Die Voraussagen der Marktforscher vom Anfang dieses Jahres sind allesamt Makulatur. Die Finanzkrise hat die reale Wirtschaft erreicht, ehemals prognostizierte Wachstumsraten werden allenthalben nach unten korrigiert. Während Ökonomen von einer realen Rezession in großen Teilen Europas und den Vereinigten Staaten ausgehen, wird zwar die IT-Branche nach Einschätzung der Marktanalysten weiter zulegen - allerdings mit deutlich vermindertem Tempo.
Peter Sondergaard, Senior Vice President bei Gartner, sieht das Worst-Case-Szenario in der gegenwärtigen Krise bei 2,3 Prozent Wachstum. Vor einigen Monaten hatte er noch mit 5,8 Prozent gerechnet. "Am stärksten werden die weit entwickelten Volkswirtschaften wie die USA und Westeuropa betroffen sein", prognostiziert Sondergaard. Die Marktforscher von IDC kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Sie rechnen in ihrem aktuell überarbeiteten Forecast jetzt mit einem Anstieg der weltweiten IT-Ausgaben von 2,6 Prozent - gegenüber 5,9 Prozent vor der Krise.
Den Worst Case haben auch die IDC-Analysten durchgerechnet - ein Szenario, das auf einem weltweiten Wachstum des Bruttoinlandprodukts von lediglich 0,3 Prozent basiert (gegenüber 1,8 Prozent des "wahrscheinlicheren" Forecasts). Bei solch einem Wirtschaftsverlauf - es wäre das schlimmste Jahr seit Ende des Zweiten Weltkrieges - würden die weltweiten IT-Ausgaben nur noch um 0,1 Prozent steigen, in Europa und den USA sogar zurückgehen. "Obwohl wir innerhalb von Tagen unsere Vorhersage drastisch revidieren mussten, bleibt doch eine gute Nachricht: Die IT ist heute in einer besseren Position als jemals zuvor, um dem Abwärtstrend der Weltwirtschaft zu trotzen", sagt John Gantz, Chief Research Officer bei IDC. Der Grund: Die IT sei inzwischen essenzieller Bestandteil vieler geschäftskritischer Prozesse und der entscheidende Hebel für eine weitere Steigerung von Produktivität und Effizienz.
Was auf der Strecke bleibt
Und eben das wird zur Nagelprobe für die Investitionen des kommenden Jahres: Der IT-Markt wird sich 2009 in einem Spannungsfeld zwischen notwendigen und sinnvollen Ausgaben befinden. "Zur Erzielung von Wettbewerbsvorteilen und Kosteneinsparungen einerseits und dem "Cut" bei Budgets andererseits, die nicht in direkten Zusammenhang mit diesen beiden Motiven stehen", bringt es Andreas Burau, Research Director ICT-Service bei der Experton Group, auf den Punkt.
Auf der Strecke bleiben werden wohl vorerst jene Themen und Technologien, denen die Marktforscher zwar mittel- bis langfristig ein hohes Umwälzungspotenzial zutrauen, deren kurzfristige Auswirkungen aber begrenzt oder fraglich sind. Nach der Gartner-Definition handelt es sich dabei um solche "strategischen" Technologien, die Teile der IT oder Unternehmensorganisation in den nächsten drei Jahren entscheidend
verändern könnten ("disruptive technologies"), großer Investitionen bedürfen oder das Risiko mit sich bringen, als Zuspätkommer das Nachsehen zu haben.
Das Analystenhaus Forrester listet auf die Frage "Welche Themen dürfen CIOs im nächsten Jahr auf keinen Fall ignorieren?" unter dem Oberbegriff "Business Technology“ (BT) eine Reihe wohlklingender, aber wenig konkreter Zukunftrends für das nächste Jahr auf. So soll eine neue Generation von Enterprise Applications ("Dynamic Business Applications") für ein besseres Alignment von IT und Business sorgen, "The Information Workplace" den digitalen Arbeitsplatz auf Basis von Portal-, Colloboration-, Content-Management und weiteren Web-2.0-Technologien umwälzen. Auch das Thema "Technology Populism - Web 2.0 and social networking" fehlt auf der Forrester-Liste nicht.
