Dr. Data

Was Künstliche Intelligenz in der Medizin kann

07.08.2019
Sind Computer - etwa bei Krebsdiagnosen - schon klüger als ein Fachärzteteam? Mediziner bezweifeln das und nutzen Rechner bislang meist nur als unterstützende Assistenten. Doch wird es dabei bleiben?

Dr. Data in die Notaufnahme: Für Dietmar Frey ist das keine Science-Fiction. Der Neurochirurg an der Berliner Charité und sein Team aus Ärzten und IT-Experten tüfteln an Rechnern mit Künstlicher Intelligenz, die einer Behandlung von Patienten mit akutem Schlaganfall zugute kommen soll. "Das ist mehr als eine Idee. Wir haben die Technik, einen Prototypen und erste Machine-Learning-Modelle", sagt Frey.

KI hält auch im Gesundheitswesen Einzug.
Foto: everything possible - shutterstock.com

Das Forschungsprojekt hat im Mai begonnen und läuft über mehrere Jahre. Frey ist jetzt schon überzeugt: "Wir können individueller therapieren." Wenn 2019 das Wissenschaftsjahr mit dem Schwerpunkt Künstliche Intelligenz beginnt, wird es in der Medizin um Fragen gehen wie: Was können Computer - und wo bleiben Ärzte unersetzlich?

Rund 270.000 Bundesbürger trifft jedes Jahr "der Schlag". Dann rennt die Zeit. Wird das Gehirn nicht ausreichend mit Blut und Sauerstoff versorgt, stirbt Gewebe ab. Die Folgen können dramatisch sein, Sprachausfälle und Lähmungen drohen.

Ärztliche Leitlinien in Deutschland besagen, dass das betroffene Hirngewebe nach viereinhalb Stunden tot ist und Nebenwirkungen einer Therapie noch mehr Schaden anrichten können - Blutungen im Kopf zum Beispiel. Deshalb werde nach viereinhalb Stunden heute routinemäßig nicht mehr therapiert, sagt Frey. "Das mag statistisch korrekt sein, für den individuellen Patienten ist das jedoch nicht immer die richtige Therapie."

Für Frey ist ein Patient mehr als eine statistische Größe. Er vermutet, dass Therapien in bestimmten Fällen auch nach viereinhalb Stunden noch Sinn machen - und in anderen vielleicht schon nach zwei Stunden nicht mehr. Aber wie weiß man, für wen was gilt?

KIs sind schneller

Für Frey ist die Antwort klar: Eine Maschine könnte in Minutenschnelle tausende Vergleichsdatensätze zu Schlaganfällen durchsuchen. Sie abgleichen und Muster aufzeigen, die einem Arzt in der Rettungsstelle bei der Entscheidung helfen könnten. Ein Job für Dr. Data.

Das ist ein Spitzname für Rechner, die in der Medizin mit Künstlicher Intelligenz (KI) arbeiten. Der Doktortitel ist dabei wohl zu hoch gegriffen: Rechner könnten und sollten im Moment keine Ärzte ersetzen, sondern sie als Assistenten in ganz unterschiedlichen Bereichen unterstützen, sagt Felix Nensa, Radiologe und Informatiker an der Uniklinik Essen. Vor allem dort, wo der Mensch eine Fehlbesetzung sei: bei langweiligen und ermüdenden Tätigkeiten wie der Tumorvermessung oder auch beim Speichern und Scannen tausender Bild- und Textdateien.

KI meint - noch - nicht, dass Computer wie der legendäre "Hal" in Stanley Kubricks "Odyssee im Weltraum" nach Herrschaft streben und Menschen überflüssig machen. KI steht für Datenbanken und Rechner, die trainiert werden, nach programmierten Mustern zu fahnden.

Ohne ausreichend Daten kein guten Ergebnisse

Sinnvolles Programmieren ist eine Kunst, auch in der Medizin. "Man braucht ausreichend große Trainingsdaten-Sets und muss Variabilität abbilden können", sagt der Bioinformatiker Benedikt Brors am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Sei ein Datensatz zu klein, könne der Rechner zum Beispiel Muster bei sehr seltenen Tumorerkrankungen nicht erkennen - zu wenig Input.

"Ganz vereinfacht ist es so, dass ein Computer erkennt: Auf diesem Bild ist eine Katze. Und auf jenem ist ein Hund." Lege man ihm ein neues Bild vor, ordne er Katze und Hund richtig zu. Das System könne aber prinzipiell nur das lernen, was man ihm vorsetze. "Mit einem Bild von einem Pferd kann es nichts anfangen." Doch im besten Fall lernten die Programme mit jedem neuen Input dazu und steigerten so ihre Leistungsfähigkeit.

Das DKFZ entwickelt seit zehn Jahren ein KI-System, das anzeigen soll, ob Neuroblastome - sehr seltene Tumore bei Kindern - aggressiv sind oder eher harmlos. Davon hängt die Therapie ab. Doch es wird noch dauern mit der klinischen Erprobung. Die Anforderungen für eine Zertifizierung seien extrem hoch, sagt Brors. "Normalerweise würde man sich eine Firma dafür suchen. Aber mit rund 120 Neuerkrankungen in Deutschland pro Jahr ist der Markt zu klein." Das lohne sich nicht für ein Unternehmen. "Also müssen wir das selbst machen."

