Wenn Jugendliche schon mit 16 Jahren Auto fahren dürfen - dann kommen sie auf dem Land besser herum, dann können sie vielleicht leichter eine Lehrstelle finden und ihre Betriebe besser unterstützen. Und das, so argumentiert zumindest der FDP-Politiker Hagen Reinhold, hilft vor allem den dünn besiedelten ländlichen Gebieten in Ostdeutschland.
Wie der Liberale aus Rostock schwärmen die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP unisono von den Chancen, die sich vor allem für die ostdeutschen Länder in ihrem Koalitionsvertrag finden - nicht nur das begleitete Fahren ab 16. "Potenziale haben wir unendlich viele", sagt Reinhold. Es gehe nicht um eine Ost-West-Debatte oder eine besondere Behandlung der neuen Länder, sondern "dass das ganze Land profitiert". Das sei eine neue Herangehensweise. Ostdeutschland als Vorreiter und Vorbild des Wandels, so sieht Reinhold das.
31 Jahre nach der Vereinigung
Der Görlitzer Soziologe Raj Kollmorgen analysiert die Pläne etwas nüchterner, aber unterm Strich gar nicht so anders. "Dieser Koalitionsvertrag lässt nicht die Absicht erkennen: Jetzt tun wir etwas Besonderes für den Osten", sagt der Professor. Aus seiner Sicht ist das 31 Jahre nach der Vereinigung aber auch passend. Die Ampelparteien fassen diverse Großthemen an, die das ganze Land betreffen - aber im Osten besonders wirken.
Das lässt sich am SPD-Papier "22 Punkte für den Osten" gut ablesen. Nummer eins der von den Sozialdemokraten gefeierten Errungenschaften ist die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro. Gilt für alle, hilft aber vor allem im Osten, lautet das Argument. "Regional würde ein höherer Mindestlohn vor allem Beschäftigte im Osten und Norden der Republik erreichen", bestätigt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sieht im Koalitionsvertrag "viele Punkte", die gerade Menschen in Ostdeutschland nutzten. "So bedeutet der Mindestlohn von 12 Euro in Brandenburg für über 360.000 Menschen eine Gehaltserhöhung und mehr Respekt für ihre Arbeit", sagt er als Beispiel.
Punkte für den Osten
Ähnlich ist es mit dem anstelle von Hartz IV geplanten Bürgergeld oder der Kindergrundsicherung: In den östlichen Bundesländern sind soziale Netze oft bedeutsamer. Dort lebten 2019 nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Beispiel knapp 17 Prozent der Kinder in Hartz-IV-Familien - in Westdeutschland waren es 13 Prozent. Das SPD-Papier nennt als "Punkte für den Osten" auch die geplante Kapitaldeckung der Rente oder die Senkung der Strompreise über die Abschaffung der EEG-Zulage für erneuerbare Energien. Da ist der besondere Nutzen für Thüringer, Sachsen oder Brandenburger nicht ganz so offensichtlich.
Die Grünen münzen vor allem die beschleunigte Energiewende zum Erfolg für den Osten. "Es geht nicht nur darum, den früheren Kohleausstieg zu haben, sondern auch Strukturvorhaben vorzuziehen", sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. So hat es die Gründung einer Uni-Medizin in Cottbus in den Koalitionsvertrag geschafft. Die von 2038 auf 2030 vorgezogene Abkehr von der Kohle löst in den ostdeutschen Revieren aber auch viel Unruhe aus.
Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation
Gezielt ostdeutsche Projekte gibt es gar nicht so viele in dem knapp 180 Seiten starken Vertrag. FDP-Politiker Reinhold zählt dazu das Versprechen einer Ansiedlung von Forschungsinstituten in Ostdeutschland, den Umbau von Förderinstrumenten und die bessere Vertretung Ostdeutscher in Führungspositionen. Erstmals gebe es dafür einen Zeitplan. "Für die Ebene des Bundes legen wir bis Ende 2022 ein Konzept zur Umsetzung vor", heißt es im Vertrag. Schon Anfang nächsten Jahres soll die Standortsuche für das "Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation" beginnen.
Und schließlich soll künftig im Kanzleramt ein "Staatsminister für die neuen Bundesländer" wirken - der bisher für Ostdeutschland zuständige CDU-Politiker Marco Wanderwitz war nur parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Eine Aufwertung, findet Reinhold.
Über die Bezeichnung der neuen Position mokiert sich allerdings die Sozialwissenschaftlerin Judith Enders, einst Mitgründerin der Initiative Dritte Generation Ostdeutschland. Wie lange man wohl noch von den "neuen Bundesländern" sprechen wolle, fragt Enders und wünscht sich mehr Nachdenken über Begriffe. Ihre Erwartungshaltung an den Koalitionsvertrag sei nicht gewesen, dass "da ein Knaller für den Osten drin steht". Aber den Ansatz, "indem wir was für alle tun, tun wir besonders was für den Osten", findet sie "ein bisschen denkfaul".
Politische Bildung, Demokratieförderung, die Abmilderung des Stadt-Land-Gefälles, der Erhalt von Kitas und Kliniken in der Fläche, da gäbe es schon Anlass für einen "etwas größeren Denkprozess", findet Enders. "Mehr als die Hälfte der Ostdeutschen fühlt sich als Bürger zweiter Klasse. Da muss man Maßnahmen finden, die dem entgegenwirken." (dpa/rs)