Es ist der beispiellose Absturz des Börsenstars und der wohl größte Betrugsfall in der Nachkriegsgeschichte: Der Fall Wirecard hat nicht nur finanziell großen Schaden verursacht, sondern das Vertrauen in den Finanzstandort Deutschland beschädigt. Jetzt hat sich die Bundesregierung auf erste Konsequenzen geeinigt. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) präsentierte sie am Mittwoch ausgerechnet einen Tag, bevor im Bundestag ein Untersuchungsausschuss zu dem Fall beginnen sollte. Ein Ausschuss, der dem Kanzlerkandidaten der SPD im Wahljahr 2021 noch gewaltig in die Parade fahren kann.
So aber konnte Scholz erst einmal betonen, die Bundesregierung - dabei vor allem die SPD-geführten Ministerien für Finanzen und Justiz - arbeiteten mit Hochdruck an der Aufarbeitung des Skandals. Schwachstellen bei der Bilanzkontrolle sollen beseitigt, Schlupflöcher geschlossen und komplexe internationale Unternehmenskonstrukte wirksamer kontrolliert werden. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) soll mehr Befugnisse bekommen. "Wir wollen mehr Biss für die Bafin", sagte Scholz.
Wirecard machte offenbar jahrelang Verluste
Justizministerin Christine Lambrecht betonte, der Fall Wirecard habe deutlich gezeigt, "dass unser System der Finanzkontrolle bei hoher krimineller Energie an seine Grenzen stößt". Es gehe darum, verloren gegangenes Vertrauen in den Finanzstandort Deutschland zurückzugewinnen. "Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass Anlegerinnen und Anleger sich auf öffentliche Jahresabschlüsse verlassen können", betonte die SPD-Politikerin.
Der inzwischen insolvente Konzern Wirecard hatte im Sommer Luftbuchungen von 1,9 Milliarden Euro eingeräumt. Das Unternehmen saß als Dienstleister für bargeldlose Zahlungen an Ladenkassen und im Internet an der Schnittstelle zwischen Händlern und Kreditkartenfirmen - in einem hart umkämpften Markt.
Nach bisherigem Stand der Ermittlungen machte Wirecard jahrelang Verluste. Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass das Unternehmen seit 2015 Scheingewinne auswies. Mehr als drei Milliarden Euro könnten verloren sein. Die Bafin und eine private Wirtschaftsprüfungsgesellschaft stehen in dem Fall in der Kritik.
Mehrere Maßnahmen sollen folgen
"Wirecard ist das Ergebnis kriminellen Handelns", betonte Scholz. Das dürfe aber nicht davon abhalten, Vorkehrungen zu schaffen, damit so ein Fall nicht erneut geschehen könne. Mehrere Maßnahmen sollen in den kommenden Wochen als Gesetze dem Kabinett und dem Bundestag vorgelegt werden:
Bafin-Ermittlungen
Die Finanzaufsicht kommt bei der Überprüfung von börsennotierten Unternehmen bisher erst spät ins Spiel. Zunächst sind private Wirtschaftsprüfer für die Buchprüfung zuständig, dann die privatrechtliche Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR). Das soll sich nun ändern. Bei Verdachtsfällen soll die Bafin künftig allein für Prüfungen zuständig sein.
Wirtschaftsprüfer
Abschlussprüfer sollen künftig auch bei Kapitalmarktunternehmen alle zehn Jahre wechseln. "Das soll verhindern, dass Abschlussprüfer betriebsblind werden, weil sie sich zu lange mit demselben Unternehmen beschäftigt haben", sagte Lambrecht. Die Prüfer sollen stärker in Haftung genommen werden. Außerdem sollen Wirtschaftsprüfer ein Unternehmen nicht mehr zugleich prüfen und beraten dürfen.
Härtere Strafen
Der "falsche Bilanzeid", also wenn fälschlicherweise behauptet wird, ein Abschluss vermittele ein zutreffendes Bild der Lage eines Unternehmens, soll zu einem eigenen Straftatbestand werden - mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe.
Finanzgeschäfte von Bafin-Mitarbeitern
Private Finanzgeschäfte der Bafin-Mitarbeiter sollen stark eingeschränkt werden, um jeden Anschein eines Interessenkonflikts zu vermeiden.
Die Opposition, aber auch der Koalitionspartner Union, zeigte sich enttäuscht über die Vorschläge. Der Aktionsplan biete "wenig mehr als die Ankündigung, dies oder jenes zu prüfen" sagte Danyal Bayaz, der für die Grünen im Wirecard- Untersuchungsausschuss sitzen wird. "Olaf Scholz versucht sich in der Inszenierung als großer Aufklärer, indem er Geschäftigkeit genau einen Tag vor Beginn des Untersuchungsausschusses vortäuscht."
Der Linken-Finanzpolitiker Fabio De Masi kritisierte, Wirtschaftsprüfer nur alle zehn Jahre auszutauschen, reiche nicht aus. FDP-Finanzpolitiker Florian Toncar warf Scholz vor, von seinem eigenen Versagen als oberster Chef der Finanzaufsicht ablenken zu wollen. "Da trieft das schlechte Gewissen aus jeder Pore." Auch der Unions-Finanzpolitiker Matthias Hauer zeigte sich enttäuscht.
Olaf Scholz stellt sich den Kritikern
Diese Kritik wird sich Scholz in den kommenden Monaten auch im Bundestags-Untersuchungsausschuss zum Fall Wirecard anhören müssen. Im Kern steht hier die Frage, ob Wirecard als deutsches Fintech-Unternehmen und aufstrebender Börsenstar trotz Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten von Aufsichtsbehörden mit Samthandschuhen angefasst wurde. Es gilt als sicher, dass der Vizekanzler als Zeuge geladen wird.
Scholz zeigte sich am Mittwoch entspannt. Dass er seinen Aktionsplan ausgerechnet am Vortag der ersten Ausschusssitzung vorlege, sei Zufall. Er freue sich über den Ausschuss, machte Scholz klar - und warnte vor dem Einfluss mächtiger Interessengruppen aus der Wirtschaft. "Wenn es den Ausschuss nicht geben würde, würde die Kraft für die Reform, die wir jetzt auf den Weg bringen wollen, vielleicht nicht reichen", sagte er. Der Untersuchungsausschuss und der damit einhergehende öffentliche Druck könnten sogar helfen. (dpa/rs)