Der kleine Schönheitsfehler: Die CIOs haben andere Sorgen. In der wirtschaftlichen Flaute werden es sich die Wenigsten leisten können und wollen, große Beträge in Zukunftstechnologien mit unsicherem RoI zu investieren. "In Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs wird der Fokus der Anwenderunternehmen auf Kostenreduzierung im operativen Betrieb liegen", sagt Hartmut Lüerßen vom Marktforschungsunternehmen Lünendonk. Das könne unter anderem dazu führen, dass Generationswechsel und Upgrades bei Technologien verzögert werden, und träfe vor allem die Hersteller von Hardware wie Servern, Storage, PCs und Notebooks. Outsourcing und Offshoring hingegen könnten bei wirtschaftlicher Flaute auf der CIO-Agenda nach oben rücken: "Wir erwarten einen stärkeren Rückgang beim Projektgeschäft, weil sich die Unternehmen auf das "Run the Business" konzentrieren und hier die operativen Kosten reduzieren wollen", sagt Lüerßen.
Die Krisen-Profiteure
Die Analysten von Pierre Audoin Consultants (PAC) haben im Zeitraum Oktober bis Mitte November anhand mehrerer hundert Einzelinterviews ermittelt, auf welche IT-Bereiche sich die Wirtschaftskrise auswirken wird. Fazit: Strategische Themen wie SOA, IT/Telekom-Konvergenz, Hochverfügbarkeit oder Security werden in Zeiten knapper Kassen eher zurückgefahren. Bereiche hingegen, die schnelle Einsparungen versprechen, wie Konsolidierung, Offshoring, Virtualisierung oder auch Open Source, könnten vom Abschwung sogar profitieren.
"In der Krise konzentrieren sich die Unternehmen zuerst auf die Optimierung des Produktportfolios und der internen Prozesse, auf die Kundenbindung und suchen nach einem schnellen ROI", sagt Christophe Chalons, Geschäftsführer von PAC Deutschland. Und natürlich hätten sie ihre Projekte und Investitionspläne auf den Prüfstand gestellt oder würden das in den nächsten Monaten tun. "Sicher werden einige Projekte gestoppt, andere aufgeschoben - aber die Ausmaße sind erheblich geringer als in der Krise im Jahre 2001", beruhigt der PAC-Geschäftsführer.
In besonderem Maße seien die Finanzbranche und die Automobilindustrie betroffen. Aber selbst hier würde es nicht zu einem kompletten Stillstand kommen: In vielen Bereichen sei die IT von strategischer Bedeutung und unverzichtbar für Effizienzsteigerungen, Prozessintegration und Konsolidierung. Beide Branchen würden deshalb auch weiterhin neue Projekte aufsetzen. Bei der Finanzwirtschaft rechnet er für die Bereiche Risiko-Management, Compliance und Multi-Channel-Integration sogar mit leichtem Wachstum. Die Autoindustrie werde auf Investitionen in Embedded-Systems, Product-Lifecycle-Management (PLM), Prozessautomatisierung oder Manufacturing Execution Systems (MES) auch in wirtschaftlich schwachen Zeiten kaum verzichten können.
Die Hauptsorge der CIOs im kommenden Jahr wird nicht sein, tatsächliche oder vermeintliche Zukunftstrends zu verpassen, sondern ihr Projektportfolio und ihre Kostenstruktur genau zu überprüfen. Während es auf der Projektseite einer klaren Differenzierung der Vorhaben in die Kategorien "Must have" und "Nice to have" bedarf, geht es auf der Kostenseite darum, weitere Einsparpotenziale im operativen Betrieb zu identifizieren. Und hier sind es vor allem die Themen Outsourcing und Offshoring sowie Konsolidierung, Virtualisierung und auch Green IT, die eine reelle Chance auf prominente Plätze im Investitionsplan für das kommende Jahr haben.
