Ein Beispiel aus dem Fußball

Warum Zielvereinbarungen nicht funktionieren

Kommentar  von Heinrich Vaske
Zielvereinbarungen sind nicht zielführend. Wir sollten uns dieses Theater ein für alle Mal schenken.
  • Individuelle Ziele so zu formulieren, dass sie keine Fehlsteuerungen verursachen, ist schwierig
  • Wenn Menschen sich zu sehr auf ihre Ziele fokussieren, geht ihnen irgendwann der Blick für das große Ganze verloren
  • Ziele sind letztendlich ein Misstrauensvotum: Man hält Mitarbeitern ein Stöckchen hin, über das sie springen sollen. Danach gibt's ein Goodie.
Na bitte, die Performance für das neue Jahr ist gemanagt. Das gibt doch allen wieder ein gutes Gefühl.
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Na klar: Individuelle Zielvereinbarungen sollen dazu dienen, Mitarbeitende zu motivieren und zu binden. Unternehmen hoffen auf bessere Leistungen der Beschäftigten, das soll am Ende dem gesamten Betrieb zugutekommen. Die jeweiligen Einzelziele müssen die strategischen und sinnvollen Unternehmensziele unterstützen, postulieren die Theoretiker und setzen damit voraus, dass diese ausformuliert für jeden Beschäftigten vorliegen.

Also werden HR-Abteilungen für viel Geld beauftragt, einen Performance-Management-Prozess anzustoßen. Vorgesetzte setzen sich in diesem Rahmen mit ihren Beschäftigten jährlich oder neuerdings eher quartalsweise zusammen und vereinbaren

Diese Praxis, die schon in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vom zweifellos großen Ökonomen Peter Drucker vorgeschlagen wurde, ist heute nahezu unumstritten. Offenbar macht sich niemand die Mühe zu überprüfen, ob sie überhaupt funktioniert. Ich wage die These, dass die wenigsten Zielvereinbarungen sinnvoll sind.

Ein Beispiel aus der Welt des Fußballs

Wählen wir, um die Problematik - zugegeben, ein wenig überzeichnet - zu veranschaulichen, als fiktives Beispiel die deutsche Fußballnationalmannschaft. Der Bundestrainer bespricht mit seinem Torjäger, nennen wir ihn in guter Tradition Müller, seine individuellen Jahresziele, die selbstverständlich bestmöglich auf die Gesamtziele des Teams und damit auf die des DFB einzahlen. Je mehr Ziele Müller erreicht, desto sicherer gelangt Fußball-Deutschland an seine Ziele und umso höher fällt der Bonus des Spielers aus.

Trainer und Stürmer sind sich einig, dass Müller mithilfe seiner Zielvereinbarungen einige Schwächen beseitigen und einen möglichst wertvollen Beitrag für das Team erbringen soll. Also verständigt sich das Duo auf verhaltens-, aufgaben- und entwicklungsbezogene Ziele, die messbar und - normalerweise - auch machbar sind.

Die verhaltensbezogenen Ziele in unserem Beispiel lauten: Müller soll im Laufe der Länderspielsaison

Hinzu kommen drei aufgabenbezogene Ziele: Der Stürmer soll

Und dann sind da noch die entwicklungsbezogenen Ziele. Der Stürmer soll

Komplikationen beim Formulieren von Zielen gibt es immer

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Nationalspieler solche Zielvereinbarungen niemals unterzeichnen würde. Aber in den meisten Unternehmen läuft es so oder ähnlich. Gemeinsam mit der Personalabteilung denkt sich eine Führungskraft Ziele aus, die dann mit oft einem ganzen Dutzend von Mitarbeitern unter Zeitdruck abgesprochen werden. Wohlmeinende würden denken, die Verantwortlichen könnten dabei immer sicherstellen, dass die individuellen Ziele

Dumm nur, dass diese Aufzählung wahrscheinlich beliebig verlängert werden könnte. Bei Zielvereinbarungen gibt es jede Menge Unwägbarkeiten, denn ein Unternehmen mit seinen Abteilungen und Projekten ist ein lebendiges Gebilde, das mit immer neuen Situationen konfrontiert ist und sich ständig ändern muss. Wie eine Fußballmannschaft eben.

Erfahrene und verantwortungsbewusste Mitarbeiter wissen, dass Zielvereinbarungen Management-Übungen sind und nehmen sie routiniert hin. Die unterzeichnete Abmachung verschwindet meist stillschweigend in einer Schreibtischschublade oder einem digitalen Ordner und wird erst wieder hervorgekramt, wenn es zur Auszahlung des zielabhängigen Bonus kommen soll. Wenn die engagierten Mitarbeiter dann zwar einen hervorragenden Job gemacht, aber ihre Ziele nicht erreicht haben, nagt oft der Frust an ihnen. Mehr Demotivation geht nicht.

