Der amerikanische Journalist Dan Kois hat gestanden - einen ganzen Monat lang. Er stand bei der Arbeit, im Kino, beim Essen und wenn er seinen Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorlas. Die einzigen Gelegenheiten, zu denen er sich hinsetzte, waren: beim Autofahren und auf der Toilette - aus verständlichen Gründen.
Am ersten Tag seines Experiments saß er insgesamt nur 25 Minuten. Und der Monat des Stehens zahlte sich aus: Er verlor Gewicht, seine Rückenschmerzen und Verspannungen verschwanden, er fühlte sich produktiver und fitter. Allerdings taten ihm schon nach wenigen Stunden fürchterlich die Füße weh.
Mal ehrlich: Könnten Sie sich vorstellen, Ihr Leben überwiegend im Stehen zu verbringen? Wohl kaum.
25 Minuten Bewegung am Tag
Kein Wunder, denn wir sind Stehen nicht mehr gewohnt. Wir sitzen morgens am Frühstückstisch, später in der Bahn, im Bus oder im Stau. Anschließend sitzt die Mehrheit acht bis neun Stunden im Büro, an der Kasse oder in der Schule. Am Schreibtisch im Büro ist alles in Griffnähe angeordnet, Bewegungen begrenzen sich auf die Bedienung von Computer und Telefon. Im Durchschnitt sitzt jeder Erwachsene 11,5 Stunden täglich, bei Grundschulkindern sind es rund neun Stunden am Tag. Selbst die Besprechungen und das Mittagessen werden "ausgesessen".
Das Zentrum für Gesundheit an der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS) hat ermittelt, dass sich ein durchschnittlicher, gesunder Mann heute nur noch etwa 25 Minuten am Tag aktiv bewegt. Vor 100 Jahren waren es acht bis zehn Stunden am Tag. Dieser Bewegungsmangel hat Folgen: Er macht immer mehr Menschen körperlich und auch seelisch krank.
Der Grund: Langes Sitzen führt unter anderem dazu, dass sich die Muskeln zurückbilden und die Wirbelsäule dadurch ihren natürlichen Halt verliert. Es kommt zu Problemen mit den Bandscheiben, Schmerzen und Verspannungen. Außerdem produzieren die Muskeln weniger von einem Enzym namens Lipoproteinlipase, das beim Fettabbau beteiligt ist.
Kurzum: Wer viel sitzt, wird schneller dick. Der Körper speichert Wasser in Beinen und Füßen, im schlimmsten Fall können auch die Lunge oder das Herz-Kreislauf-System in Mitleidenschaft gezogen werden.
Langes Sitzen schadet
Mehr noch: Zahlreiche Untersuchungen zeigen einen Zusammenhang zwischen langem Sitzen und einer verkürzten Lebenserwartung. So haben unter anderem Forscher des amerikanischen Pennington Biomedical Research Center bei einer Langzeitstudie unter 17.000 Probanden festgestellt, dass diejenigen, die täglich mehr als drei Stunden am Stück sitzen, eine geringere Lebenserwartung hatten.
Und für eine Studie im "American Journal of Epidemiology" beobachteten Wissenschaftler 14 Jahre lang 120.000 erwachsene Amerikaner. Das Ergebnis: Männer, die täglich sechs oder mehr Stunden sitzen, hatten eine um 20 Prozent höhere Sterberate als andere, die nur bis zu drei Stunden täglich saßen. Bei Frauen lag die Sterblichkeitsrate sogar um 40 Prozent höher. Und zwar unabhängig davon, ob die Bürohocker nach Feierabend oder am Wochenende Sport trieben.
"Wenn wir unsere Zellen nicht versorgen, unseren Kreislauf, unseren Stoffwechsel, unsere Muskeln und unsere Knochen, dann kriegen wir das mit dem Freizeitsport nicht mehr kompensiert", sagt Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule. Wer den ganzen Tag über Sahnetorte und Pizza in sich reinstopft, nimmt schließlich auch nicht ab, wenn er abends einen kleinen Salat isst.
