Es war ein ungewöhnlicher Auftrag, mit dem Hannes Chopra vor rund zehn Jahren in das Flugzeug von München nach Moskau stieg. Im Koffer des damals 31-Jährigen lagen mehrere Tausend Dollar, penibel abgezählt, ordnungsgemäß deklariert und sauber in mittlere und große Scheine gebündelt. Geld, das für die Moskauer Allianz-Niederlassung zu dieser Zeit absolut lebensnotwendig war.
Nur wenige Tage zuvor hatte die Moskauer Regierung die Tilgung ihrer Schulden ausgesetzt, die Weltfinanzmärkte ins Chaos gestürzt und die russische Wirtschaft zum Stillstand gebracht. Im ganzen Land blieben Restaurants, Geschäfte und Bankschalter geschlossen. Bargeld war im Spätsommer 1998 Mangelware. Ohne den Geldboten hätten die Moskauer Allianz-Mitarbeiter lange auf ihre Gehälter warten müssen.
In den folgenden Jahren ist Chopra noch häufig nach Moskau geflogen. Etwa als es um den Einstieg der Allianz beim größten privaten russischen Krankenversicherer, Rosno, ging, anschließend als Leiter einer schnellen Eingreiftruppe, die das Geschäft der neuen Beteiligung auf Vordermann bringen sollte. Erst ab Mitte 2004 war Schluss mit der Vielfliegerei, Chopra rückte in den Vorstand der Rosno ein.
Heute ist der Rheinländer mit indischen Wurzeln die Nummer eins beim drittgrößten russischen Versicherer. Er dirigiert 7500 Mitarbeiter und 100 Niederlassungen. Allein 2007 steigerte die russische Allianz ihre Bruttoprämie um 20 Prozent auf rund 900 Millionen Euro. Chopras Mission: Er soll in einem der wachstumsstärksten Versicherungsmärkte der Welt schneller sein als die Konkurrenz.
Wandlung zum multinationalen Versicherungskonzern
Knapp 13 Jahre ist Chopra nun bei der Allianz, rund elf Jahre dauerte der Durchmarsch vom Controller zum CEO einer der zukunftsträchtigsten Gesellschaften im globalen Reich des Versicherungsriesen. "Wenn mir jemand an meinem ersten Tag erzählt hätte, welche Möglichkeiten sich mir in den kommenden Jahren bieten würden, ich hätte ihn für verrückt erklärt", sagt der 42-Jährige.
Karrierepfade wie diesen wird es künftig häufiger geben. Innerhalb von knapp zwei Jahrzehnten ist aus einem vor allem auf den deutschen Markt fixierten Konzern ein globaler Multi geworden. Von den 180.000 Mitarbeitern arbeiten heute nur noch 72.000 in Deutschland. Der Rest verteilt sich auf 1000 Firmen in über 70 Ländern. Allein seit 2003 sind über Zukäufe und Gründungen 300 neue Firmen hinzugekommen.
Auf den Fluren der Zentrale in der Münchener Königinstraße hört man heute englische, italienische oder französische Satzfetzen genauso selbstverständlich wie Unterhaltungen auf Deutsch. "Vor zehn Jahren war ich mit meiner dunklen Haut und meiner Vorliebe für bunte Hemden ziemlich exotisch", sagt Hannes Chopra: "Heute falle ich gar nicht mehr auf, wenn ich in München mal in die Kantine gehe."
Die Allianz des Jahres 2008 ist weltweit das, was seit ihrer Gründung vor nunmehr 118 Jahren in Deutschland immer Anspruch war: die erste Adresse. Und dieser Ruf gilt für alles, was zum Kerngeschäft gehört. Ganz gleich, ob es sich dabei um simple Auto- oder Privathaftpflichtpolicen handelt, um die Versicherung riesiger Industrieanlagen oder gigantischer Bauvorhaben, ob die finanzielle Absicherung einer Durchschnittsfamilie durch Fondssparpläne oder Lebensversicherungspolicen gefragt ist oder die Managementexpertise für einen milliardenschweren Pensionsfonds.
Auch wenn die Finanzkrise ihre Spuren in der Bilanz hinterlässt - das Versicherungsgeschäft läuft weit besser als vor einigen Jahren. Es ist stabil und langfristig, weit entfernt vom verglühten Glamour, den die Dealmaker der großen Investmentbanken verbreiteten - wenn auch schlechter bezahlt.