Verhaltensziel: Soll Müller Mbappé foulen?

Zurück zum Fußballbeispiel: Das Beispiel zeigt, wo die Probleme liegen. Nehmen wir mal an, die deutsche Elf spielt gegen Frankreich. Müller steht vor der Entscheidung, den quirligen Stürmer Kilian Mbappé, der gerade zu einem seiner atemberaubenden Dribblings ansetzt, etwas rustikaler zu bremsen. Der Deutsche hat sich aber schon im Laufe der Saison seine sechs Gelben Karten abgeholt. Packt er jetzt die Sense aus, wird er die siebte Karte bekommen und sein individuelles Ziel verfehlen. Also lässt Müller Mbappé ziehen. Der trifft, Frankreich wird Europameister - aber der deutsche Stürmer hat alles richtig gemacht.

Übrigens kam Müller überhaupt erst in diese kritische Situation, weil er etwas zu langsam ist. Ein Grund dafür ist, dass er seit einiger Zeit drei Mal wöchentlich einen ziemlich heftigen Workout absolviert und sich so zehn Kilo Muskelmasse antrainiert hat. Damit kann er jetzt zwar schöner foulen, aber nicht schneller laufen, im Gegenteil. Aber immerhin: Das Verhaltensziel Fitness hat er auch erreicht.

Sein drittes Ziel betrifft den Schiedsrichter. Bei dem darf er nicht mehr anecken, das hat er in diesem Spiel schon einmal getan. Doch nun hat er ein glasklares Handspiel des gegnerischen Verteidigers im Strafraum beobachtet, das unbedingt vom Videoassistenten überprüft werden müsste. Müller geht zum Verteidigerkollegen und bittet ihn, sich beim Mann in Schwarz zu beschweren. Aber der traut sich nicht, er hat ebenfalls schon zu viele Gelbe Karten. Eine kurze Umfrage auf dem Spielfeld zeigt: Der Kollege im zentralen Mittelfeld hätte noch Kapazitäten. Inzwischen ist aber das Spiel wieder angepfiffen und der Gegner rennt bedrohlich auf das eigene Tor zu. Egal, das dritte Verhaltensziel ist erreicht, Meckern und gelbe Karten wurden vermieden.

Aufgabenziel: Schießen, nicht treffen

Kommen wir zu den aufgabenbezogenen Zielen. Müller soll in der Saison mindestens zehn Tore schießen. Das wird eng, denn er hat gerade eine Pechsträhne, außerdem war er ein paar Mal verletzt und saß im Club zuletzt oft auf der Ersatzbank. Zuletzt hat ihn der Trainer auch noch ausgewechselt, weil er sehen wollte, ob vielleicht ein anderer in der Rolle die bessere Wahl wäre.

Müller schießt die Elfmeter. Das ist sein Ziel. Zu treffen ist nicht so wichtig.
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Um seine Torziel kurz vor Saisonende doch noch zu erreichen, schießt Müller in den beiden letzten Spielen des Jahres aus jeder Lage auf das gegnerische Tor - zum Ärger seiner oft besser positionierten Mitspieler. Denen hat er aber schon im Laufe des Jahres die ausgemachten acht Treffer aufgelegt, kein Handlungsbedarf also, was das Assist-Ziel betrifft. Müller trifft tatsächlich und macht seine zehn Treffer. Allerdings fällt die Länderspielbilanz insgesamt negativ aus. Das liegt auch daran, dass der Stürmer alle Elfmeter geschossen hat: Von sieben hat er fünf versemmelt. Nicht gerade toll, diese Bilanz, aber - so what? Ziel erreicht!

Entwicklungsziel: Englisch statt Fußball

Bleiben die entwicklungsbezogenen Ziele. Statt zu trainieren hat Müller am Englischunterricht teilgenommen und zu Hause gebüffelt. So lautet nun Mal sein Ziel, auch wenn er gar keine Lust auf Pressekonferenzen in Englisch hat und auch nicht beabsichtigt, in die Premier League zu wechseln. Er hat ja gerade erst in der Bundesliga seinen Vertrag verlängert und ist auch schon 32 Jahre alt. In die Pressekonferenzen könnte ja eigentlich der Innenverteidiger gehen, der hat bekanntlich viele Jahre in Manchester gespielt und ist deshalb der englischen Sprache sicher mächtig. Aber der hat andere Zielvereinbarungen.

