesem speziellen Segment weiter anziehen wird.
Der Kunde muss mitdiskutieren dürfen
"Die Idee ist der embryonale Zustand eines zukünftigen Produktes", betont Stephan Rahn, bei 3M in Neuss verantwortlich für das Innovationsmanagement. Dass die Kunden dabei ein gewichtiges Wort mitreden, ist ausgemachte Sache. In weltweit 30 sogenannten Customer Technical Center können sie mit Forschern diskutieren und sagen, was sie wie verbessern würden. Diese Zentren sind somit eine Art Umschlagplatz für Ideen. "Rund 80 Prozent unserer Innovationen stammen aus den Dialogen mit Kunden", betont Rahn.
Allein ins Neusser Customer Technical Center, mit rund 300 Wissenschaftlern und Technikern aus 14 Nationen das größte 3M-Labor in Europa, pilgern jährlich rund 7.000 Besucher. Dort testen und bewerten sie die neuen Produkte.
Kritische Kunden
Dem Urteil einer solchen Kundenjury mussten sich auch zehn verschiedene Displayschutzfolien für Laptops stellen. Mit Stiften und Radierern malträtierten die Hobby-Tester die Folien und überprüften sie auf verschiedene Eigenschaften: Wie schnell lösen sich die Folien vom Display? Wie gut lassen sie sich säubern? Sind sie anfällig für Kratzer? Reflektieren sie zu stark? Danach kürten sie ihr favorisiertes Modell. Es gehört heute genauso zur 3M-Produktpalette wie reflektierende Folien für Autokennzeichen und Straßenschilder oder Verschlusssysteme für Windeln. Mehr als 52.000 Produkte sind es mittlerweile, hinter denen weltweit über 26.000 Patente stehen.
Auch der Hausgerätehersteller Miele macht sich mit seinen Innovationen einen Namen. Selbst der verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs lobte das ostwestfälische Familienunternehmen aus Gütersloh für seine Produktentwicklung. Das Erfolgsrezept: "Die Abteilung ist bei uns in den jeweiligen Werken angesiedelt", sagt Markus Miele, Mitglied der Geschäftsführung und Urenkel des Firmengründers Carl Miele, "eine zentrale Entwicklungsabteilung auf der grünen Wiese nebst zentralem F&E-Chef gibt es nicht."
Näher ran an den Endverbraucher
Das Unternehmen ist weltweit in 47 Ländern mit eigenen Vertriebsgesellschaften vertreten. Diese dezentrale Struktur erlaubt es den Länderchefs rund um den Globus, autark über Modellpolitik, Preisgestaltung und Werbung zu entscheiden. Von ihren Endkunden und von den Händlern vor Ort erfahren sie, was gefragt ist - und das fließt in die Produktentwicklung mit ein. So wurde der Raum eines Dampfgarers für asiatische Kunden extra größer ausgelegt, um dort ganze Fische hineinlegen zu können. Das ergebe Sinn, denn mit gekrümmten Meerestieren brächten die Kunden in Asien Krankheiten und Unglück in Verbindung, teilte der Vertriebsaußendienst dem Marketing mit.
Henkel erforscht das Kaufverhalten der Kunden
Noch näher am Endverbraucher sind Angestellte des Konsumgüterherstellers Henkel. Mitarbeiter aus dem Marketing sowie aus dem Bereich Forschung und Entwicklung begleiten Konsumenten in die Supermärkte und registrieren deren Kaufgewohnheiten. Ziel des begleiteten Einkaufs ist es unter anderem, herauszufinden, bei welchen Produkten die Kunden zu den Henkel-Angeboten greifen und bei welchen sie der Konkurrenz den Vorzug geben.
Ideen für Innovationen entstehen außerdem im Dialog mit den Konsumenten, zum Beispiel bei Hausbesuchen und über die Henkel-Verbraucherberatung. Immer stärker werden auch Social-Media-Kanäle genutzt. Dabei erzählen die Endverbraucher via Facebook & Co. dem Unternehmen und der gesamten Internet-Gemeinde ihre persönliche Seifenoper zu Themen wie "mein schlimmster Fleck".
Unterstützt durch die klassische Marktforschung, in der Kunden persönlich befragt werden, erfährt der Düsseldorfer Konsumgüterkonzern dann, was die Verbraucher als "wirklich weiß und rein" empfinden. Allein im Bereich Wasch- und Reinigungsmittel werden mithilfe der Kunden jährlich mehr als 300 Produkte weltweit auf den Markt gebracht. Damit münden über 80 Prozent dieser Forschungsprojekte in neuen Entwicklungen.
