Obwohl derzeit die Absolventenzahl mit Informatikabschluss noch steigt, betrachten Wirtschaft und Politik den gegenläufigen Trend bei der Einschreibung mit zunehmender Sorge: Im vergangenen Jahr 2007 nahmen nur 28 000 Abiturienten ein Informatikstudium auf. Gegenüber 2000 sank die Zahl der Informatikeinsteiger damit um mehr als 25 Prozent.
Der neuesten Zukunftsstudie von McKinsey "Deutschland 2020" zufolge - sie rechnet mit den Szenarien 1,7 oder drei Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr - werden bis 2020 auf dem gesamten Arbeitsmarkt rund 2,5 respektive 6,1 Millionen Arbeitskräfte fehlen. McKinsey plädiert deshalb dafür, die Zahl der Hochschulabsolventen eines Jahrgangs von derzeit 20 Prozent zu verdoppeln. Der Arbeitskräftemangel, die zu geringe Zahl von Hochschulabsolventen und der Mangel an Ingenieuren, so fasst McKinsey zusammen, sind das größte Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands.
McKinsey fordert weit mehr Absolventen
Das bekommen die IT-Dienstleister in Deutschland nun zu spüren, die händeringend nach neuen Mitarbeitern suchen. So erklärt Peter Neisius, Geschäftsführer vom Duisburger BI-Spezialisten cundus AG mit knapp 100 Mitarbeitern: "Ich würde sofort zehn Leute einstellen, doch gute Bewerber mit SAP-Erfahrung zu bekommen ist schwer." Rüdiger Theobald, Leiter Führungskräfte und Mitarbeiterentwicklung bei Business Technology Consulting (BTC), geht davon aus, dass sich die Anzahl der Bewerbungen reduzieren wird. Dennoch möchte er dieses Jahr mindestens 120 neue Mitarbeiter anheuern.
Suchende stoßen laut Sven Hauptvogel von der Personalberatung Schickler aus Hamburg allerdings derzeit auf einen "ruhigen" Bewerbermarkt: "Nachdem sich in den Jahren 2005 und 2006 viele veränderten, hat die Wechselbereitschaft der Kandidaten abgenommen."
Das unterscheide die heutige Situation vom vergangenen Nachfrageboom nach Bewerbern in 2001 und 2002. Der Vorstand des Münchener IT-Beratungs- und -Servicehauses Syngenio Michael May bestätigt dies: "Wir haben im Jahr 2001 die gleichen Kandidaten gesucht wie im Jahr 2008." Der Verantwortliche für Personalentwicklung, der voriges Jahr aus 800 Bewerbungen 15 Kandidaten auswählte, betont, dass kleinere Unternehmen vor allen Dingen den exakt "Richtigen" suchen. "Wir können nicht so viel Unterschiedlichkeit brauchen wie große Unternehmen."
Generalisten schwer zu finden
Sebastian Amtage, Geschäftsführer von b.telligent, einer Unternehmensberatung für das Daten- und Informations-Management aus Garching bei München, konkretisiert: "Die Hauptschwierigkeit ist, Generalisten zu finden." Die Bewerber benötigen technisches Wissen, Kommunikationsstärke und schnelle Auffassungsgabe, aber nicht unbedingt spezifische Modul- oder Programmkenntnisse: "Die Entwicklung von einer Technik in die andere ist immer möglich", erklärt der Manager. Syngenio-Vorstand May ergänzt: "Wenn ein Bewerber eine Jugendgruppe geleitet hat, dann lässt sich daraus schließen, dass er mehr Erfahrung für Projekt- und Kundenarbeit mitbringt als jemand, der weder links noch rechts geschaut hat."
Umgekehrt können schlecht strukturierte oder schlampige Bewerbungsunterlagen einen Bewerber aus dem engeren Auswahlkreis ausschließen, selbst wenn der Inhalt stimmt: "Wie will einer ein Projekt effizient leiten, wenn er es nicht einmal schafft, eine ordentliche Bewerbung abzugeben?", fragt Berater Amtage. Trotzdem sind viele Personalverantwortlichen auch zu Kompromissen bereit. So wird etwa auf den Auswahlfilter Einser- oder Zweier-Abschluss, auf die Rechtschreibprüfung oder den Auslandsaufenthalt verzichtet. Eine wichtige Rolle spielt hingegen, was im Lebenslauf steht. May: "Das wichtigste Merkmal für uns ist die Authentizität; es ist eine Frage der gesamten Story eines Bewerbers." Das heißt, "auch Umwege sind okay, sie müssen sich nur erschließen", betont Carsten Ackermann von Accenture.