Der Rhetorikkurs kommt Müller da schon eher gelegen. Könnte nützlich werden, wenn der Stürmer nach seiner aktiven Karriere bei Sky oder Dazn als Ko-Kommentator einsteigen möchte. Dieses Ziel deckt sich also endlich mal mit seinem Privatinteresse. Bleibt noch das Torschuss-Training. Wie bereits erwähnt, hat es sich nicht bewährt, aus jeder Lage auf's Tor zu dreschen, auch wenn Müller hier zweifellos besser geworden ist. Er hat sogar zweimal die Latte getroffen.

Im betrieblichen Alltag sind Mitarbeiterziele oft kontraproduktiv

Wer nun denkt, das Fußballbeispiel sei nicht auf das eigene Unternehmen zu übertragen, hat sicher Recht. Aber es gibt Parallelen. Nehmen wir einfach mal den Vertrieb: Niemandem ist geholfen, wenn der Verkäufer statt 120 nun 150 Kunden im Jahr ansprechen soll, aber weniger Abschlüsse vereinbart, weil er sich nicht mehr genug Zeit für den einzelnen Kunden nehmen kann. Oder nehmen wir den IT-Support, der jetzt noch mehr Tickets abarbeiten soll, aber aus Zeitmangel weniger Probleme löst, weshalb sich die Anwender jetzt gegenseitig helfen und der Hey-Joe-Effekt greift. Oder den Sachbearbeiter, der 20 Prozent mehr Fälle auf dem Tisch liegen hat, aber am Ende mit einem Burnout in der Nervenklinik landet.

Zielvereinbarungen – sechs Tipps für das Gespräch mit dem Chef
Zielvereinbarungen
Alle Jahre wieder müssen sich viele Mitarbeiter mit ihren Chefs auf Ziele einigen. Auf diese Gespräche sollte man sich vorbereiten. Winfried Gertz gibt Tipps, wie Sie sich auf das Zielvereinbarungsgespräch vorbereiten können.
Ziele fixieren
Ziele sollten schriftlich fixiert und die Auswirkungen von Nicht- und Übererfüllung klar benannt werden.
Ziele richtig setzen
Ziele sollten anspornend und nicht überfordernd sein. Daher sind realistische Ziele wichtig.
Einwände sachlich vorbringen
Tragen Sie Einwände oder Befürchtungen sachlich vor. Regen Sie an, wie Ziele besser formuliert werden könnten.
Offene Kommunikation
Zielvereinbarungen bedürfen einer offenen und ehrlichen Kommunikation. Sprechen Sie über Ihre Ängste, vermeiden Sie aber Kritik an Unbeteiligten.
Zielvorgaben überprüfen
Weisen Sie frühzeitig darauf hin, wenn die Zielvorgaben durch äußere Umstände nicht mehr erreichbar sind.
Zielvorgaben anpassen
Drängen Sie auf eine Anpassung der Ziele, bevor es zu spät ist.

Zielvereinbarungen folgen der Illusion, es gäbe einfache Lösungen für komplexe Aufgaben. Die Idee, die Mitarbeitenden zu motivieren, gezielt zu fördern und ihnen das Gefühl zu geben, ein wichtiger Baustein in einem funktionierenden System zu sein, ist ehrenhaft. Allein, sie funktioniert nicht. Unternehmen verändern sich ständig, in den seltensten Fällen lassen sich - ausgehend von der Konzernstrategie bis auf die unterste Arbeitsebene - sinnvolle Individualziele formulieren. Immerhin verdienen die Beratungshäuser gut daran, diese Illusion aufrechtzuerhalten.

Am Ende kommt es für Unternehmen und ihre Vorstände darauf an, die Menschen zu begeistern und eine Kultur des Vertrauens zu schaffen. Es geht um sinnvolle Aufgaben, Zugehörigkeit, ein Gemeinschaftsgefühl - und damit letztlich um Bindung. Haben die Beschäftigten Klarheit darüber, wohin es gehen soll, und zudem das Gefühl, einen wertvollen Beitrag zu leisten und dabei aufrichtig und fair behandelt zu werden, werden sie sich verantwortlich fühlen und entsprechend handeln. Dann gehen sie, um in der Fußballersprache zu bleiben, auch mal dahin, wo es wehtut.

Sie konzentrieren sich nicht auf ihre Partikularziele, sondern auf das Team, in dem alle gerne zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen. Die Menschen erledigen ihre Aufgaben motiviert und mit Überzeugung - ohne, dass ihnen ständig eine Möhre vorgehalten werden muss. Und zum Schluss: Eine gute Idee ist es auch, die Menschen am Erfolg ihres Unternehmens zu beteiligen und ebenso auch mal gemeinsam Durststrecken zu durchstehen. Das hilft den Unternehmenszielen mehr als jede betriebliche Zielvereinbarung.