Rezession bedeutet, dass die Geschäfte rückläufig sind – egal, was den Anstoß für diese krisenhafte Entwicklung gegeben hat. Die Auswirkungen spüren alle – Zulieferer, deren Produkte keiner mehr haben will, Arbeiter und Angestellte, die ihre Jobs verlieren, Verlage, deren Anzeigeneinnahmen sinken, der Staat, dessen Steueraufkommen schrumpft, und nicht zuletzt die Konsumenten, die weniger oder gar kein Geld mehr in ihren Portemonaies haben. Auch im Handel setzt in solchen Zeiten ein verstärkter Überlebenskampf ein.
Sucharita Mulpuru, Vice President und Principal Analyst bei Forrester, verglich in einem Vortrag auf der Convention & EXPO 2010 der amerikanischen NRF (National Retail Federation) in New York das aktuelle Geschehen mit dem von Charles Darwin vor 150 Jahren untersuchten Überlebenskampf bei einigen Tierarten. Seine These: Nur wer auf veränderte äußere Bedingungen vorbereitet ist oder sich rechtzeitig angepasst hat, wird auf Dauer überleben.
Mulpuru überträgt diese Erkenntnis auf den aktuellen Status quo der Retail-Branche, inmitten "der schwersten wirtschaftlichen Katastrophe der letzten Jahrzehnte“. Das Ergebnis ihrer Untersuchung: Online-Retailer, also jener Zweig des Handels, der sich ganz oder teilweise auf das Web und ganz viel IT-Prozesse stützt, sind besonders krisenresistent. 72 Prozent der von Forrester befragten Unternehmen geben an, dass Online-Aktivitäten erfolgreicher als das Offline-Geschäft sind.
Ganz im Sinne von Darwin, so Mulpuru, verfügen sie über die besseren Eigenschaften, um unter den neuen Bedingungen der Krise weiter Umsatz und Gewinn zu erzielen oder zumindest das frühere Niveau einigermaßen zu halten. Viele von ihnen haben es geschafft, sich an neue Bedürfnisse und Anforderungen in einer veränderten wirtschaftlichen Umgebung anzupassen und zu überleben. 2009 war das schlimmste Jahr, das der Handel seit langem erlebt hatte, und dennoch haben es relativ viele Online-Retailer laut Mulpuru geschafft, der Krise zu trotzen.
Der Online-Handel ist in den beiden Krisenjahren 2008 und 2009 weltweit weiter gewachsen: von 215 auf 239 Milliarden Euro. Bis zum Jahr 2013 erwartet Forrester eine Steigerung auf bis zu 355 Milliarden Dollar, und zwar für alle drei großen Wirtschaftszonen – Europa, Nordamerika und Asia-Pacific.
Diese besondere Entwicklung liegt nach Forrester nicht nur darin begründet, dass Web-Retailer über geringere Prozesskosten verfügen oder dass ihr Wachstum von einer niedrigeren Basis ausgeht. Sucharita Mulpuru hat untersucht, wie E-Commerce-Unternehmen sich besser an die neuen Bedingungen angepasst haben:
Die 6 Erfolgsfaktoren für Web-Shops
1. Sie haben die Bedeutung von „World“ in "World Wide Web“ (WWW) besser erkannt. Retail-Shops gibt es nicht nur, wie noch vor einigen Jahren, hauptsächlich in USA und später in Europa, sondern inzwischen in allen Wirtschaftsregionen auf dem Globus. Manche von ihnen operieren global von Brasilien, Russland oder Japan aus. Und im Unterschied zu herkömmlichen Retailern bieten die meisten Online-Shops ihre Produkte weltweit an und erreichen so besonders viele Konsumenten beziehungsweise Käufer. Wo auch immer sich der Online-Shop befindet, Interessenten können von überall her auf ihn zugreifen.
Befragungen von Konsumenten zeigen darüber hinaus, welche Vorteile Online-Einkäufe in Sachen Bequemlichkeit, Zeitersparnis und einfacher Produktsuche haben: Man kann nach dem Motto „simple and easy“ zu jeder Tageszeit etwas suchen, finden und kaufen, ohne dass man lange herumstöbern oder sich in die Schlangen vor den Kassen einreihen muss.
Einige Online-Retailer kommen ihren Kunden inzwischen auch bei dem kritischen Punkt der Versandkosten entgegen: So hat das US-Bekleidungsgeschäft Brooks Brothers (jetzt in italienischen Händen) einen pauschalen Tarif für den weltweiten Versand eingeführt – die teilweise sehr hohen Extrakosten sind also für Konsumenten reduziert, wo auch immer sie sich befinden.
Neue Geschäftsmodelle im Web
2. Eine Reihe von Online-Händlern hat laut Mulpuru die Konkurrenz neu definiert beziehungsweise sich online neu erfunden. Beispiele seien die englische Lebensmittelkette Tesco, die jetzt ins Online-Bekleidungsgeschäft eingestiegen ist, sowie das Mode-Label GAP. Beide haben ihr eingeführtes Markenzeichen benützt, um neue Geschäftsfelder in einem Trading-up-Prozess zu erschliessen, anstatt sich auf einen Preiskampf mit anderen Anbietern einzulassen.
Der US-Anbieter Netflix, bisher spezialisiert auf den Leihversand von Film-DVDs, hat sein Geschäftsmodell neu erfunden und nun auf online Film-Streaming anstelle von physischem Ausleihen verlegt. Damit hat er sich angesichts der rückläufigen Bedeutung von DVDs rechtzeitig vor dem Konkurs gerettet und auf ein reines Online-Geschäft gesetzt.