Niedrige Fluktuation bei Führungskräften
Umso erstaunlicher ist es, dass die Allianz in der vom Trendence Institut erstellten Hitliste der gefragtesten Arbeitgeber deutscher Studenten erst an 43. Stelle auftaucht und unter den Wunscharbeitgebern der High Potentials nur auf Platz 84 landet. "Als ich einer Kommilitonin damals erzählte, dass ich bei der Allianz anfange, schaute sie mich erst mit großen Augen an, schüttelte dann den Kopf und sagte verwundert: 'Ich dachte, du hättest ein gutes Examen'", erinnert sich Uwe Michel, der seit 1994 für die Allianz arbeitet und derzeit das Lebensversicherungsgeschäft in Japan aufbaut.
Das graue Image steht im krassen Missverhältnis zu den Möglichkeiten, die der Konzern seinen Nachwuchskräften bietet. Einsteiger werden vom ersten Tag an in globale Projekte eingebunden, wer auffällt, kommt rasch an verantwortungsvolle Jobs, viele leiten nach kurzer Zeit ihr eigenes Team.
Und nach spätestens zwei oder drei Jahren wartet irgendwo eine neue Aufgabe. Wer erst Teil des Systems ist, bleibt es meist auch. "Die Fluktuation unter den Führungskräften liegt im Schnitt weltweit bei 5 Prozent, das ist sehr niedrig", sagt Personalchef Daniel Dirks.
Viele, die in den vergangenen Jahren im Eilschritt durch die Hierarchieebenen gerauscht sind, geben offen zu, dass sie eher durch Zufall bei der Allianz gelandet sind. Christoph Hofmann etwa, der heute in einem Büro an der Avenue of the Americas in Manhattan arbeitet und in den vergangenen sechs Jahren eine spezielle Variante des Geschäfts mit Aktienfonds aufgebaut hat, die dem Asset-Manager der Gruppe bislang Kundengelder in Höhe von 20 Milliarden Dollar in die Kassen spülte.
Der heute 35-Jährige hatte schon während seines BWL-Studiums für McKinsey gearbeitet und war fest entschlossen, danach beim Beraterprimus anzufangen. Davon abgehalten hat ihn, dass er 1997 Markus Rieß kennenlernte. Der war damals gerade angeheuert worden, um die Fondsaktivitäten der Allianz zu bündeln und eine globale Asset-Management-Firma daraus zu machen.
Ein paar Wochen später unterschrieb Hofmann bei der Allianz und war damit Mitarbeiter Nummer drei einer Gesellschaft namens Allianz Asset Management. Die heißt heute Allianz Global Investors und gehört nach zahlreichen Zukäufen zu den fünf größten Asset-Managern weltweit, verwaltet 1,3 Billionen Euro und beschäftigt 4300 Leute.
Geschäft mit börsennotierten Aktienfonds aufgebaut
Die ersten Monate waren wie in einer Start-up-Firma. Hofmann suchte Büros, kümmerte sich um Telefon- und IT-Ausrüstung und baute ein Callcenter auf. Nach zwei Jahren zog er dann nach New York, um bei der Integration einer der vielen hinzugekauften Fondsfirmen zu helfen und das Privatkundengeschäft in den USA in Gang zu bringen.
Vor etwas mehr als fünf Jahren fing er an, seine eigene Produktlinie aufzubauen: börsennotierte Aktienfonds. Hofmann identifiziert Investmentthemen, konzipiert die Fonds, stellt ein Bankenkonsortium zusammen und geht mit seinen Fondsmanagern auf Roadshow, um Kundengelder zu akquirieren.
Am Ende bringt er seine Anlagevehikel per IPO an die New York Stock Exchange. Und wie jeder Manager, der seine Firma an der Wall Street listen lässt, darf Hofmann bei der Börsenpremiere die Glocke zur Eröffnung des Handelstages läuten. "Das ist jedes Mal ein tolles Gefühl, auch wenn man es zum zehnten Mal macht", sagt er.
Der Aufbau des globalen Asset-Management-Geschäfts ist das spektakulärste Start-up der Konzerngeschichte - tatsächlich war es aber nur eine von vielen Neugründungen der vergangenen Jahre. Weite Teile des Geschäfts in den Wachstumsregionen Osteuropas und Asiens wurden über sogenannte Green-Field-Operations hochgezogen. Davon hat eine ganze Reihe von Nachwuchskräften profitiert, die als Aufbauhelfer rund um den Globus verschickt wurden.
Eines der schwierigsten Projekte hat derzeit wahrscheinlich Uwe Michel. Der gelernte Jurist soll den ebenso verschlossenen wie lukrativen japanischen Lebensversicherungsmarkt knacken. Ein Markt, in dem ausländische Anbieter nie wirklich einen Fuß auf den Boden gebracht haben, dessen Prämienvolumen aber ungefähr dreimal so hoch ist wie die Einnahmen aller in Deutschland operierenden Lebensversicherer.