Ökonomischer Verstand siegt
"Green IT wird 2009 noch an Relevanz gewinnen. Denn es geht weniger um das ökologische Gewissen als vielmehr um den ökonomischen Verstand, der Green-IT-Projekte auf der Agenda der CIOs nach oben steigen lässt", sagt Experton-Analyst Burau. 2009 würden zunehmend gesamtheitliche Ansätze gefahren werden, die über die bisherigen Einzelthemen Virtualisierung und energieeffiziente Hardware hinaus auch System-Management, RZ-Planung, Klimatisierung und Wirtschaftlichkeitsrechnungen umfassen. "Der Trend zur Modernisierung und umweltfreundlichen Ausgestaltung des IT-Betriebs, der bisher vor allem von Großunternehmen vorangetrieben wurde, wird sich 2009 auch im Mittelstand verbreiten", sagt Burau.
Auch Investitionen in Outsourcing und Offshoring als klassischen Instrumenten zu Senkung der IT-Betriebskosten könnten in wirtschaftlich schlechten Zeiten zunehmen. Ohnehin ist der Outsourcing-Markt durch längere Vertrags- und Vertriebszyklen geprägt. "Schon heute gehen 45 Prozent der Ausgaben für IT-Services deutscher Unternehmen in Outsourcing", sagt Katharina Grimme von Nelson Hall. "Dabei geht es um langfristige Verträge für den Betrieb von IT-Infrastruktur und Applikationen - das lässt sich nicht zurückfahren." Im Gegenteil: "Die Krise wird eine Welle von neuen Outsourcing-Vereinbarungen auslösen."
Werden damit IT-Service-Anbieter als Gewinner aus der Krise hervorgehen? Wohl kaum. Denn der Preisdruck auf die Dienstleister nimmt merklich zu. Nach der Studie von Forrester Research "Service Providers Start To See The Implications Of The Credit Crunch" von Anfang Oktober stehen sie unter zunehmendem Druck: Rund 70 Prozent der befragten Unternehmen wollten "wahrscheinlich" (44 Prozent) oder "sehr wahrscheinlich" (26 Prozent) die Wirtschaftskrise zum Anlass nehmen, mit ihren Service-Providern geringere Vergütungen zu verhandeln. Zudem gaben mehr als 43 Prozent der rund 1000 befragten Unternehmen aus Europa und den USA an, dass sie ihre IT-Budgets bereits gekürzt hätten, 26 Prozent erklärten, dass sie ihre Projekte und Zukunftsvorhaben einer gründlicheren Prüfung im Hinblick auf den RoI unterzögen.
Doch seither haben sich die Aussichten der Weltwirtschaft weiter verdunkelt, nach der Finanzbranche ist die Autoindustrie samt Zulieferern ins Trudeln geraten. Zurzeit deutet nichts darauf hin, dass sich die Lage kurzfristig aufhellen wird. Dennoch, da scheinen sich die Auguren einig, könnten die IT-Anbieter mit leichten Blessuren davonkommen.
Das Krisenszenario nach 2000 und nach dem Platzen der Dotcom-Blase werde sich in der jetzigen Wirtschaftskrise nicht wiederholen: "Damals hatten die Unternehmen vor der Krise erheblich in ihre IT investiert und konnten deshalb ihre Einkäufe in großem Maße zurückfahren", sagt Stephen Minton, Vice President Worldwide IT Markets and Strategies bei IDC. "Heute haben sie diese Reserven nicht und stehen unter viel größerem Druck, in die IT zu investieren, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten." Ob dann noch Geld für "Nice to have"-Projekte übrig ist, bleibt allerdings fraglich.