Digitalisierung

Wenn der Damm der Old-Economy bricht

13.11.2015 von Folker Scholz
Unternehmen stehen vor grundlegenden Veränderungen, aber viele sind noch unzureichend aufgestellt. Wie Chief Digital Officer und Digitale Beiräte helfen.
  • Radikal neu denken erfordert ungewohnte Sichtweisen durch Kooperationen, Austausch mit Kunden und Sparring mit externen Experten
  • Umsatz- und Gewinnvorgaben als Maßstab aller Dinge unterdrücken Experimente, deren Wesen Unsicherheit und Risiko ist
  • Ein Ausgangspunkt für die Neujustierung ist die Etablierung eines Chief Digital Officers.
  • Der CDO braucht ein Team aus Sponsoren und Innovatoren mit der Bereitschaft, alles in Frage zu stellen.
  • Innovations-Teams müssen in der Lage sein, Start-ups oder Start-up-ähnliche Strukturen ins Leben zu rufen
Wenn eine Technologie grundlegend neue Möglichkeiten zur Verfügung stellt, bricht irgendwann der Damm der "Old-Economy" und überflutet Wirtschaft und Gesellschaft.
Foto: Remigiusz - shutterstock.com

Alle paar Jahrzehnte verändern neue Technologien auf grundlegende Weise die Märkte. Die Dampfmaschine lieferte mit ihrer kontrollierten und dramatisch gestiegenen Krafterzeugung die Grundlagen für Umbrüche in der Mobilität mit Eisenbahn und Dampfschiff und ermöglichte außerdem die industrielle Massenfertigung von Konsumgütern sowie ganze Klassen neuer Maschinen.

Die Elektrizität brachte nicht nur Licht und in Folge veränderte Lebens- und Arbeitszeitgewohnheiten in die Welt. Sie entkoppelte auch die Energieerzeugung vom Energieverbrauch und war die Grundlage für eine bunte Vielfalt an Kleingeräten für die unterschiedlichsten industriellen und privaten Anwendungen.

Schließlich revolutionierte der Computer die Art der Informationsverarbeitung und schuf damit völlig neue Möglichkeiten der Analyse, Steuerung und Kommunikation. Pferdekutschen und Manufakturen sind Reliquien nostalgischer Nischenmärkte, spielen aber in Hinblick auf Transport- und Fertigungskapazität keine Rolle mehr.

Immer dann, wenn eine Technologie grundlegend neue Möglichkeiten zur Verfügung stellt, brechen irgendwann die Dämme der "Old-Economy" und überfluten Wirtschaft und Gesellschaft.

Das Internet ist der große Marktumwälzer

Ist das Internet der nächste große "Marktumwälzer"? Einiges spricht dafür. Die umfassende Verfügbarkeit von Informationen bietet das Potenzial für völlig neue Service-, Erfahrungs- und Interaktions-Produkte. Einige Märkte wurden schon grundlegend verändert, wie die von Zeitungen und Musik. Andere sind im Umbruch. Der klassische Automarkt wird durch Car-Sharing angegriffen, Berufstaxis durch Uber, Videotheken durch Streamingdienste oder das klassische Telefon durch Skype oder WhatsApp.

Das Potenzial ist aber nur zu einem Bruchteil ausgeschöpft. Die Steuerung und Koordination verteilter Geräte und Dienstleistungen steht noch ganz am Anfang. Auf der technischen Seite sind die aktuellen Hype-Stichworte Cloud und Industrie 4.0. Auf der gesellschaftlichen Seite stehen die Generation Y oder die Share Economy als Synonym für die beginnenden gesellschaftlichen Auswirkungen der neuen technischen Möglichkeiten.

Gigantisches Spielfeld für kreative Köpfe und wirtschaftliche Schatzsucher

Potenziell lässt sich fast alles mit allem vernetzen. Die Kombinationsmöglichkeiten sprengen die Vorstellungskraft jedes einzelnen. Auf diesem gigantischen Spielfeld blühen die Ideen kreativer Köpfe und wirtschaftlicher Schatzsucher. Selbst wenn nur ein Bruchteil der ausgedachten und ausprobierten Geschäftsmodelle funktioniert, müssen wir mit einem Feuerwerk an neuen Angeboten rechnen.

Viele werden das Potenzial haben, die Spielregeln zu verändern, manche werden dem alten Markt große Anteile wegreißen und diverse "Old-Style-Märkte" werden zur Bedeutungslosigkeit verdammt werden.

Diese Dynamik ist eine besondere Herausforderung für alle Organisationen, vor allem aber für Unternehmen, die über Jahre oder Jahrzehnte ein erfolgreiches Geschäftsmodell betrieben haben. Es reichte immer aus, die Produkte der Mitbewerber zu beobachten und die eigenen Produkte graduell zu verbessern. Die Fixierung auf die Produktoptimierung macht radikale Umbrüche schwer vorstellbar.

