"The Phone is already dead", ließ Microsoft-Visionär und Hololens-Boss Alex Kipman Anfang Mai 2017 verlauten. Die Tech-Plattform "Wired" veröffentlichte ungefähr zur selben Zeit einen Artikel mit der Überschrift: "It’s not just you - the lowly phone call is making a comeback". Die Basis des Artikels bildet in erster Linie das Wunschdenken von MIT-Wissenschaftlern und der US-Soziologin Sherry Turkle.
Könnte es tatsächlich sein, dass beide oben genannten Aussagen zutreffen? Ich meine ja. Konventionelle Festnetztelefone sind definitiv tot. Der Akt des Telefonierens jedoch ist für die Ewigkeit. Die Gründe, die mich zu diesen Aussagen bewegen, werden Sie eventuell überraschen:
Der Niedergang des Festnetztelefons?
Ich bekenne: Ich liebe Festnetztelefone. Sie liefern zuverlässig gute Sprachqualität, ganz ohne seltsame Verzögerungen, Ausfälle und die gewohnte, hundertfache Repetition des Satzes "Und wie ist es jetzt?!". Herkömmliche Telefone an einer TAE-Dose müssen auch nicht aufgeladen werden. Und man weiß immer, wo man sie findet. Vorausgesetzt, es handelt sich nicht um schnurlose Exemplare.
Echte Festnetztelefone (nicht zu verwechseln mit den VoIP-Abkömmlingen) "streamen" Sprache über eine unabhängige, zweiadrige Kupferleitung. Sie liefert auch gleichzeitig den Strom. Im Falle eines Blackouts funktioniert das Festnetztelefon also weiterhin. Wegen ihrer Zuverlässigkeit sind Festnetztelefone inklusive einer vorgeschalteten Telekommunikationsanlage auch ganz besonders gut für den Einsatz in Unternehmen geeignet. Wenn Sie an einem Schreibtisch sitzen, werden Sie dort ohnehin Ihre Telefonanrufe tätigen. Wieso also Zuverlässigkeit und Sprachqualität zu Gunsten von Mobilität aufgeben?
In den USA hat die Festnetztelefonie im Mai 2017 allerdings einen unheilbringenden Meilenstein erreicht: Zum ersten Mal seit 100 Jahren besitzt die Mehrheit der amerikanischen Haushalte keinen Festnetzanschluss mehr. Eine Studie des amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zeigte, dass inzwischen 50,8 Prozent der US-Haushalte zur Kategorie "mobile only" gehören.
Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle, was eine Gesundheitsbehörde mit Telefonen am Hut hat. Wie sich herausgestellt hat, geht die Akzeptanz konventioneller Festnetztelefonie beim Menschen statistisch mit einer im Allgemeinen geringeren Risikobereitschaft einher. Während die Mobile-Only-Generation in der Regel dem Risiko erliegt, zu viel zu trinken und zu rauchen, leben die Festnetz-Menschen wie abstinente Einsiedler. Das untermauern weitere Daten der Studie: 29 Prozent der Amerikaner ohne Festnetzanschluss neigen zum übermäßigen Alkoholkonsum, wohingegen nur 18 Prozent der Festnetz-Besitzer eine solche Vorliebe an den Tag legen. Wer dem Festnetz also abtrünnig geworden ist, stellt offensichtlich ein Gesundheits- und Sicherheitsrisiko dar.
Der Fluch konventioneller Telefonie
Wenn Festnetztelefonie qualitativ besser und zuverlässiger ist, warum wenden sich die Leute von dieser Technologie ab? Der entscheidende Faktor an dieser Stelle ist Bequemlichkeit. Und zwar in erster Linie für den Anrufer. Schließlich sind Festnetztelefone mit einem Ort verbunden, nicht mit einer Person. Man ruft als eine Örtlichkeit an, kein Individuum. Wenn jemand Sie erreichen will, ruft er auf Ihrem Mobiltelefon an und nicht das den Ort (Büro oder Zuhause), wo er Sie vermutet.
Einige Festnetz-Anhänger beschweren sich inzwischen schon, dass die einzigen Anrufe, die sie noch bekommen, Werbezwecken dienen. Schließlich erlaubt es ein Festnetztelefon in der Regel nicht so einfach wie ein Smartphone, Anrufe zu blockieren. Also geht der Spam-Regen weiter. Außer, man schafft das Festnetz ab oder schaltet eine teure TK-Anlage vor das Telefon. Darüber hinaus lassen sich über den Telefonanbieter bestimmte Anrufernummern sperren.