Mit Fehlern zum Fortschritt
Das große Saubermachen beschäftigt auch den Münchner Flugzeugmotorenbauer MTU Aero Engines Holding. Das Unternehmen tüftelt am umweltfreundlichen Antrieb der Zukunft. Für dieses anspruchsvolle Projekt holt sich MTU neben den renommierten Fluglinien wie Lufthansa und Emirates auch die Schwergewichte Boeing, Airbus und General Electric mit an Bord.
Bis zum Jahr 2025 plant ein Stab aus zehn Experten "wie was fliegt". Rund 40 bis 60 Millionen Euro investiert die Technologieabteilung jährlich in eine CO2-ärmere Zukunft, feilt an Triebwerken, die weniger Kerosin verbrauchen und leiser sind. Leicht sollen sie sein und eine längere Lebensdauer haben. Zwischen 300 Millionen und einer Milliarde Euro betragen die Entwicklungskosten bis zum einsatzbereiten Prototyp.
Was bei MTU gilt, genießt auch in der Automobilbranche einen hohen Stellenwert. Daimler zum Beispiel bezieht die Kunden aktiv in die Fahrzeugentwicklung mit ein. Dazu dienen nicht nur Zukunfts- und Akzeptanzstudien renommierter Forschungsinstitute. In Böblingen bei Stuttgart hat Daimler sogar ein eigenes Kundenforschungszentrum, das sogenannte Customer Research Center. Ein 20-köpfiges Team aus Psychologen und Ingenieuren schaut den Kunden dort auf die Finger und versucht, sie psychologisch zu durchleuchten, ihre Sinnesreize zu analysieren.
Der Kunde wird zum Forscher
"Alles aus einem Guss", nennt Laborleiter Götz Renner die Testprogramme, bei denen alles aufgenommen und protokolliert wird, was der Mensch wahrnimmt und worüber er sich ein Urteil bilden kann. "Bei uns wird der Kunde selbst zum Forscher", beschreibt Renner den vielschichtigen Testparcours. Die Reise für die Kunden beginnt im Haptiklabor, geht über das Akustik- und das Lichtlabor bis hin zu Fahrversuchen über lange Strecken.
Hören, Sehen, Fühlen - bei Daimler kommt es auf das Zusammenspiel der Sinne an. Spiegelt die Windschutzscheibe? Wie klicken die Schalter? Nichts wird außer Acht gelassen, alles wird von den Testern hinterfragt. Stimmt der Klang beim Zuschlagen der Tür? Wie fühlt sich das Lenkrad an? Ist der Fußraum optimal ausgeleuchtet? 1.000 Fragen mit einem Ziel: Perfektion.
Das Customer Research Center von Mercedes-Benz ist in der Automobilindustrie weltweit einmalig. Die Ergebnisse der psychologischen Studien dienen den Ingenieuren der Fahrzeugentwicklung als Grundlage. Bei den Analysen verbinden die Forscher qualitative Methoden wie Beobachtungen und Interviews mit der sogenannten Real-Life-Analyse. Bei diesen Langzeittests sind Kunden mit einem Fahrzeug bis zu einer Woche unterwegs und können jederzeit via Callcenter direkten Kontakt zu Daimler aufnehmen, um unmittelbar über ihre Erfahrungen zu berichten.
Wie echte Muskeln
Auf direkten Kundenkontakt schwört auch Peter Vanacker. Der Bereichsleiter für industrielles Marketing und Innovation bei Bayer MaterialScience in Leverkusen, einem der weltweit führenden Hersteller von Kunststoffen, weiß, dass der Erfolg eines Produktes manchmal "nur eine Frage des Fingerspitzengefühls ist". Sein jüngstes Beispiel nennt sich Vivitouch, ein Produkt, das nach Gesprächen mit Kunden unter anderem auf Messen entstanden ist. Den Verbrauchern reichte es nicht mehr, auf dem Bildschirm ihres Handys zu sehen, wie ein bestimmtes Computerspiel abläuft - sie wollten es fühlen.