Wie man das Team in die Digitalisierung mitnimmt
Achillesferse der Digitalisierung
In dem Papier "Being digital: Embrace the future of work and your people will embrace it with you" bezeichnet Accenture die Belegschaft eines Unternehmens als "Achillesferse" der Digitalisierung. Das Papier basiert auf Angaben von rund 700 Entscheidern weltweit sowie circa 2.500 Angestellten.
Befürchtungen der Mitarbeiter
Eine Mehrheit von 70 Prozent der Angestellten befürchtet den Verlust von Teamgeist, wenn die Kollegen per Fernzugriff arbeiten und nicht mehr ins Büro kommen. Etwa jeder Achte (zwölf Prozent) erwartet, seine Job-Aussichten werde sich durch die Digitalisierung negativ entwickeln.
Vorteile der Digitalisierung
Gleichzeitig erwarten die Angestellten aber auch Vorteile in den Punkten Innovationsfähigkeit ihres Unternehmens (71 Prozent), Agilität (69 Prozent) und Produktivität (68 Prozent). Insbesondere jüngere Befragte mit überdurchschnittlich hoher Qualifikation sehen die Vorteile der Digitalisierung – "wenig überraschend", wie Accenture schreibt.
Katalog digitaler Skills
Accenture rät Entscheidern, einen Katalog mit den benötigten digital Skills samt dem jeweiligen Kompetenzniveau zu erstellen.
Keine Nebensache
Entscheider dürfen das Thema Mitarbeiter nicht als Nebenschauplatz behandeln, so der Appell von Accenture. Sie brauchen eine "Test and learn"-Mentalität.

Kämpfe um Karriere, Posten und Macht verstellenden den Blick

Unternehmensinterne Konkurrenzkämpfe um Karriere, Posten, Macht und Mitarbeiter verstellen zudem häufig den Blick auf das große Ganze. Linienorganisationen mit Chefs, Abteilungen und einem Sicherheitsgefühl der Vertrautheit haben eine natürliche Beharrungstendenz. Radikale Innovationen aus der Linie sind daher systembedingt selten.

Es reicht nicht eine schicke Webseite, einen Online-Shop oder eine Social-Media-Präsenz zu bauen. Die Gefahr droht vor allem von Anbietern, die Aufgabenstellungen auf eine ganz neue Art lösen. Die Dynamik des Internets und seine auf schneller Verbreitung und leichter Skalierung aufbauenden Strukturen lassen alternative Geschäftsmodelle manchmal geradezu explodieren.

Selbst große Player werden überholt

Oftmals erkennen selbst große Player die revolutionären Trends erst dann, wenn sie nicht mehr aufzuhalten sind, weil "die Neuen" das Geschäftsfeld so schnell übernehmen, dass jede Reaktion zu spät kommt. Auch erfolgsverwöhnte Unternehmen müssen deshalb vorsorglich Früherkennungs- und Veränderungs-Strategien für die eigenen Geschäftsmodelle entwickeln, fernab von eigenen Traditionen und dem Beharrungsvermögen von gewachsenen Strukturen.

Radikal neu denken und entwickeln erfordert neue Perspektiven und ungewohnte Sichtweisen. Kooperation, Austausch mit Kunden, Sparring mit externen Experten sowie die ernsthafte Bereitschaft, mit neuen Produkten und Geschäftsmodellen zu experimentieren, sind zwingend erforderlich.

Umsatz- und Gewinnvorgaben verhindern Experimente

"Ernsthaft" bedeutet zudem, die neuen Ideen nicht dem normalen innerbetrieblichen Konkurrenzkampf um die Investitionsbudgets und die besten Ressourcen auszusetzen. Umsatz- und Gewinnvorgaben als Maßstab aller Dinge unterdrücken Experimente, deren Wesen Unsicherheit und Risiko ist. Wer wirklich Neues schaffen will, muss auch neue Strukturen schaffen.

Die Natur macht vor, wie es geht

Die Natur ist dafür das beste Beispiel: Ihre Erfolgsprinzipien heißen "Mutation", "Fortpflanzung" und "Kooperation". Regelmäßige Veränderung und ständiger Neuaufbau von Strukturen verbessern die Chancen für das Überleben der Art. Das Mischen von "Gen-Pools" und die Kooperation in Gemeinschaften ermöglichen schnelle Entwicklungssprünge und Vorteile im Überlebenskampf.