Heilmittel gegen die Sitzkrankheit
Für viele Mediziner und Wissenschaftler ist Sitzen bereits das neue Rauchen: So haben beispielsweise Daniela Schmid und Michael Leitzmann von der Universität Regensburg in einer Studie einen Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen und langem Sitzen festgestellt. Unter den vier Millionen Teilnehmern, deren Sitzgewohnheiten sie in ihrer Metastudie analysierten, traten Lungen-, Darm- und Gebärmutterschleimhautkrebs häufiger auf, je länger die Personen am Tag vor Computer oder Fernseher saßen. Und auch hier hatte das Pensum an Freizeitsport offenbar keinen Einfluss.
Doch zumindest im Büro wollen sich die Menschen wieder mehr bewegen, wie eine TNS Emnid-Umfrage im Auftrag des Büromöbelherstellers Wilkhahn unter 1.090 Büro-Angestellten ergab. 48 Prozent der Befragten stimmten der Aussage "Es gibt zu wenig Bewegungsmöglichkeiten im Büro" zu. Bei den unter 29-jährigen wünschen sich sogar 59 Prozent mehr körperliche Aktivität. In den USA sind die Zahlen ähnlich. Dort gibt es allerdings schon seit ein paar Jahren ein geschärftes Bewusstsein für die Problematik, in den Medien und in Studien ist oftmals von "sitting disease", also der Sitz-Krankheit, die Rede.
Langsame Reaktion
Hierzulande reagieren Arbeitgeber und Krankenkassen schleichend auf den täglichen Bewegungsmangel. Und zwar mit Sportprogrammen, Rückenschulen und Zuschüssen für Fitnesskurse. "Das stärkt dann zwar unsere Ausdauer und unsere Kraft, aber wir bekommen unsere Stoffwechselfunktionen nicht mehr in den Griff", weiß Froböse von der Sporthochschule Köln. Der ganze Organismus liege nach einem solchen Bürotag im Koma.
Deshalb solle man zwar nicht mit dem Freizeitsport aufhören - Stichwort Bewegungsmangel - aber das inaktive Verhalten in Angriff nehmen, also mehr Bewegung in die Büros selbst bringen. Letztlich können schon kleine Veränderungen etwas bewirken, wie Froböse sagt: "Wir müssen stündlich aufstehen und uns fünf Minuten bewegen. Es reicht schon, statt im Sitzen im Gehen zu telefonieren."
Natürlich ist auch die Industrie schon auf das Problem aufmerksam geworden und hat verschiedene Büromöbel entwickelt. Da gibt es Stühle, die im Sitzen "zu natürlichen Bewegungen animieren" sollen, andere werden als Bürostuhl und zeitgleich "gesundes Trainingsgerät" angepriesen. Das Geld für solche Anschaffung könne man sich jedoch sparen, sagt Experte Froböse. "Da wird der Körper trotzdem in ein Korsett gepresst. Und es bringt auch nichts, wenn der Stuhl mich bewegt, das muss ich schon selber machen."
Andere Hersteller setzen auf Laufbänder fürs Büro. Da sollen die Angestellten dann während des Telefonats oder dem Beantworten von E-Mails über das Laufband hecheln - in der Realität wohl nur etwas für Exoten. In Frankreich und Amerika sind Gehpulte durchaus verbreitet, in Deutschland sind sie eher selten.
Man muss nicht einen Monat stehen
Zu Recht, wie Froböse findet. "Sie können nicht am Computer schreiben und gleichzeitig auf dem Laufband laufen, dafür ist unser Körper gar nicht gemacht", sagt er. Unser Körper sei konzipiert für Phasen des konzentrierten Arbeitens und Lernens und für Phasen der Bewegung. Beide sollen einander abwechseln.
Dafür muss man nicht einen ganzen Monat lang stehen wie Dan Kois. Denn auch das tut dem Körper nicht gut. Wir sind nicht geschaffen für einseitige Belastungen.
Wer also vom Arbeitgeber kein Stehpult gestellt bekommt, solle einfach alle Stunde einmal aufstehen und durchs Büro laufen oder ein paar Treppen steigen. Angenehmer Nebeneffekt: Das fördert die Konzentration.
Was das angeht, haben Raucher zumindest dieses eine Mal tatsächlich einen gesundheitlichen Vorteil, sagt Froböse: "Die gehen regelmäßig vor die Tür." (Quelle: Wirtschaftswoche)