Multi-Channel-Strategie

Wie der Einzelhandel in Zukunft funktioniert

07.10.2016 von Christoph Lixenfeld
In zehn Jahren gibt es ausschließlich integrierte IT-Systeme für Online- und Offline-Handel, wettet Björn Wöstmann von Lloyd Shoes. Wer weiter IT-Silos betreibt, wird scheitern. Fast alles spricht dafür, aber auch drei Faktoren dagegen.
  • Weshalb der Erfolg beim Multi-Channel vom Datenschutz abhängt
  • Wieso selbst die aufwendige Integration in Handelsplattformen wie eBay und Amazon die Händler nicht abschrecken wird
  • Warum Händler nicht um massive Investitionen herumkommen werden, wenn sie erfolgreich bleiben wollen
  • Welche Verkaufskonzepte es für den Multi-Channel-Handel gibt
Björn Wöstmann von Lloyd Shoes
Foto: Lloyd Shoes

Bei genauer Betrachtung beschäftigt sich der Head of IT der Lloyd Shoes GmbH eigentlich mehr mit der Bedeutung von Multi-Channel-Strategien und weniger mit der von IT. Gerade das macht seine Überlegungen jedoch so spannend. Bevor wir uns detailliert mit der Frage befassen, was für Wöstmanns Prognose spricht und was dagegen, hier nochmal seine Kernthese in komprimierter Form:

In zehn Jahren wird es bei Einzelhändlern nur noch ein IT-System geben, weil Multi-Channel-Ansätze dann landauf, landab die Verkäufe dominieren werden und weil davon nur profitiert, wer die Komplexität des Handelns über mehrere Kanäle durch eine angepasste und dafür geeignete IT nahtlos abbilden kann.

Björn Wöstmann ist, das wird beim Lesen seines Wett-Textes in unserem "CIO-Jahrbuch 2015" sehr schnell klar, ein großer Fan dieser Multi-Channel-Strategien, ja er wirbt geradezu dafür. Händler hätten mit diesem Ansatz einen wichtigen Trumpf im Ärmel, weil damit für den Kunden Mehrwerte verbunden seien, die weder reine Online- noch reine Offline-Händler bieten könnten.

Click & Collect

Um das zu verdeutlichen, skizziert der Head of IT von Lloyd, dem Schuhhersteller mit Zentrale im niedersächsischen Sulingen (bei Bremen), die unterschiedlichen Kanalkonzepte. "Click & Collect" zum Beispiel, also online bestellen und dann im Laden abholen, gilt als wichtiges Mittel gegen die zunehmende Leere in den Geschäften. Und wer im Laden das Bestellte abholt, der kauft vielleicht bei dieser Gelegenheit noch mehr.

Click & Return

Ähnliche Ziele hat "Click & Return", also das Angebot, online Bestelltes im stationären Handel umzutauschen. Das auch darin Umsatzpotenzial stecke, sei zunächst schwer zu verstehen, bei genauer Betrachtung aber leicht zu belegen: Jeder Kunde, der in den Laden kommt, liefert dem Verkaufspersonal auch und gerade durch den Umtauschwunsch wertvolle Informationen über seine Vorlieben und sein Budget.

Die Relevanz ergänzender Omni-Channel-Services.
Foto: cio.de

Gut geschultes Personal könne diese Hinweise nutzen, "um einen Alternativkauf zu erwirken". Diese Möglichkeit haben explizit nur Multi-Channel-Händler, findet Wöstmann. "Der reine stationäre Händler hätte bereits den ersten Verkauf an diesen Kunden nicht getätigt, der reine Online-Händler lediglich eine Rücksendung erhalten."

Shelf Extension

"Shelf Extension", zu Deutsch Regalverlängerung, ist das dritte von vier Werkzeugen, mit denen sich Wöstmann beschäftigt. Gemeint ist das Bereitstellen eines Online-Kiosks im eigenen stationären Shop. Spontan würden die meisten Menschen das für keine besonders gute Idee halten, weil ja der Ladeninhaber nicht wollen kann, dass die Kunden die Preise vor Ort mit denen von Amazon vergleichen können.

Doch das sei ohnehin nicht mehr zu vermeiden, sagt Olaf Roik, Bereichsleiter Wirtschaftspolitik beim Handelsverband Deutschland (HDE). Die Kunden kämen ja mit dem Smartphone ins Geschäft, die Preise seien deshalb sowieso ständig transparent.

Check & Reserve

"Check & Reserve" heißt das vierte Multi-Tool für den Handel, um das es hier gehen soll. Dabei wird der Kunde in die Lage versetzt, online, das heißt von ­seinem PC oder Smartphone aus, den Bestand des ­gewünschten Produkts in dem Ladengeschäft, das er besuchen will, im Voraus zu checken und - wenn verfügbar - das gewünschte Produkt zu reservieren.