Solche Denk- und Herangehensweise auf die Geschäftsentwicklung zu übertragen, ist vielen Unternehmen allerdings noch fremd. Stattdessen setzt man traditionell auf unternehmensinterne Abteilungen oder Positionen. Moderne Vorgehensweisen, die auf Transparenz, Kommunikation und Kooperation aufbauen, werden hingegen mit Misstrauen betrachtet und nur zaghaft angenommen.

Neujustierung mit Chief Digital Officer und Innovations-Teams

Ein guter Ausgangspunkt für die Neujustierung ist die Etablierung eines Chief Digital Officers. Er koordiniert hausweit den Innovationsprozess. Aus den vorgenannten Gründen darf er aber nicht auf die Linie reduziert sein. Vielmehr braucht er ein Team aus Sponsoren und Innovatoren mit der Bereitschaft, alles in Frage zu stellen.

Solche Innovations-Teams, "Digital Advisory Boards" oder "Digitalen Beiräte" müssen in der Lage sein, Start-ups oder Start-up-ähnliche Strukturen ins Leben zu rufen und auf Vorstands- und Aufsichtsratsebene Ergebnisse und Vorschläge zu adressieren.

Vielfalt und Expertise in den neuen Technologiefeldern sind ebenso Voraussetzung für die Teambesetzung wie Neugier, Experimentierfreude und Kreativität. Dazu sollten sie die sozialen Medien, gesellschaftlichen Entwicklungen und globalen Trends überblicken.

Telefonica-CIO Andreas Pfisterer und andere über den Chief Digital Officer
Diskussion um den CDO
Braucht ein Unternehmen einen dezidierten Chief Digital Officer (CDO) oder ist Digitalisierung Aufgabe des CIO - dazu gibt es unterschiedliche Positionen.
Andreas Pfisterer, vormals CIO bei Telefonica
Andreas Pfisterer ist (mittlerweile ehemaliger) CIO der Telefónica Germany GmbH & Co. Er nahm die Digitalisierung seines Unternehmens selbst in die Hand. Pfisterer verstand sich dabei als Enabler und aktiver Gestalter. In dieser Rolle beriet er sowohl den CEO als auch jeden, der das operative Geschäft verantwortet. Seine These: Der klassische CIO, der sich in erster Linie um Rechenzentrum, Server, Netze und Anwendungs-Entwicklung kümmert, ist ein Auslaufmodell.
Frank Ridder, Gartner
Frank Ridder ist Analyst beim Marktforscher Gartner. Seine These: Der CIO kann die Digitalisierung nur dann selbst managen, wenn er sein klassisches Tagesgeschäft abgibt.
Alexander Wink, Korn Ferry
Alexander Wink ist Senior Client Partner und Member of the Global Technology & Industrial Practice beim Headhunter Korn Ferry. Viele seiner Kunden, die einen CDO suchen, haben nur ungenaue Vorstellungen vom Anforderungsprofil. Die Rolle eines CDO ist einfach noch nicht ausgereift.
Harald Linné, Atreus
Harald Linne ist Geschäftsführer beim Interim-Management-Anbieter Atreus. Er beobachtet ein steigendes Interesse der Unternehmen an Interim Managern, die Digitalisierungsprojekte stemmen sollen. Im Gegensatz zu Beratern, die Erkenntnisprobleme lösen sollen, werden Interim Manager wegen Umsetzungsproblemen geholt und typischerweise in der Linie eingesetzt.
Wilfried Lyhs, Interim Manager
Wilfried Lyhs von Hilderts & Partner ist Interim Manager. Seine Erfahrung: "Digitalisierung des Unternehmens ist derzeit ziemlich hype. Ich glaube allerdings, dass viele Unternehmen, vornehmlich mittelständische, Entwicklungsbedarf in ihren Prozessen und ihrer IT haben. Diese sind noch als Vorstufe zur 'Digitalisierung' zu betrachten."

Unabhängiges Denken fördern

Es empfiehlt sich, einige Positionen extern zu besetzen, um unabhängiges Denken und die Infragestellung des Status quo zu gewährleisten. Zudem hilft es, über den Tellerrand zu blicken und genügend Diversifizierung sicher zu stellen. Ein solches Gremium muss ein klares Mandat und Ressourcen haben, neue Strukturen zu schaffen und in diesen die Zukunftsvisionen gemeinsam mit den Abteilungen, Kunden und Partnern an die Realität heranzuführen.

Ziel muss es sein, eine Innovations-Pipeline zu generieren, die ausgehend von Workshops und "Innovation Labs" über Start-ups hin zu neuen Geschäftsbereichen oder Joint Ventures führen.

Ein neues Geschäftsmodell erwachsen werden zu lassen, kann ein paar Monate oder Jahre dauern. Deshalb sollte man nicht zu spät mit seinerdigitalen Agenda beginnen. Wenn die Dämme erst gebrochen sind, dann kann es vielleicht zu spät sein.