Branchenwissen immer wichtiger
Was sich im Vergleich zu früher verändert hat, ist das Thema Domänen- beziehungsweise Branchenexpertise. Theobald von BTC: "Vor fünf oder sechs Jahren hat es ausgereicht, Spezialisten zu finden, heute sind das Prozesswissen und das Branchen-Know-how bei der Mitarbeiterauswahl von großer Bedeutung." Besonders in größeren Unternehmen wie der BTC AG, die sich in der Automotive-, in der Versorgerbranche oder im Public-Sektor bewegt, werden Bewerber mit Branchenexpertise gesucht. Dabei gibt es immer wieder Überraschungen: Als BTC eine neue Stelle mit Kenntnissen über Geo-Informationssysteme ausschrieb, bewarb sich eine Geologin, die "über sehr gute SAP-Kenntnisse verfügt". Das zeigt, dass eine gezielte Suche nach Talenten in Studienrichtungen, die sich nicht auf Anhieb mit IT verbinden lassen, ebenfalls auszahlen kann.
Virtueller Headhunter sucht Personal
Allerdings greifen Bewerber heute nicht mehr beim erstbesten Angebot zu. Unternehmen sind "gezwungen", mit interessanten Randbedingungen ambitionierte Bewerber zu ködern. "Wer attraktive Bewerber will, muss selbst attraktive Bedingungen bieten", drückt sich BTC-Mann Theobald aus und ergänzt: "Allerdings darf der Fokus hier nicht auf rein monetären Anreizen liegen, denn wer für Geld kommt, der geht auch für Geld." Tatsächlich geben sich IT-Unternehmen immer mehr Mühe, den Bewerbern ins Auge zu fallen. Auf ihren Websites bemühen sich die Dienstleister deshalb, mit potenziellen neuen Mitarbeitern auf neuen Wegen Kontakt aufzunehmen.
So lädt beispielsweise beim Software- und Beratungshaus IDS Scheer, das allein im Monat Januar mit knapp 900 Bewerbungen die höchste Anzahl an Bewerbungseingängen in der Geschichte des Unternehmens registrierte, seit Kurzem ein "virtueller Headhunter" Hochschulabsolventen und wechselwillige IT-Kräfte auf seine Microsite ein. Außer dem Personalberater Ansgar von Löwenberg stellen sich eine Reihe von Bereichsleitern des Unternehmens mit ihrem Tätigkeitsfeld im Videoclip vor.
"Belastbarkeit" gehört wie "Reisebereitschaft" in Stellenausschreibungen fast zum Standard. Doch in der Praxis weichen Unternehmen besonders in Hinsicht auf die Reisebereitschaft inzwischen von ihren starren Forderungen ab. Denn vielfach schreckt das Kriterium Kandidaten von einer Zusage ab - es sei denn, sie sind noch sehr jung, unverheiratet oder kinderlos. Accenture-Mann Ackermann kommt den Beratern inzwischen mit speziellen Vereinbarungen entgegen, in denen festgelegt wird, wie viel Tage pro Woche vor Ort im Projekt zu arbeiten ist. Auch die Münchener IT-Beratung Syngenio strebt eine Begrenzung der Reisezeit an - auf nur noch ein Drittel der Arbeitszeit. Zudem wird in den Unternehmen darauf hingearbeitet, die Tätigkeiten und Rollen auf die jeweiligen Lebensphasen abzustimmen und nicht ausgerechnet Familienväter - oder auch Mütter - für die reiseaufwendigsten Jobs vorzusehen.
Mitarbeiter an Hochschulen schicken
Auch die Weiterbildungsmöglichkeiten sind für Neueinsteiger relevant. Beim Spezialisten für Business Intelligence cundus erhielt eine Bachelor-Absolventin mit ihrer Neueinstellung bereits die Chance offeriert, ihr betriebswirtschaftliches Wissen in einem Teilzeitstudium auszubauen, das ihr Arbeitgeber zudem finanziell unterstützt. Ein anderer Mitarbeiter - Industriekaufmann mit Betriebswirtschafts-Abschluss - kam sogar in den Genuss einer vierjährigen Freistellung, um am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik an der Universität Duisburg zu promovieren.
Manager sollen für Technik begeistern
Die Nähe zu Universiäten schafft für IT-Dienstleister einerseits einen direkten Kontakt zur Forschung und andererseits zu talentiertem Nachwuchs. Wie beim Beratungshaus BTC. Als Mitgliedsunternehmen der Berufsakademie (BA) Oldenburg fördert der IT-Dienstleister jedes Jahr vier Wirtschaftsinformatik-Studenten der Berufsakademie. Zudem genießen drei Kandidaten in den dualen Ausbildungsgängen der Hochschule Bremen sowie der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft und Technik die Unterstützung des Oldenburger Unternehmens. Führungskräfte zieht BTC in einem zweijährigen sogenannten New-Talent-Programm heran, wo eine Auswahl an Hochschulabsolventen in intensivem Kontakt mit den Vorständen geschult wird.
Der Kontakt zu oder die Zusammenarbeit mit den Universitäten gehört heute zu den Selbstverständlichkeiten bei den Recruiting-Bemühungen der Unternehmen. Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) rufen jetzt sogar dazu auf, die Beziehungen zu Fakultäten und Professoren zu intensivieren: 10 000 Führungskräfte sollten demnach in den kommenden Jahren in diverse Schulen geschickt werden, um dort beim Nachwuchs Begeisterung für Technik zu wecken - eine Werbung, die bitter nötig ist.