Die hauchdünnen Folien des Chemieriesen, die sich wie künstliche Muskeln verhalten, sorgen für den zusätzlichen, realistischen Kick. Wer zum Beispiel auf seinem Smartphone oder Tablet Bowling spielt, spürt das Tempo der rollenden Kugel in den Fingerkuppen. Im Spielerparadies Las Vegas wurde diese Erfindung als Top-Innovation ausgezeichnet. Sie ist allerdings nur eine der Kreationen, für die die Leverkusener jährlich rund 300 Millionen Euro in die Forschung investieren.
Doch gut gemeinte Innovationen kommen nicht immer bei den Kunden an. Diese Erfahrung musste jüngst die Deutsche Bahn machen. Sie lud im September zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres Fahrgäste in das Zuglabor nach Magdeburg ein. Dort bewerteten mehr als 60 Kunden den Komfort in einem doppelstöckigen Nahverkehrszug.
Innovationen unerwünscht
Natürlich sollten die Fahrgäste auch Probe sitzen. Die Rückenlehnen der neuen Sitze ließen sich allerdings nicht wie bisher per Knopfdruck nach hinten kippen, sondern konnten nur durch Gewichtsverlagerung verstellt werden. Die Reaktion der Fahrgäste, die über die Funktion nicht vorab informiert wurden, überraschte die verantwortlichen Manager. Ein Fahrgast zeigte sich enttäuscht, dass er sich mit den neuen Sitzen offenbar nicht mehr zurücklehnen konnte, da er seinen gewohnten Hebel nicht wiedergefunden hatte. Ein anderer fluchte über einen angeblich defekten Sitz, nachdem er ihn durch seine Bewegungen ungewollt nach hinten gedrückt hatte. Die Folge: Das Unternehmen verzichtet nun auf den Einbau dieser Sitze.
Die Angst vor dem Kundenfeedback
Anders als die Deutsche Bahn reagieren manche Konzerne geradezu allergisch, wenn sich Kunden in ihre internen Belange einmischen. Die Kultmarke Apple zum Beispiel macht deutlich, dass sie sich von Außenstehenden nur ungern Ratschläge erteilen lässt. Weder das Unternehmen noch seine Mitarbeiter, heißt es, würden unaufgefordert eingesandte Ideen akzeptieren oder berücksichtigen, die unter anderem neue Produkte oder Technologien betreffen.
Die Erfinder von iPhone und iPad stehen mit ihrer Politik der verschlossenen Türen nicht alleine da. Auch das soziale Netzwerk Foursquare oder der amerikanische Kleiderfabrikant Williamson-Dickie sperren sich gegenüber allzu eifrigen Ideengebern. In inhaltlich fast identischen Erklärungen begründen sie ihre Abneigung. Tenor: Alle drei haben Angst vor Rechtsstreitigkeiten, sollten Einsender auf ihr Urheberrecht pochen, wenn zwischen dem eingeführten Produkt und den eingesandten Vorschlägen Ähnlichkeiten bestehen.
Weiter heißt es bei Williamson-Dickie: "Bitte schicken Sie daher unter keinen Umständen unaufgefordert Ideen, Vorschläge oder Anregungen weder an die Firma Williamson-Dickie noch an Mitarbeiter dieser Firma." Foursquare-Ratgeber werden zudem darüber informiert, dass unaufgeforderte Zusendungen und deren Inhalte automatisch in den Besitz des Unternehmens übergehen. Ein Anspruch auf finanziellen Ausgleich besteht nach Angaben der Internet-Plattform nicht.
Vom Kirchenchor in die Welt
Doch so manche Innovation findet erst über Umwege in die Verkaufsregale. Wäre Arthur Fry, ein 3M-Mitarbeiter, nicht gewesen, hätten die haftenden Notizzettel wohl nie ihren globalen Siegeszug angetreten. Fry sang an Wochenenden in einem Kirchenchor und benutze Papierstücke als Lesezeichen. Leider verrutschten sie beim Öffnen des Gesangbuches immer wieder.
Eines Sonntags fiel ihm eine Erfindung seines Kollegen Spencer Silver ein. Der hatte bereits 1968 einen Haftstoff angerührt, für den 3M bislang aber keine praktikable Anwendung fand. Fry hatte die Erleuchtung: Nach unzähligen Tests und Kundenbefragungen kamen 1980 in Amerika die ersten sogenannten Post-it-Zettel auf den Markt. Zwar mit zwölfjähriger Verspätung, aber dafür bleibt diese Innovation wohl ewig haften.
(Quelle: Wirtschaftswoche)