Enterprise Architecture Management war vor 20 Jahren vor allem Instrument, um IT-Landschaften zu harmonisieren und zu konsolidieren. Heute werden flexible Architekturen erarbeitet, die schnelle Veränderungen in Geschäfts-, und Arbeitsprozessen sowie technische Innovationen integrieren können, um so die digitale Transformation in den Unternehmen zu beschleunigen.
Das kann allerdings nur funktionieren, wenn sich Vorgehen und Arbeitsweisen anpassen lassen; sprich weg vom Vorschreiben, Kontrollieren, Dokumentieren und Controlling hin zur aktiven Unterstützung von Innovationen und einer eher beratenden Begleitung, die zu architektonischen Leitlinien führen, die Mitarbeiter leben und die nicht immer kontrolliert werden müssen, ob sie eingehalten werden.
Dieses modifizierte Selbstbild und die neuen Vorgehensweisen beginnen sich auch in Know-how und Arbeitsweisen von Architekten niederzuschlagen. Die CW hat deshalb Enterprise-Architekten verschiedener großer und internationaler Unternehmen, die im Cross Business Architecture Lab organisiert sind, Fragen nach der Veränderung der Enterprise Architecture und den sich daraus ergebenden Anforderungen an Architekten, gestellt.
Veränderte Rolle der Enterprise Architecture bei Daimler
Wilfried Reimann, Head of Architecture und Innovation bei der Daimler AG, bringt die alte Rolle der Enterprise Architecture (EA) in seinem Unternehmen auf folgende Formel: "In der Vergangenheit haben wir daran gearbeitet, eine optimale Systemlandschaft für ein stabiles Unternehmen herzustellen. Die EA - nicht nur bei uns - war eine Vertreterin des Minimalitätsprinzips - es wurde nur das erlaubt, was unbedingt nötig war. Das ist nicht die beste Methode, um schnell und agile neue Felder zu erobern."
Den zunehmenden Stellenwert der Enterprise Architecture führt Reimann auf die heute viel größere Bedeutung der IT zurück, die dank der Digitalen Transformation in vielen Unternehmen wieder eine Hauptrolle spielt. "Heute wird in den meisten Fällen Wertschöpfung durch Software und darauf basierende Services erzielt. Das erhöht den Druck auf die IT, diese Möglichkeiten zu schaffen und schneller zu werden.
Allerdings darf man dabei die Veränderungen in der bestehenden IT-Landschaft nicht ignorieren. Um eine existierende IT-Landschaft schnell verändern zu können, muss man auch das Core-System schnell adaptieren können. Zunehmende Komplexität muss immer wieder reduziert werden, Interfaces einfach gehalten und ihre Verschiedenheit begrenzt bleiben."
Reimann sieht die nähere Zukunft der EA deshalb optimistisch. "Sollten früher IT-Landschaften in Komplexität und in Kosten begrenzt werden, geht es heute in der EA darum, die Veränderungsfähigkeit der Systeme zu erhalten", sagt er. Voraussetzung dafür sei, dass sich Architektur intensiv um Innovation kümmert, den Change treibt, den Überblick behält und die bestehenden Systeme beherrscht.
Enterprise Architect kann nicht mehr aus Controlling kommen
Um die Schnelligkeit der IT zu erhöhen, wird Daimler die Fertigungstiefe der IT deutlich erhöhen. "Wir werden deutlich mehr Softwareentwickler einstellen und Leute mit starken technischen Skills, die Applikationen selbst realisieren können." Das gilt auch für Architekten, da sie Teil der Entwicklungsteams sein werden, berichtet Reimann. EA müsse fit sein in den innovativen Disziplinen, sie müsse Systeme selbst bauen und mit den neuen Teams arbeiten können.
