CIO gewöhnt sich E-Mails ab

Wie Bayer MaterialScience Web 2.0 lebt

22.03.2011 von Riem Sarsam
Das Erfolgsrezept: Das Collaboration-Tool ist simpel und funktioniert ohne viel Schnickschnack. Das vereinfacht das Mitmachen für die Mitarbeiter ungemein. So gräbt das Tool das weltweit verteilte Wissen der Mitarbeiter aus.

Der Auslöser war ärgerlich. Verschiedene Teams arbeiteten am gleichen Thema, ohne es zu wissen. Unnötige Doppelarbeiten waren die Folge - nicht selten in Konzernen der Größenordnung der Bayer Material-Science AG (BMS) mit knapp 15.000 Mitarbeitern an 30 Standorten. Auf jeden Fall ein guter Grund, aktiv zu werden. "Das war der Startpunkt", erinnert sich CIO Kurt De Ruwe.

Und noch ein Aspekt spielte für BMS eine wichtige Rolle für die Einführung eines Collaboration-Tools: der demografische Faktor. In dem Chemie-Konzern mit vielen gut ausgebildeten Mitarbeitern und einer großen Forschungs- und Entwicklungsabteilung ist das Wissen in den Köpfen mehr als nur "Humankapital". Schon heute ist absehbar, dass in den nächsten zehn Jahren eine Reihe hoch qualifizierter Kollegen in den Ruhestand geht. "Ein Wissens-Management soll einer unserer Wege sein, um jüngeren Mitarbeitern ihre Erfahrungen zu vermitteln", sagt De Ruwe.

CIO Kurt De Ruwe, Bayer MaterialScience: "Wir befinden uns schon heute an dem Punkt, an dem wir das Collaboration-Tool gar nicht mehr abschalten können."
Foto: Bayer MaterialScience

Gut zwei Jahre sind vergangen, seit BMS beschloss, gegenzusteuern. Die ersten Versuche, eine neue Software zu installieren, scheiterten, sowohl mit gekauften als auch mit eigens entwickelten Lösungen. "Die Mitarbeiter haben einige Monate damit gearbeitet, und dann ist die ganze Sache wieder eingeschlafen", berichtet De Ruwe.

Mehr Psychologie als Technik

BMS drohte das Schicksal vieler Unternehmen: Die Bemühungen um ein Knowledge-Management enden auf einem großen Datenfriedhof. Auch, weil Wissens-Management weniger mit Technik und mehr mit Psychologie zu tun hat. De Ruwe weiß das. "Die Technik trägt vielleicht zehn Prozent zum Gelingen bei", schätzt er. Dennoch: "Ein Tool ist wichtig, um das Vorhaben überhaupt umsetzen zu können."

Anfang dieses Jahres zählt BMS mehr als aktive 500 Gruppen, die die Mitarbeiter von sich aus gegründet haben.
Foto: Bayer AG

Rein zufällig stolpert De Ruwe über eine weitere Software. Kein Wissens-Management, sondern eine Collaboration-Software: "Connections" von IBM. Nicht Datenbanken, Informationsstrukturen oder Wissensquellen sind hier die entscheidenden Parameter, sondern schlichtweg die Art und Weise, wie Menschen etwas mitteilen und zusammenarbeiten.

Weltweit schon über 2600 Mitarbeiter aktiv

BMS begibt sich in einfachen Schritten auf den Weg zum Enterprise 2.0. Eine kleine Gruppe von 50 Leuten aus dem Bereich Forschung und Entwicklung startet einen erneuten Versuch. Ohne jegliche Unterstützung in Form von Anweisungen, Schulungen oder Reklame wächst der Nutzerkreis binnen kürzester Zeit auf mehr als 700 Mitarbeiter weltweit. Die Handhabung ist einfach: Man präsentiert sich mit seinen Spezialgebieten und Interessen oder erzählt, woran man gerade arbeitet. So verschwinden Bereichs- und Ländergrenzen, und Kollegen finden sich, die sich sonst nie begegnet wären.

Längst ist die Nutzung über das Pilotstadium hinaus. Die Zahl der Beteiligten liegt weltweit bei mehr als 2600 und wächst kontinuierlich. "Weil die Leute mögen, wie das Tool arbeitet", lautet die schlichte Erklärung. Dabei bietet die Software gar keine besonders ausgefuchsten Funktionalitäten. Der eigentliche Trumpf ist ihre Einfachheit. "Andere Lösungen beherrschen weit mehr Aufgaben", so der CIO. "Das führt aber nur dazu, dass man den Überblick verliert." Viel wichtiger als schöne Extra-Features ist die Einbettung in eine einzige Anwendung. Ein Hin und Her zwischen unterschiedlichen Applikationen entfällt.

Wer Xing oder Facebook kann, beherrscht auch das Tool

Die Bedienung erinnert an bekannte Social-Web-Sites. Wer Xing oder Facebook kann, kann auch Connections. Das Tool erlaubt aber mehr als das bloße Vernetzen von Menschen oder die schnelle Verbreitung von Mitteilungen. Mit Connections lassen sich Dateien und Dokumente austauschen und bearbeiten, es kann gebloggt und per Wiki-Technik ein unternehmenseigenes Lexikon erstellt werden.