Auch diese Art der Kundenkommunikation ist nur für Multi-Channel-Händler umsetzbar. Laut einer gemeinsamen Studie von Accenture und der Hochschule Niederrhein in Krefeld gibt es in England bereits Händler, die mit Click & Reserve mehr Umsatz erwirtschaften als mit reinem Online-Handel.

Risiko Datenschutz

Man braucht weder IT- noch Handelsexperte zu sein, um sich vorstellen zu können, dass alle diese Online-Offline-Kombinationen nur mit einer leistungsfähigen IT zu realisieren sind, insofern kann man Björn Wöstmann nur zustimmen. Allerdings, und an dieser Stelle sind wir beim ersten von drei Risikofaktoren für seine Wette, berührt der Multi-Channel-Handel eigentlich in allen seinen Ausprägungen ein sensibles Thema: den Datenschutz.

Deshalb kann dieser Multi-Channel-Handel auch nur funktionieren, wenn die Käufer nichts dagegen haben, durchsichtig zu sein. Aber: "Die Kunden sind beim Thema Datenschutz sehr sensibel, und der Handel weiß das", warnt Roik als Vertreter des Handelsverbands Deutschland.

Ergebnisse der Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle" 2015
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Individual-Software ist im Handel traditionell verbreitet und auch für Multichannel bevorzugt.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
In Mobile Commerce wird besonders häufig investiert.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Bei der Preisgestaltung über die verschiedenen Kanäle sind sich die Vergleichsgruppen uneinig
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Die Planungen zur Sortimentsauswahl in den Kanälen sind sehr unterschiedlich
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Auch Fachbereiche wollen die IT bereits in der Strategieentwicklung einbeziehen.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Organisatorische Strukturen sind größere Hemmnisse als die Technologie.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Umsatzanteile im deutschen Einzelhandel
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Die Dauer des Wettbewerbsvorteils wird sehr unterschiedlich eingeschätzt.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Einzelhandel sieht Multichannel eindeutig als Chance
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Den einen Vorreiter in Sachen Multichannel gibt es (noch) nicht^.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Vor allem in der Elektronik- und Fashion-Branche wird Multichannel-Fähigkeit entscheidend sein
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Mobile Commerce ist der stärkste Veränderungstreiber für den Einzelhandel.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Bedeutung von Multichannel für Elektronik und Fashion am höchsten (Branchenauswertung).

Auf der anderen Seite profitiert der Kunde natürlich auch von der Preisgabe seiner Daten, wie Wöstmann am Beispiel "Click & Collect" erläutert: "Eine echte Verbesserung für Käufer und Verkäufer entsteht erst, wenn das Personal bei Abholung der Ware Zugriff auf alle verfügbaren Informationen zu diesem Kauf und diesem Käufer hat."

Dazu gehöre auch, dass das E-Commerce-System in der Lage ist, per "IP Address Lookup" (IPAL) den aktuellen Standort des Käufers zu identifizieren. Steht IPAL nicht zur Verfügung, kann auch die Adresse des vorigen stationären Einkaufs (wenn diese zum Beispiel durch den Einsatz einer Kundenkarte bekannt ist) oder als letzte Option auch eine einfache Umkreissuche um die hinterlegte Rechnungsanschrift erfolgen.

Schneller Zugriff auf Kundendaten

Daten spielen auch bei den anderen drei Multi-Channel-Instrumenten eine elementare Rolle. Bei "Click & Return", schreibt Wöstmann, "ist es inzwischen unumgänglich, dass das stationäre Verkaufspersonal schnellen Zugriff auf die Daten des Kunden und des rückabzuwickelnden Online-Verkaufs hat".

Dieser Zugriff auf möglichst viele Daten ist zugleich Voraussetzung und Sinn einer integrierten Händler-IT über alle Kanäle hinweg. Und deshalb werden sich diese integrierten Systeme nur dann wie von Björn Wöstmann prophezeit durchsetzen, wenn Kunden in puncto Daten nicht mauern.

Foto: cio.de

Im CIO-Jahrbuch veröffentlichen die Absolventen des CIO Leadership Excellence Program (LEP) ihre Abschlussthesen. Sie wagen dabei einen Ausblick, wie die Welt in zehn Jahren aussieht. Zu bestellen ist das Buch unter: https://shop.cio.de

Außerdem muss sich der Handel mit dem Thema beschäftigen und wissen, was dabei erlaubt ist und was nicht, und wie man eventuell auftretende Widerstände überwindet. Gelingen kann das nur, wenn die Unternehmen bereit sind, sich intensiv mit dem komplexen Thema Datenschutz auseinanderzusetzen.

Risiko Ebay, Amazon & Co.

Der zweite Risikofaktor, der die Realisierung von Björn Wöstmanns Zukunftsvision zwar nicht verhindern, aber verzögern könnte, ist eine gleichermaßen spezielle wie beliebte, vom Lloyds-Manager aber nicht angesprochene Form des Multi-Channel-Handels durch stationäre Geschäfte: das Verkaufen über Handelsplattformen wie Ebay, Amazon und Konsorten.