Reimann wünscht sich deshalb Architekten, die auch sehr gute Cloud-Architekten sind, die Anwendungen parallelisieren können, die gerne in DevOps-Umgebungen arbeiten, also "eher technisch orientierte Leute". Sie brauchen dieses technische Know-how und entsprechende Erfahrungen, um überhaupt Ernst genommen zu werden. Und natürlich benötigen sie sehr gute Kommunikations- und Moderationsfähigkeiten. Aber nur mit Rhetorik kommen Architekten heute nicht mehr weiter. "Früher konnte man auch aus dem Controlling heraus Architekt werden. Aber das geht nicht mehr."
Architekten gehen stark in die Moderatorenrolle
Eine andere leitende Enterprise-Architektin in einem sehr großen deutschen Industrieunternehmen legt dabei deutlichen Wert auf die Moderations- und Kommunikationsfähigkeiten der Architekten: " Wir sind bringen viele Fraktionen zusammen und schauen, dass ihnen geholfen wird." Die Enterprise-Architektin, die nicht namentlich genannt werden möchte, hält zwar Spezialistentum bei Architekten auch für sehr wichtig, aber "wir setzen Architekten immer mit einem gewissen Generalistentum gleich".
Da ein Architekt eine Brücke zwischen Softwareentwicklung und Fachbereichen bauen müsse, sei es wichtig, früh überfachliche Skills wie Moderationsgeschick, Kommunikationsverhalten oder Konfliktlösungs- und Vermittlungskompetenz zu entwickeln. Ähnlich wie bei Daimler wird auch in ihrem Unternehmen ein neues Ausbildungskonzept erarbeitet und sogar ein eigener Fach-Karrierepfad für Architekten.
Auslöser für den Bedeutungsgewinn von EA ist auch hier die Digitalisierung, so die Enterprise Architektin: "Alle merken, dass Digitalisierung nur mit IT funktioniert, mit mehr und modernerer und wahrscheinlich auch anderer IT. Das löst einen Run auf die IT-Abteilungen aus, und die Fachbereiche merken, dass sich ihre Forderungen zum Teil überlappen, widersprechen oder schon von anderen gestellt worden sind. Deshalb sehen sie auch, dass es eine Instanz geben muss, die trotz dieser vielen verschiedenen Anforderungen das Gesamtsystem und seine Effizienz nicht aus den Augen verliert. EAM kann diese Instanz sein, weil sie das Wissen und die Tools dazu hat."
Kundenorientierung widerspricht den alten EA-Regeln
Die vielen neuen Anforderungen, die auch Ausbildung und Arbeitsalltag der EA drastisch verändern, lassen sich für die Architektin in einem Wort zusammenfassen: Kundenorientierung. "Das relativiert natürlich die Regeln der traditionellen EA, bei denen es um Redundanzfreiheit, Harmonisierung von Systemen und einheitlichen unternehmensweiten Standards geht. Dem Endkunden ist das völlig gleichgültig. Er will eine schnelle, einfach verständliche Applikation, die auch bei der Bedienung noch Spaß machen soll."
Daraus resultiert auch eine neue Arbeitsweise der EA. "Wir wollen nicht mehr mit Regeln und Vorgaben von oben nach unten arbeiten, sondern mit Angeboten, die von vielen als hilfreich empfunden werden. Das wirkt wie eine `sanfte´ Standardisierung. Man verordnet keine Standards mehr, sondern diese sind so attraktiv, dass sie jeder benutzen will." Diese neue Mindset wirke sich auf die Zusammenarbeit mit der EA aus und garantiere im Grunde, dass "wir uns weder im Elfenbeinturm wiederfinden noch als Bremser empfunden werden."
Enterprise Architekten bei DB Systel: Weniger Kontrolle, mehr Kooperation
Stefan Gerberding, Enterprise Architekt der DB-Systel, berichtet, dass die Deutsche Bahn im vergangenen Jahr das Programm "Zukunft Bahn" gestartet hat, das den Konzern in die Digitalisierung begleitet. "Die Umgestaltung der IT-Landschaft ist Teil dieses Zukunftsprogramms und Enterprise Architecture ein wichtiger Baustein darin", erklärt Gerberding.