Das Smartphone hat aktuell die Nase vorn. Aber auch das schlaue Mobiltelefon ist zum Telefonieren nicht die beste Wahl. Der Akku stirbt, die Verbindung bricht ab, im Straßenverkehr sorgt es zunehmend für Gefahr. Die meisten Probleme und Hindernisse mit der Telefonie sind bei jeder Art von Telefonapparaten gleich: Ungewollte Marketing-Belästigungen, falsch verbunden, Streichanrufe und wenn man eine Nachricht hinterlassen möchte, dauert das Ewigkeiten. Ein Telefongespräch ist außerdem eine synchrone Kommunikationsform - und wir alle wissen, ist es oft ein schwieriges Unterfangen, jemals irgendjemanden "zur rechten Zeit" zu erreichen.
Einige von uns akzeptieren diese Einschränkungen - andere sehen stattdessen davon ab, zu telefonieren und sind auf Messaging-Dienste umgestiegen. Doch es gibt gute Nachrichten: Meiner Meinung nach werden all diese Probleme bald der Vergangenheit angehören.
Die fantastische Telefon-Zukunft
Als Microsoft-Mann Kipman das Telefon als tot bezeichnet hat, war er gerade dabei vorherzusehen, wie seine Hololens das Telefon ersetzt (wenn man den Hammer erfunden hat, sieht schließlich alles wie der Nagel aus). Aber die Mixed-Reality-Technologie alleine wird die Probleme der konventionellen Telefoniefunktion nicht lösen können. Sie sorgt in erster Linie dafür, dass Telefonieren mehr Spaß macht. Ich bin außerdem der festen Überzeugung, dass wir noch mindestens zehn Jahre von einer praktikablen Hololens-Version entfernt sind, die mobil genug ist, um sie dauerhaft tragen zu können.
Als das "Wall Street Journal" über die Pläne von Amazon und Google berichtete, ihren virtuellen Smart-Home-Assistenten eine Anruffunktion spendieren zu wollen, war das schon eher ein Fingerzeig in die Richtung, in die sich die Telefonie entwickeln wird. Wenig später enthüllteAmazon sein neues Touchscreen-Smart-Home-Device Echo Show - und in diesem Rahmen auch das Software-Update "Alexa Calling", mit dem auch die übrigen Echo-Geräte zum Telefonieren genutzt werden können. Google zog auf der Entwicklerkonferenz I/O 2017 nach und kündigte an, dass auch Home in Zukunft "Telefon" kann.
Diese ersten Versuche, das Telefonieren mit einem virtuellen Assistenten zu verheiraten, beruhen auf der Nutzung von Sprachkommandos und einem vernetzten Adressbuch. Die Lautsprecher und Mikrofone des Gerätes ermöglichen im Zusammenspiel mit VoIP-Software Skype-ähnliche Sprachanrufe über das Internet. Keine besonders aufregende Idee. Eigentlich ist es nur eine "Verschiebung" der Smartphone-Fähigkeiten auf neue Devices.
Wenn ich Familienmitglieder anrufe, drücke ich für gewöhnlich die Home-Taste auf meinem iPhone und sage Siri, wen sie anrufen soll. Amazon Echo und Google Home tun bald im Grunde genau dasselbe, nur mit einem besseren Lautsprecher, dadurch aber ohne die Option auf ein Gespräch in Privatsphäre, sollten mehrere Personen anwesend sein - und sieht man von der Möglichkeit ab, den Anruf wieder auf ein Smartphone umzuleiten.
Kurzum: Ein Assistent der einen Telefonanruf für mich erledigt, ist toll. Aber was ich wirklich will ist, dass er Anrufe für mich entgegen nimmt. Ich will, dass mein virtueller Assistent meine Anrufe im Blick hat, entsprechende Notizen und Übersichten für mich erstellt und für weitere Aufgaben zur Verfügung steht. Es ist eine gesicherte Annahme, dass die virtuellen Assistenzsysteme von heute sich immer mehr zu menschenähnlichen Assistenten entwickeln werden. Zumindest was ihre Fähigkeiten zur Unterstützung angeht. Und das Management von Telefonanrufen ist genau das, was menschliche Assistenten und Sekretärinnen seit der Erfindung des Telefons beschäftigt.
Die Integration von Telefonie-Funktionen in virtuelle Assistenzen (oder die Integration von virtuellen Assistenten in die Telefonie) bietet viele Möglichkeiten und ist unvermeidlich. Ich glaube, das erste Gerät dieser Art wird von Amazon kommen und sich an Unternehmen richten.
