Nach dem offiziellen Meeting: Man unterhält sich, einer erzählt vom Tod eines gemeinsamen Bekannten - und sein chinesischer Gesprächspartner bricht in Lachen aus. "Diese Reaktionen irritieren mich bis heute", sagt Jörg Wuttke, Repräsentant von BASF in China, "dabei weiß ich doch, dass es Verlegenheit ist und der ehrliche Versuch, eine peinliche Situation zu entschärfen."
Globalisierung hin oder her: Die Menschen in China bleiben uns in vielen Situationen fremd. Hier regieren die Kommunisten, doch im Land herrscht lupenreine Marktwirtschaft, die Partei verordnet "Reich werden ist glorreich." Chinesen ehren das Alter und achten die Autoritäten, doch Gesetze nehmen sie nur als Angebote wahr - wie Westler, die sich im Straßenverkehr auf rote Ampeln verlassen, oft leidvoll erfahren.
Im Restaurant essen, trinken, rauchen, schlürfen, schmatzen Chinesen, für empfindsame Europäer klingt's oft unappetitlich - und sind selbst aufs Äußerste angewidert, wenn eine Langnase sich schnäuzt und anschließend das Taschentuch in die Hose steckt. Die Nase putzt sich der Chinese von Welt nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit, am besten auf der Toilette.
Wie tief muss die Verbeugung bei der Begrüßung ausfallen, muss ich tatsächlich jedes Mal mein Glas auf ex leeren, wenn bei Tisch der gefürchtete Ruf "Gan bei" ("trockenes Glas") erklingt? Und wie diplomatisch muss ich die Ablehnung verpacken, damit der chinesische Partner sich nicht brüskiert fühlt und sein Gesicht verliert? Benimmführer durch die fremde Welt von Maos Erben gibt es zuhauf, doch welche Regeln gelten für Westler wirklich im Wirtschaftsalltag?
Nicht jede Anpassung an die lokalen Sitten kommt gut an. "Am meisten irritiert es die Menschen hier, wenn ein Deutscher versucht, sich wie ein klassischer Chinese zu verhalten", hat Jörg Wuttke erlebt, wenn Europäer sich die Konfliktscheu der Chinesen zu eigen machten und im Streben nach Harmonie den eigenen Standpunkt nicht deutlich vertraten. "Unakzeptabel ist offene Wut oder gar eine Drohung", weiß der in Peking lebende BASF-Mann, der schon 1982 zum ersten Mal nach China kam, "aber von uns Deutschen erwarten die Chinesen klare Ansagen."
"Backpfeife vor aller Augen"
Dabei erlebte Wuttke seine Gesprächspartner nicht nur abgeklärt und undurchdringlich, wie es das gängige Klischee beschreibt: "Die Chinesen zeigen durchaus Emotionen", sagt er, "ich habe sogar schon erlebt, dass jemand bei den Verhandlungen handgreiflich wurde."
Da hatte eine ältere, energische Ingenieurin, Leiterin der chinesischen Delegation, der deutschen Seite vorgeworfen, bestimmte Zahlen nicht vorgelegt zu haben.
Wuttkes Kollege konnte direkt nachweisen, dass der Vorwurf nicht stimmte. Die Chinesin nahm das mit versteinerter Miene zur Kenntnis, drehte sich um und versetzte ihrem Chefingenieur eine kräftige Ohrfeige. "Er war daran schuld, dass sie ihr Gesicht verloren hatte", erklärt Wuttke die Szene, "die Backpfeife vor aller Augen stellte ihre Autorität wieder her." Die Besprechungen gingen weiter, als ob nichts vorgefallen wäre.
Ihre liebe Not haben viele Westler mit den Ritualen, die jedes Treffen mit Einheimischen prägen. Zum Beispiel bei der Begrüßung: Aus aufrechter Haltung klappt der höfliche Chinese exakte 40 Grad nach vorn, hält bei dieser Verbeugung zierlich seine Visitenkarte mit beiden Händen und Schrift nach vorn dem Gast entgegen - und erwartet diese Höflichkeit auch von dem geschätzten Fremden.
Mancher gibt sich, man hat's geahnt, bei der Prozedur als Barbar zu erkennen und nickt nur freundlich zurück. Nicht so Brigitte Wolff. "Ich grüße wie die Chinesen mit 'Ni Hao'", sagt die Chefin und Mitbesitzerin von Management Engineers China Ltd. in Shanghai, einer Beratungsfirma mit internationaler Klientel, "als Signal, dass ich mich mit dem Land beschäftigt habe."
Brigitte Wolff hat die wichtigsten chinesischen Schriftzeichen gelernt und zeigt das bei solchen Gelegenheiten, indem sie die chinesische Seite der Visitenkarte vorliest - häufig als Frage, was Vor- und was Nachname ist.
Denn seit die Chinesen mitbekommen haben, dass ihr heimischer Brauch, zuerst den Nach- und dann erst den Vornamen zu schreiben, zu Verwechslungen führt, haben viele von ihnen angefangen, sich an die westliche Reihenfolge zu halten.