Zurzeit arbeiten allein in der DB-Systel 150 bis 200 Architekten, davon rund 30 im Bereich der Enterprise-Architektur. Ein Team unterstützt den CIO bei der Planung der internen IT, ein anderes arbeitet mit dem CTO der DB Systel. Es nimmt Querschnittaufgaben wahr, entwickelt Referenzarchitekturen, übernimmt die IT-Governance und analysiert Technologietrends.
DB-Systel stellt Architekten ein, die ein technisches Studium absolviert haben, mehrere Jahre Berufserfahrung als Softwareentwickler und/oder Projektleiter haben sowie gute Kommunikationsfähigkeiten bis hoch zur C-Level-Ebene besitzen. Die wünschenswerten Eigenschaften eines Architekten beschreibt Gerberding mit: "zielstrebig, strukturiert, offen für Neues, Lern- und Kommunikations- sowie Kritikfähigkeit."
Ihm sind tiefe Kenntnisse in der Software-Architektur wichtig und Erfahrungen als Architekt in (großen) IT-Projekten. "Dabei lege ich auch Wert darauf, dass die Leute gelernt haben, welche der entworfenen Architekturen sich in der Praxis bewähren." Projektmanagement-Erfahrung findet der DB-Systel-Architekt bei Software-Architekten als hilfreich, bei Enterprise Architekten erachtet er sie als Muss.
Auch Gerberding sieht viele Veränderungen in der Arbeitsweise. Zum einen werde das benötigte Skillset größer, weil von Architekten Kenntnisse benötigt würden, um Eigenschaften in der entwickelten Software zu realisieren, die früher von der Rechenzentrums-Infrastruktur bereitgestellt wurden. "Da musste sich der Architekt weder um Hochverfügbarkeit noch um Netzwerksicherheit kümmern. In der Public Cloud, für die wir in Zukunft viele unserer Systeme entwickeln werden, muss er darüber nachdenken, wie sich das am besten realisieren lässt." Außerdem ändere sich gerade das Vorgehen: weg vom Wasserfall-Modell hin zu agilem Vorgehen. "Die Architekten müssen sich umorientieren. Sie werden zum Teil direkt in DevOps-Teams mit ihren Kollegen in der Entwicklung zusammenarbeiten und schon hier an der Architektur mitarbeiten."
Laut Gerberding wird sich die Rolle der Enterprise Architecture insgesamt von einer eher kontrollierenden zu einer mitentwickelnden Organisation verändern. Ihm zufolge werden das Architekturwissen und die Sensibilität dafür in der IT deutlich ansteigen, sodass es weniger zentraler Governance bedarf.
"Natürlich wird es weiter Guidelines geben, und in besonders sensiblen Bereichen wie Sicherheit werden wir sehr aktiv mitarbeiten. Aber dieses Schwergewicht auf Governance des Gesamtsystems wird es nicht mehr geben. Diese Ansätze haben sich in der digitalen Welt als zu langsam herausgestellt. Unser Ziel ist, sehr viel mehr Verantwortung in die Teams zu übertragen und sie mit genügend Architektur-Know-how und -Sensibilität auszustatten."
Schweizer SBB: Strikte Governance stört agile Entwicklung
Laut Yannis Baillet, Enterprise Architekt bei der Schweizer SBB, veränderten sich die Rahmenbedingungen für EA auch im Schweizer Konzern. Plötzlich waren Systemstabilität und Redundanzfreiheit nicht mehr die wichtigsten Kriterien für die IT, sondern Agilität und Flexibilität. "Und da ist eine strikte Governance, die sich über die gesamte IT erstreckt, eher störend", erläutert Baillet.
Da sich die Architektur aber sehr früh fragte, wie sie den Wunsch nach mehr Agilität unterstützen kann, wurde EAM bei den Schweizern nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Im Gegenteil. Da die IT den Digitalisierungsprozess steuern soll und die "alte" Architekturtruppe dabei eine führende Rolle spielen soll, hat EAM auch heute einen sehr hohen Stellenwert. "Die traditionelle Rolle der Architektur als Governance-Instanz ist heute weniger gefragt", so Baillet.