Diese Do-it-yourself-Taktik hat Dietmar Frey an der Charité auch im Sinn. Seine Rechner haben bereits über 1400 Schlaganfälle geladen. Es sind echte Patientenschicksale, anonymisiert und heruntergebrochen auf Formeln. Es geht unter anderem um Angaben zu Alter, Geschlecht, Gewicht, Rauchgewohnheiten, Vorerkrankungen, genommenen Medikamenten und Laborwerten. Freys Plan ist es, diesen Datenschatz abrufbereit in der Notaufnahme zu haben, wenn ein neuer Patient mit akutem Schlaganfall eingeliefert wird.

Die optimale Therapie in Miunutenschnelle

10 bis 15 Minuten blieben heute im Schnitt für die Diagnostik in der Rettungsstelle, weitere 10 für eine Entscheidung über eine Therapie, berichtet Frey. Er möchte, dass künftig direkt nach der Aufnahme eines Patienten der Rechner im Hintergrund analysiert, ob es vergleichbare Ausprägungen eines Schlaganfalls gab, wie verfahren wurde und ob das half. Die Ergebnisse soll der Computer binnen Minuten ausspucken - damit die behandelnden Ärzte die beste Therapie für den Patienten finden können, der gerade vor ihnen liegt.

"Der Mehrwert wäre das Abwägen von individuellem Nutzen und Risiko", erläutert der Neurochirurg. "Ein Arzt hat heute weder die Zeit noch die Kapazitäten, in der Notaufnahme Aktenberge für Vergleiche zu wälzen. Und im Kopf haben und berechnen kann er das alles schon gar nicht."

Ginge sein Plan in der klinischen Erprobung auf, könnte das Programm auch anderen Kliniken nutzen. Es ist an EU-Forschung angedockt, könnte über Deutschland hinaus strahlen. Frey denkt über eine Ausgründung nach, beschäftigt sich mit Datenschutz. Es könnte eine große Nummer werden - aber wer weiß das schon. Weltweit gibt es kaum Abstimmungen, wer woran forscht. Es herrscht Wettbewerb.

In Essen baut Mediziner Nensa seit mehreren Jahren mit einem Technologiekonzern Bilddatenbanken auf: CT- und Röntgenbilder von Lungenleiden samt klinischen Daten. "Wir haben immer wieder neue Fälle", sagt er. "Dann gucken wir uns die neuen Bilder dazu an und denken manchmal: Puh, was ist das denn jetzt?" Früher hätten Ärzte elektronische Lehrbücher angezapft. "Dafür mussten wir dieses Bild in Worte fassen. Das ist bei seltenen Lungenerkrankungen echt schwierig."

Mit der KI-Datenbank läuft es anders. "Wir können jetzt in einer neuen Aufnahme Bereiche markieren und den Computer suchen lassen." Gab es schon mal einen ähnlichen Fall? "Und wenn ja, zeig mir dieses Vergleichsbild." Und weil mit dem gespeicherten Fall immer eine Diagnose verbunden sei, gebe es direkt einen Link zur Fachliteratur. "Wenn da dann steht: Tritt ausschließlich bei Frauen auf, aber mein Patient ist ein Mann - dann bin ich auf dem Holzweg", sagt Nensa. Aber auch das sei eine Info.

"Solche KI ist für mich die erste Welle von Tools, die den Arzt entlastet", resümiert er. "In fünf bis zehn Jahren wird es mehr von diesen Tools geben. Der Beruf des Arztes wird sich verändern - mehr in Richtung Zusammenführen und Interpretieren von Daten", mutmaßt Nensa. Vielleicht würden Radiologen und Pathologen mal eine Disziplin. "Oder es gibt Mr und Mrs Superdiagnostics."

Das Quantitative kann der Computer besser

An der Berliner Charité sieht Physiker und Pathologe Frederick Klauschen KI als wesentlichen Bestandteil der Diagnostik, aber nicht als Paradigmenwechsel. Sie helfe Ärzten, sich auf schwierige Fragestellungen zu konzentrieren. "Das Qualitative kann der Pathologe besser, das Quantitative kann der Computer besser." Mit Blick auf die Überalterung der Gesellschaft werde diese Arbeitsteilung unumgänglich.

Heute weiß man, dass Ärzte verschiedener Fachrichtungen in einer Tumorkonferenz weisere Entscheidungen für Krebspatienten treffen können als einzelne Experten nur einer Disziplin. Können gut gefütterte Computer bald so etwas wie eine Zweitmeinung in einer solchen Runde beitragen? Und wäre das unheimlich?

"Was es für viele ein wenig unheimlich macht, ist, dass man bei manchen dieser Systeme die Regeln nicht mehr direkt ablesen kann", sagt Bioinformatiker Brors in Heidelberg. "Es ist nicht mehr nachvollziehbar für jemanden von außen, warum der Computer jetzt eine bestimmte Entscheidung trifft." Im Prinzip sei das egal, solange die Entscheidung zuverlässig sei. "Aber das macht Ärzte skeptisch. Das ist wie eine Blackbox. Sie können nicht mehr überprüfen, ob das plausibel ist."

Und noch gibt es Grenzen bei KI. Eine Maschine könne bisher zum Beispiel regelbasiertes Wissen aus Leitlinien reproduzieren. "Was sie noch nicht hat, ist Kreativität oder Intuition", sagt Brors. Menschen hingegen könnten auch mal um die Ecke denken. (dpa/ad)