Resultat: Die Verwirrung ist komplett, weil man sich auf nichts mehr verlassen kann. "Dann frag' ich einfach nach, was Vor- und was Zuname ist, höflich und mit Respekt kann man hier alles fragen", sagt die Beraterin. Ein kleiner Anhaltspunkt: Die meisten Nachnamen sind einsilbig, Vornamen gewöhnlich zweisilbig.
So schafft Brigitte Wolff beim ersten Treffen schon etwas Sympathie - vielleicht ganz gut, denn später bei Tisch muss die Vegetarierin passen: "Ich schockiere leider manche Gastgeber, weil ich kein Fleisch esse." Schwer verständlich für ein Volk, das alles vertilgt, was sich bewegt.
Kommando zum Anstoßen
"Je weiter südlich Sie sind, desto eigenartiger muten Nicht-Chinesen die Essgewohnheiten an", fasst Jörg Wuttke seine Erfahrungen zusammen. Ihm wurden bei Banketten schon geröstete Skorpione, eingelegte Heuschrecken und noch lebendig zuckende Fische vorgesetzt. "Gewöhnungsbedürftig", kommentiert der China-Veteran, der empfiehlt, höflich ein Stück der dubiosen Delikatesse zu akzeptieren und dann unter der Serviette oder unter dem Tisch verschwinden zu lassen.
Die üppigen Gelage werden unweigerlich von ritualisierten Alkoholorgien begleitet. "Peng" heißt das Kommando zum Anstoßen, oft will jeder Chinese am Tisch einzeln mit dem Westler das Glas heben.
Meist gibt es Maotai oder einen anderen Chinese White Wine - klaren Schnaps. Wenn es nicht gelingt, den Kellner zu bewegen, dass dieser nur Wasser ins Schnapsglas gibt, rät Wuttke, ein Taschentuch bereitzuhalten, in das man den Fusel ausspucken kann. Brigitte Wolff kennt derlei Probleme nicht: Sie trinkt keinen Alkohol: "Das hat bislang noch jeder akzeptiert." Ihre Abstinenz hält die Tischrunde allerdings selten vom Zechen ab. Wolff: "Ich habe hier schon sehr betrunkene Menschen erlebt."
Das Kampftrinken hat Hans Schniewind, Repräsentant der Landesbank Hessen-Thüringen in Shanghai, auch schon miterlebt: "Dabei waren aber oft die Deutschen unter sich", korrigiert er den Mythos. Doch die Chinesen sind keine Kostverächter - und nicht übermäßig sensibel.
Sie fallen dem Westler nicht nur bei Tisch durch lautstarkes und gelegentlich rüdes Auftreten auf. China-Beobachter erklären die rustikalen Manieren als Spätfolge der Kulturrevolution in den 60er Jahren, in der Maos Rote Garden auf alle Bürgerlichen und alles Bürgerliche Jagd machten. Damals war der proletarische Auftritt eine Frage des Überlebens.
Heute müht sich die Regierung, dem Volk wieder Manieren beizubringen: Seit 2007 ist das Spucken auf der Straße bußgeldbewehrt (50 Yuan, umgerechnet 5 Euro), zur Olympiade läuft eine landesweite Höflichkeitskampagne, jeder 11. des Monats gilt als "Tag des kultivierten Anstehens", und "Zivilisierungsbüros" klären die Bevölkerung per Handzettel über die Benimmregeln der Westler auf: Die Chinesen sollen künftig nicht mehr rülpsen, kreischen, spucken und im Hotelbett bitte nicht die Schuhe anbehalten.
"Reich werden ist glorreich"
Mehr Probleme als mit den Manieren haben die meisten Westler mit der Verhandlungsführung der Chinesen. "Da wird der Geduldsfaden oft bis zum Zerreißen gespannt", wertet Hans Schniewind die mühsamen, von Taktik und Konsenssuche bestimmten Runden, in denen sich Fortschritte erst quälend langsam einstellen, "dabei sind die Chinesen meist kontrolliert, oft maskenhaft." Schniewind registriert, wie sich seine Gesprächspartner am Vorbild Singapur orientieren.
Auch dort garantiert ein autoritäres Regime Stabilität, die Menschen leben in einer gelenkten Gesellschaft, der wirtschaftliche Erfolg lässt sie den Drang nach mehr politischer Freiheit zurückstellen. "Der Kommunismus spielt im Alltag der Chinesen keine Rolle", erlebt Schniewind, "die KP-Führung ist beliebt, weil sie für Stabilität und Prosperität steht."
Mit der Ideologie haben die wendigen KP-Führer keine Probleme: Kommunismus - "jeder nach seinen Bedürfnissen" - setze Wohlstand voraus, lautet verkürzt die Argumentation, Wohlstand schaffe aber nur ein privatwirtschaftliches System. Mit Widersprüchen und Unvollkommenheiten müsse man leben, schließlich befinde man sich erst im Anfangsstadium des Sozialismus. Den Slogan dazu hatte schon der Reformer Deng Xiaoping formuliert: "Reich werden ist glorreich."
Dazu passt, dass die Partei, deren Hymne doch immer noch die "Internationale" ist, den Nationalismus im Lande nach Kräften fördert. "Die meisten Chinesen sind patriotisch", hat Hans Schniewind beobachtet, "das kann ich gut verstehen."