Gerade auf Ebay als zusätzlichem Kanal sind viele Ladeninhaber sehr erfolgreich. 80 Prozent von ihnen erzielen mit Verkäufen über den Online-Marktplatz mehr als 50.000 Euro, knapp 50 Prozent sogar mehr als 100.000 Euro Umsatz pro Jahr, so das Ergebnis einer Umfrage von TNS Emnid unter rund 300 Ebay-Händlern.

Entsprechend zufrieden sind die Befragten: 43 Prozent der Ebay nutzenden Multi-Channel-Händler sind davon überzeugt, dass der Online-Handel den stationären Handel zukunftsfähiger macht. Ein gutes Drittel der befragten Ebay-Händler erzielt den Hauptteil seines Umsatzes über den Online-Handel, 16 Prozent der auf beiden Kanälen Tätigen sagen sogar, dass nur durch den Online-Handel auch das stationäre Geschäft weiterbetrieben werden kann.

Ebay, auch das wenig überraschend, empfängt diese Händler mit offenen Armen. Man verstehe sich als starker Partner sowohl von Online- als auch von stationären Händlern, so der Kommentar von Ebay Deutschland zu dem Umfrageergebnis. Die Tatsache, dass mehr als 40 Prozent der befragten Ebay-Händler auch stationär verkauften, zeige einmal mehr, dass die Kanäle immer stärker zusammenwüchsen und die Zukunft im Multi-Channel-Handel liege.

Jede Option genau durchrechnen

Um diesen Trend zu unterstützen, hat Ebay mittlerweile ein eigenes "Click & Collect"-Angebot im Sortiment. Das heißt, der stationäre Händler kann den Kunden bei Ebay bestellte Ware anschließend im eigenen Laden abholen lassen. Es sei, erklärte der damalige Ebay-Deutschland-Chef Stephan Zoll 2014 bei Einführung dieser Option, das erklärte Ziel seines Unternehmens, "Händler dabei zu unterstützen, im Multi-Channel-Umfeld erfolgreich zu sein". Am liebsten, das wollte Zoll damit sagen, natürlich gemeinsam mit Ebay.

Nur ist diese Version des Multi-Channel-Handels nicht wirklich das, was Lloyd-Shoes-Head-of-IT Wöstmann in seiner Wette beschrieben hat. Die allermeisten Einzelhändler betreiben neben ihrer Ebay-Präsenz noch einen eigenen Webshop - und wissen um das Dilemma, das mit dieser Doppelstrategie verbunden ist.

Wirtschaftspolitik-Experte Roik vom Handelsverband Deutschland meint dazu: "Es geht hier darum, jede Option genau für sich durchzurechnen. Auf der einen Seite stärkt eine Präsenz auf einem Marktplatz die eigene Handelsmarke vielleicht nicht in dem Maße wie ein eigener Webshop. Auf der anderen Seite geht es oft um die schlichte Frage: Will ich diesen Umsatz mitnehmen oder nicht?"

Problem Systemintegration

Die meisten wollen - und nehmen in Kauf, dass auch dadurch die Verknüpfung der unterschiedlichen Systeme erschwert wird: Laut der Studie "Omnichannel-Commerce 2016" des EHI Retail Institute halten mehr als die Hälfte (55,8 Prozent) von 1000 befragten Händlern die Integration der unterschiedlichen Systeme für das größte, weitere 27,9 Prozent für das zweitgrößte Problem ihrer Omni-Channel-Strategie.

Die Herausforderungen der Omni-Channel-Transformation.
Foto: cio.de

Machbar ist eine integrierte IT über alle Kanäle hinweg durchaus: Die Southbag GmbH & Co. Handels KG aus Puchheim bei München zum Beispiel hat bereits vor einigen Jahren die ERP-Systeme ihrer Website Schulranzen-Onlineshop.de, ihres Ebay-Shops und ihrer stationären Läden in Puchheim und Salzburg IT-seitig mit Hilfe der ERP-Lösung des Softwareanbieters Actindo zusammengeführt.

Handel muss massiv investieren

Mehrere IT-Systeme für verschiedene Kanäle zu unterhalten gibt absolut keinen Sinn, insofern hat Björn Wöstmann natürlich recht mit seiner Prognose, dass diese Systeme mehr und mehr verschmelzen werden - und sollten. Der Wunsch nach - oder die Abhängigkeit von - Ebay- und Amazon-Umsätzen wird diese Entwicklung verlangsamen, aber nicht aufhalten.

Womit wir beim dritten und wahrscheinlich größten Risiko dafür wären, das Björn Wöstmann seine Wette gewinnt: Die IT-Systeme werden nur dann zusammenwachsen, wenn die Einzelhändler die Notwendigkeit erkennen und sich konform dazu verhalten. Oder, wie es Olaf Roik vom Handelsverband Deutschland ausdrückt: "Der Handel muss hier massiv investieren, um die Möglichkeiten nutzen zu können."