Die Profile der Mitarbeiter reichen auch weit über jene in Business-Netzen hinaus, sie sind stärker auf den Bedarf des Unternehmens zugeschnitten. Und BMS profitiert davon. "Das Tool wird heute zur entscheidenden Quelle, um herauszufinden, wer die besten Leute für ein Projekt sind", so De Ruwe.

Welche Vorteile Manager weltweit im Einsatz von Web-2.0-Technologien innerhalb des Unternehmens sehen.
Foto: McKinsey/CIO.de

Selbst die Installation ist leicht. BMS startete mit Version 2.5 und stieg erst vor Kurzem auf Version 3 um. "Die komplette Migration war an einem Wochenende abgeschlossen", erzählt De Ruwe. Weltweit drei Leute aus seinem Team waren mit Unterstützung von IBM an der Umsetzung beteiligt. BMS bleibt eng am Standard und hat keine Anpassungen vorgenommen. Lediglich das Anwendungsprotokoll LDAP wurde integriert, damit die Mitarbeiter sich nicht extra anmelden müssen.

Regeln für Zugang zu Communities bestimmen Initiatoren selbst

Anfang dieses Jahres zählt BMS mehr als aktive 500 Gruppen, die die Mitarbeiter von sich aus gegründet haben. Ob für Abteilungen wie IT, Accounting, Marketing oder für Themen wie "Nachhaltigkeit" oder "Business-Frauen" - der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die Regeln für den Zugang zu diesen Communities bestimmen die Initiatoren.

Diese reichen von offenen Communities, an denen jeder teilnehmen kann und alles sichtbar ist, bis hin zu geschlossenen Bereichen, in die man eingeladen werden muss und die für Nicht-Mitglieder unsichtbar sind. Auch dies ist kein Hexenwerk, erklärt De Ruwe: "Eine Community zu gründen dauert 30, die Regeln aufzustellen zehn Sekunden."

Der CIO ist in 30 Communities unterwegs

Der CIO selbst geht mit gutem Beispiel voran. Er ist mittlerweile Mitglied in 30 Communities. Und die haben keineswegs nur mit IT zu tun. Darüber hinaus hat er sich angewöhnt, kaum noch E-Mails zu schreiben, sondern viele Mitteilungen über Connections zu posten. "E-Mails gehen immer an einen geschlossenen Kreis von Empfängern", sagt er. "Oft sind die Informationen aber für viel mehr Leute interessant."

Für den umgekehrten Weg hat er sein System so eingerichtet, dass es ihn auf dem Laufenden hält. Eine Meldung schlägt auf, wenn eine bestimmte Person etwas postet oder ein für ihn interessantes Thema in einer Nachricht, einem Blog oder einem Wiki-Eintrag auftaucht.

Die Unternehmensdaten der Bayer MaterialScience.
Foto: CIO.de

Der Erfolg, den De Ruwe an den Nutzerzahlen und einem Aktivitätsindex ablesen kann, leitet nun die nächste Phase bei BMS ein. 2011 will der CIO die Beteiligung der Belegschaft mit einem aktiven Marketing vorantreiben. "Collaboration gehört zu den Top-Drei-Themen der IT in diesem Jahr", kündigt er an. Die bis jetzt geschaffene Grundlage wird nun ausgebaut.

10 Minuten Social Media am Tag reichen

Zwei wesentliche Hürden hat BMS dabei zu bewältigen. Collaboration kostet Zeit. Lesen dauert und Schreiben noch länger. Doch das darf kein Hinderungsgrund sein. "Es führt nur dazu, dass man niemals anfängt", sagt der CIO. "Zehn Minuten am Tag reichen."

Weit schwieriger steht es um das Mitteilungsbedürfnis der Menschen: Wer im realen Leben nichts sagt, wird nicht zwingend in einer virtuellen Umgebung gesprächiger. Collaboration kostet Überwindung. Übrigens unabhängig vom Alter. "Unsere fünf aktivsten Nutzer sind alle über 40", winkt De Ruwe ab. Viele fürchten, sich bloßzustellen, oder es bereitet ihnen Unbehagen, nicht zu wissen, wer mitliest. "Der erste Schritt ist der schwerste", hat De Ruwe gelernt und wird nicht müde, seine Leute immer wieder zu diesem ersten Schritt zu ermutigen.

Fazit: Abschalten geht nicht mehr

Fazit: Ideen überwinden Grenzen, Probleme werden weltweit gelöst, Kunden-Feedback dringt durch den gesamten Konzern, die offene Kommunikation stärkt das Wir-Gefühl der Mitarbeiter, und endlich: Wissen geht nicht verloren, sondern entwickelt sich weiter. Die Liste der Vorteile, die das Collaboration-Tool bei BMS rechtfertigt, besticht. "Wir stehen heute schon an dem Punkt, an dem wir es gar nicht mehr abschalten könnten", sagt De Ruwe und hält noch ein Argument parat, das wohl keinen CIO kalt lässt: "Wir zahlen pro Nutzer einen Euro pro Monat."