Jörg Wuttke bietet eine Erklärung an für die ausgeprägte Sensibilität, mit der Chinesen auf Kritik in Sachen Menschenrechte, Tibet oder Taiwan reagieren: "Nach dem Zusammenbruch der Qing-Dynastie und dem Schock der Kulturrevolution ist jetzt das Selbstwertgefühl wieder gewachsen, die Chinesen sehen sich wieder auf dem Weg zu alter Größe und Bedeutung", interpretiert er, "da haben viele das Gefühl: Kritik müssen wir uns nicht mehr anhören."
Beraterin Brigitte Wolff verzichtet deshalb auf Politthemen im Gespräch mit Chinesen: "Ich bin nicht hier, um zu belehren." Nach gut acht Jahren im Lande fasst sie ihre Strategie für den Umgang mit Einheimischen so zusammen: "Sei du selbst, und benimm dich wie ein respektvoller Gast."
"Erfinder der Marktwirtschaft"
Die Preistheorie und die unsichtbare Hand des Marktes kannten die Chinesen schon vor 2000 Jahren, sagt der Sinologe Hans van Ess.
Das Schwarzpulver, die Banknoten, den Buchdruck - und die Marktwirtschaft: Wer hat's erfunden? Richtig: die Chinesen. Der Historiker Sima Qian notierte schon 1800 Jahre vor Adam Smith, warum der Staat sich heraushalten muss, wenn die Wirtschaft florieren soll, und beschrieb, verblüffend ähnlich wie später Smith, die "unsichtbare Hand des Marktes".
manager magazin fragte Professor Hans van Ess, Ordinarius für Sinologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, nach dem Stellenwert von Wirtschaft und Managern im historischen und heutigen China.
mm: Professor van Ess, haben die Chinesen tatsächlich die Marktwirtschaft erfunden?
Van Ess: Die These ist richtig. Schon bevor Sima Qian etwa um unsere Zeitenwende sein auf den Taoismus zurückgehendes Verständnis von der Wirtschaft formulierte, hatte ein Historiker Namens Guanzi in zehn Kapiteln eine Beschreibung der Marktwirtschaft geliefert, einschließlich eines Ansatzes zur Preistheorie, die sich auch bei Sima Qian findet. Diese Texte wurden damals als Streitschriften gelesen, denn der Staat hatte immer wieder erheblich in die Wirtschaft eingegriffen, etwa indem er lukrative Monopole auf Salz und Eisen schuf. Mit den Einnahmen wurden Feldzüge oder Verteidigungskosten finanziert.
mm: Welche soziale Stellung hatten die Kaufleute im alten China?
Van Ess: Sie waren nicht sehr angesehen. Die geltende Lehre des Konfuzius propagierte das Bild edler Armut, gepaart mit Gelehrsamkeit, höchstes Ansehen genossen die Beamten. Denn die mussten sich für den Dienst durch harte Prüfungen qualifizieren, in denen es um Fragen der Ethik und um die Kenntnis von Gesetzestexten ging.
"Neue Ideen nicht gefördert"
mm: Warum haben die Chinesen die industrielle Revolution verschlafen?
Van Ess: Diese Frage ist von der Wissenschaft noch nicht endgültig beantwortet. Eine mögliche Erklärung liegt in der Abschottung von der übrigen Welt, die von den Herrschern gegen Ende der Ming-Dynastie im 16. und 17. Jahrhundert verordnet wurde.
Impulse und Know-how aus dem Ausland fehlten, im Inland wurden neue Ideen nicht eben gefördert. Und die geistige Elite musste für die Beamtenexamen Stoffe auswendig lernen, die mit der Lebenswirklichkeit nichts mehr zu tun hatten.
mm: Und wieso waren dann vom 20. Jahrhundert an Chinesen, erst in Südostasien und den USA, jetzt auch in Festland-China, wirtschaftlich so überdurchschnittlich erfolgreich?
Van Ess: Da zahlt sich das konfuzianische Erbe aus, das alle Anhänger zum dauernden Lernen anhält. Und es hilft der ungewöhnlich starke Familien- oder Clanzusammenhalt. Netzwerkartig decken chinesische Großfamilien oft ganz Südostasien ab, treiben miteinander Handel, dienen als natürliche Ansprechpartner und Türöffner in ihrer jeweiligen Heimat.
Deutschland versus China: Noch liegt die deutsche Wirtschaft knapp vorn
Fläche
China: 9.326.408 Quadratkilometer
Deutschland: 357.023 Quadratkilometer
Bevölkerung (2007)
China: 1.320,7 Millionen
Deutschland: 82,4 Millionen
Bruttoinlandsprodukt (2007)
China: 2.377,2 Milliarden Euro
Deutschland: 2.423,8 Milliarden Euro
Exporte (2007)
China nach Deutschland: 54,65 Milliarden Euro
Deutschland nach China: 29,92 Milliarden Euro
Expatriates
Chinesen in Deutschland: etwa 76.000
Deutsche in China: gut 20.000 (geschätzt)