Seiner Meinung nach liegt das vor allem an den Prinzipien der agilen Entwicklung. Der klassische Bebauungsplan mit festen Entwicklungsschritten und zentralen Gateways funktioniert nicht mehr. In agilen Umgebungen ist die Verantwortung für Architektur auf die Teams verteilt; dazu gehört auch - zumindest teilweise - die Verantwortung für die eingesetzte Technologie und den reibungslosen Betrieb.
Hinzu komme, dass der Einsatz von Tools und Technologien heute sehr viel "labiler" ist als früher. "Entwickler probieren bestimmte Tools aus, arbeiten vielleicht eine Zeit damit, aber sobald etwas Besseres auftaucht, benutzen sie das neue Tool. Man kann das Vorgehen der Mitarbeiter nicht mehr auf bestimmte Methoden und Werkzeuge eingrenzen. Dafür entwickelt sich alles viel zu schnell."
Deshalb setzt das Architekturteam von SBB auch nicht mehr auf Durchsetzung, sondern eher auf Beratung. "Wir wollen helfen, die Projekte erfolgreich zu machen", erklärt Baillet den Ansatz. Heute laufen nur noch Projekte mit großer Relevanz durch ein Architektur-Gate. Relevanz wird in strategischer Bedeutung, Budgetrahmen und Risiko festgemacht. Auch das Gate selbst wurde verändert.
Weg von einem harten Gate hin zu einem Begleitprozess. "Man kann sich das als Embedded Architect vorstellen. Architekten und Projektteams arbeiten von Anfang an zusammen, besprechen die Architektur-kritischen Punkte und die Architektur hilft dem Projektteam, sie zu erfüllen oder schlägt Alternativen vor. Das kann soweit gehen, dass Architekten direkt im Projektteam arbeiten", erläutert Baillet.
Und was erwartet der Schweizer Konzern von seinen Architekten? Die Ausbildungshintergründe sind sehr unterschiedlich. Aber der Tenor der Anforderungen ist ähnlich wie in den anderen erwähnten Unternehmen. Architekten sollen ein Studium abgeschlossen haben und müssen Berufserfahrung aufweisen als Software-Entwickler oder Architekt. Allerdings kommen für Baillet auch Kandidaten mit Business-Hintergrund in Frage. Jedoch sollten diese eine hohe IT-Affinität und -Wissen mitbringen. Architekten bei SBB müssen über umfangreiches generalistisches Technikwissen verfügen, aber eben auch über starke Kommunikations- und Beratungsskills.
Neue EA kann auch dem CDO oder CEO zugeordnet werden
Über die Einschätzungen der hier zitierten Enterprise Architekten hinaus geht das Cross Business Architecture Lab davon aus, dass Enterprise Architekten künftig auch mehr Domänenwissen und Business-Know-how mitbringen müssen, um die Herausforderungen zu meistern, die sich ihren Unternehmen im Zugeder digitalen Transformation stellen.
"Die neue Enterprise Architecture muss keine reine CIO-Disziplin mehr sein, sondern kann eine Unternehmensdisziplin sein, die in ihrer Rolle auch dem CDO, COO oder CEO zugeordnet werden kann", erklärt Karsten Schweichhart, Vorstand des Cross- Business-Architecture Lab, einem Verband, in dem sich große Anwenderunternehmen mit Enterprise Architecture und Digitalen Transformation auseinandersetzen.
Geschwindigkeit, Flexibilität und Interoperabilität seien die kritischen Erfolgsfaktoren des künftigen Architecture Managements. Dazu bedürfe es, so Schweichhart weiter, einer viel stärkeren Verzahnung mit anderen Fach-Planungsprozessen im Wertschöpfungsnetzwerk: Produktionsplanung, Marketing und Vertrieb, Innovations- und Digitalisierungsplanung - und zwar nicht als Anforderungsnehmer, sondern als gleichberechtigter Planungspartner.