Einen anderen Weg ist der Filmverleiher Blockbuster gegangen. Dort hat man vor kurzem auf ein Kiosksystem an über 10.000 Orten umgestellt, was nicht nur enorme Investitionen erfordert, sondern an einem klassischen Retail-Modell festhält – bei ungewissem Ausgang angesichts der anhaltenden Krisensituation.
3. Erfolgreiche Online-Retailer setzen bewusst IT ein. Laut Forrester haben 2008 Retailer insgesamt 2 Prozent ihres Umsatzes für IT verwendet, während es quer durch alle Branchen 3 Prozent waren. Im Gegensatz dazu haben Web-Retailer 7 Prozent in IT investiert – wobei etwa 5 Prozent auf Innovationen entfielen und der Rest auf Betrieb und Instandhaltung.
Mit anderen Worten: Online-Retailer geben mehr als Doppelte für Verbesserungen der IT aus als ihre Kollegen aus den klassischen Handelsbereichen, die außerdem weit höhere Personal- und Betriebskosten haben. Online-Shops sind laut Forrester wesentlich innovativer, wie zum Beispiel die Kooperation von PayPal und Google Fast Checkout zeige, die den Konsumenten mehr Sicherheit bei Bezahlvorgängen im Web als klassische Kreditkartentransaktionen bietet.
4. Verstärkte Zusammenarbeit mit Herstellern kennzeichnet ebenfalls die Geschäftsprozesse der Online-Retailer: Markenprodukte anzubieten ist für sie weniger problematisch als für klassische Retailer, die oft Waren unter ihrem eigenen Namen anbieten und so den etablierten Brands Konkurrenz machen. Umgekehrt wird laut Mulpuru ein Schuh daraus: Da viele Konsumenten sich sehr markenloyal verhalten, können Web-Shops daraus mehr Umsatz generieren als Ladengeschäfte.
Forrester hat auch festgestellt, dass Webbesucher, die direkt auf Herstellerseiten gehen, dort generell mehr einkaufen als bei anderen Web-Visits. 71 Prozent der Besucher solcher Sites geben an, dort auch Einkäufe tätigen zu wollen. Online-Shops können sich generell diese Haltung der Konsumenten zunutze machen, indem sie bekannte Marken in ihr Angebot integrieren.
Neue Kunden finden in Social Networks
5. Mulpuru sieht einen weiteren Erfolgsfaktor darin, dass Online-Retailer auf die "power of the people“ reagiert hätten. Wer heute in den Social Networks aktiv ist, gehöre zu der neuen Zielgruppe der Online-Retailer. Der Grund dafür ist einfach: Oft sind diese "web-affinen“ User nur einen Klick entfernt, große Teile ihres Lebens spielen sich online ab.
Online-Retailer versuchen deshalb, selbst in Social Networks mitzumischen, indem sie auf Youtube oder Facebook aktiv sind oder eigene Communities auf ihren Webseiten starten, zum Beispiel durch Blogs oder Twitters ihrer eigenen Angestellten. Forrester-Analystin Mulpuru spricht auch von "social commerce tactics“ – im Klartext heißt das: Retailer sind darauf aus, das Engagement der Youtube-, Facebook- oder Twitter-User für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren oder "auf sie zu hören“, wie es marketingmäßig heißt.
Dazu lassen sie sich viel einfallen: So kann man bei dem Start-up Event Brite in San Francisco, das online Tickets für kleinere Events verkauft, einen persönlichen Link auf ihren Facebook- oder Twitter-Account posten, nachdem man einen Kaufvorgang – in diesem Fall: Kauf einer Eintrittskarte – abgeschlossen hat. Laut Forrester können inzwischen 10 Prozent aller Web-Besuche auf Retail-Sites und anschließender Umsätze auf Social Networks und entsprechende „Umleitungen“ zurückgeführt werden.
Mobile Shopping mit dem Smartphone kommt
6. Erfolgreiche Online-Retailer haben, so Forrester, die „mobile Revolution“ zur Kenntnis genommen. Sie wissen, dass besonders Smartphones eine immer größere Bedeutung im Alltag vieler Konsumenten haben. Auch diesen Trend will man sich zunutze machen – iPhone, Blackberry, Netbooks und andere mobile Geräte finden immer mehr Anwender.
Was liegt näher, als auch hierfür Marketing-, Branding- oder letztendlich Einkaufsmöglichkeiten zu schaffen? In der Nutzung des mobilen Internets liegen vor allem die asiatisch-pazifischen Länder weit vorne, Deutschland und andere europäische Länder rangieren noch weit abgeschlagen. Mulpuru weist auf das Beispiel von Yoox hin, einen Retailer, der im April letzten Jahres ohne jede Werbung eine Webseite für mobile Nutzer startete und innerhalb eines Monats bereits 710 Bestellungen registrieren konnte.
Laut Forrester benützen in den USA zur Zeit etwa 62 Prozent der mobilen Nutzer ihre Geräte, um eine Anbieter in ihrer Nähe zu finden und dort etwas zu bestellen, 42 Prozent beschaffen sich Produktinformationen, während sie sich in einem Laden aufhalten, und 39 Prozent vergleichen Preise während ihres Ladenbesuchs. Mulpuru sieht in solchen Beispielen die Zukunft des mobilen Shoppings.