Das ist Amazon Echo Chamber
Für mich ist klar, dass Amazon seine Echo-Hardware auf ganz spezifische Use Cases und Wohnräume zuschneiden wird - das hat unter anderem der Echo Look gezeigt. Mit den folgenden Zeilen möchte ich Ihnen meine Vorstellung des perfekten Büros der Zukunft, beziehungsweise des perfekten, virtuellen Business-Assistenten näher bringen. Nennen wir unser fiktionales Device doch einfach "Amazon Echo Chamber". Stellen Sie sich darunter ein VoIP-Bürotelefon im konventionellen "Festnetztelefon-Mantel" vor, das gleichzeitig als Lautsprecher fungiert und von einer omnipräsenten Alexa gesteuert wird - Ihrer persönlichen Sekretärin.
Wenn jemand anruft, hören Sie nicht einmal das Klingeln - Alexa nimmt den Call entgegen. Ein Anrufer fragt nach einem Lunch-Termin mit Ihnen am Dienstag. Das lehnt Alexa aus terminlichen Gründen freundlich ab und schlägt ersatzweise den Mittwoch vor. Gesagt, getan - Alexa erledigt den Kalendereintrag. Kurzum: Alexa und der Echo Chamber erledigen über ein sprachbasiertes Interface das, was KI-Kreation "Amy" heute schon via E-Mail tut: Sie planen Ihre Termine.
Als nächstes ruft einer dieser penetranten Werbetreibenden an. Alexa geht ran, entscheidet schnell, dass es sich um einen Spam-Anruf handelt, legt auf, schreibt einen Report und sperrt gleich noch die Rufnummer. Sie bekommen nicht einmal mit, dass dieser Anruf jemals stattgefunden hat. Es sei denn, Sie fragen Alexa.
Wieder klingelt das Amazon-Echo-Bürotelefon - diesmal ist es Ihr Partner. Alexa erkennt die Nummer gleich und fragt Sie direkt, ob Sie den Ruf annehmen wollen.
Als das Echo Chamber zum vierten Mal klingelt, handelt es sich um einen planmäßigen Business Call. Wenn der erledigt ist, sagen Sie nur: "Alexa, schick‘ mir die Notizen zu diesem Gespräch" - schon läuft eine E-Mail mit entsprechendem Anhang in Ihrer Inbox auf. Dieses Feature würde das abbilden, was der virtuelle Assistent "Clarke" kann: Telefongespräche protokollieren.
Während des vierten Telefonats ruft eine weitere Person an. Alexa übernimmt das und informiert den Anrufer darüber, dass Sie bereits im Gespräch sind. Sollte der Anrufer eine Sprachnachricht hinterlassen haben, stellt Alexa diese selbstverständlich ebenfalls zur Verfügung.
Interessanterweise gibt es bisher keinen virtuellen Assistenten, der während eines Telefonanrufs intervenieren, beziehungsweise interagieren kann. Bis auf den Google Assistant, der genau das während Allo-Chatsessions tut. Das System analysiert den Inhalt der Textnachrichten und bietet daraufhin entsprechende Vorschläge an, die für beide Teilnehmer sichtbar sind.
Die Integration von virtuellen Assistenzen und Telefonie wird endlich die eigene, virtuelle Sekretärin Wirklichkeit werden lassen und verhilft beiden Technologien zur Perfektion. Es macht den virtuellen zum "echten" Assistenten und macht die Telefonie gleichzeitig wieder aufregend und komfortabler als je zuvor. Dieses "Echo-Chamber-Ding" wird auf Ihrem Schreibtisch thronen und alle möglichen Arten von Funktionen und Aufgaben erledigen - unternehmensspezifische Skills lassen sich darüber hinaus noch "dazu entwickeln".
Mein Fazit: Die Telefonie als Smartphone-Funktionalität ist ein temporäres Phänomen. Ihr ultimatives Ziel ist hingegen die "Vereinigung" mit einer virtuellen Assistenz. Denn diese KI-Assistenten werden die Probleme lösen, die derzeit sowohl Festnetz- als auch mobile Telefone plagen: Werbeanrufe, Voicemail-Overkill, leere Akkus, schlechte Netzabdeckung.
Das Telefon ist tot, lang lebe die virtuelle Assistenz!
Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag unserer US-Schwesterpublikation computerworld.com.