Seit zwei Jahren sitzt Michel nun in seinem Büro unweit des Financial Districts von Tokio. Auf einem Bord steht noch immer das erste Teil seiner Büroausstattung: eine Kaffeemaschine. "Jeder, der mich besucht, bekommt einen Espresso", sagt Michel: "Guten Kaffee kriegt man hier ja nicht so häufig."
Lebensversicherungspolicen als Marktnische entdeckt
Die ersten Monate verbrachte er damit, Mitarbeiter von japanischen Finanzhäusern abzuwerben und Vertriebskooperationen mit den großen Banken auszuhandeln. Der Plan ist, eine Nische zu besetzen, um die sich Nippons Assekuranzgiganten bislang kaum gekümmert haben: Lebensversicherungspolicen, die das Geld ihrer Kunden zwar am Aktienmarkt investieren, gleichzeitig aber umfangreiche Kapitalgarantien abgeben.
Seit dem 1. April verkaufen Michels Leute ihre Policen. Dass zwischen Projektierung und Start nur 25 Monate vergingen, hat vor allem damit zu tun, dass die Allianz Life Insurance Japan Ltd. kein normales Start-up ist, sondern Teil eines Weltkonzerns. Das Produktkonzept stammt von der Allianz of America, die Versicherungsrisiken managt die Allianz Re Dublin, der japanische Zweig von Allianz Global Investors betreut das Sparkapital, dessen Wert wiederum die Allianz Investment Management in München und Minneapolis garantieren.
Michels Job ist die logische Fortsetzung seines bisherigen Wegs. Praktisch von Tag eins an gehörte Asien zu seiner Arbeitsplatzbeschreibung. Zuerst in der Rechtsabteilung, als er sämtliche Joint Ventures und Firmenkäufe in Asien begleitete, danach als Leiter des Merger-&-Acquisitions-Teams in Singapur und schließlich als Leiter eines Teams, das nach der Jahrtausendwende den Einstieg in den indischen Markt einfädelte.
Den letzten Schliff für seinen Auftrag in Japan holte er sich in Jakarta, als er zwei Jahre lang als CEO an der Spitze der indonesischen Tochterfirma stand. "Als ich bei der Allianz anfing, wollte ich ins Ausland, und ich wollte etwas Neues aufbauen. Also habe ich nach Gelegenheiten gesucht, meine Vorstellungen zu realisieren. Und ich muss sagen, man ist hier ziemlich offen für solche Projekte", sagt Michel. Es ist Teil der Kultur, dass die Führungskräfte Ideen einfordern, die Vorschläge ihrer Leute diskutieren und so viel wie möglich umsetzen.
Talentförderung: Offen für individuelle Lösungen
"Ich arbeite seit mehr als zehn Jahren hier, und ich kann mich an keinen Vorschlag von mir erinnern, der einfach abgebügelt wurde - zugehört und diskutiert wurde immer", sagt auch Kevin Leong, der 1996 in Hamburg eine Lehre zum Versicherungskaufmann begann und heute in Singapur ein Team für den Industrieversicherungszweig leitet.
Leong, der in Malaysia aufwuchs und in Deutschland zur Schule ging, hat selbst reichlich Gebrauch von den Freiräumen gemacht. Als es nach seiner Ausbildung etwa darum ging, ob er studieren oder weiter für die Allianz arbeiten würde, hat er sich für die aufreibendste Variante entschieden: beides auf einmal. "Die zuständigen Leute hörten sich die Idee an und wollten nur wissen, wie ich mir das so vorstelle", erinnert sich Leong: "Also habe ich mich hingesetzt und einen Plan gemacht."
Fünf Jahre lang hat er dann eng getaktet zwischen Fachhochschule und Zentrale verbracht. Natürlich hat er auch aus seiner Diplomarbeit ein Allianz-Projekt gemacht. Zwei Monate lang reiste er durch China, um die Bedingungen für einen Markteintritt der Industrieversicherungseinheit auszuloten.
Leong, der sich im Chinesischen genauso sicher bewegt wie im Deutschen, redete mit lokalen Maklern und potenziellen Kunden, recherchierte bei Regulierern und Behörden. Am Ende riet er vom Einstieg ab, weil die Rahmenbedingungen nach der Jahrtausendwende ein profitables Industrieversicherungsgeschäft nicht zugelassen hätten. Der Konzern hat sich an die Empfehlung gehalten (seit 2006 ist die AGCS in China aktiv), und Leong hat sein Studium mit einem Schnitt von 2,1 abgeschlossen.
Im Grunde gehorcht das System der Talentförderung seit jeher den gleichen Regeln wie das Kerngeschäft der Allianz: Es ist langfristig angelegt, berechenbar und offen für individuelle Lösungen. Gesucht und gefördert werden Leute mit ausgeprägter fachlicher Kompetenz, einem gerüttelt Maß an Flexibilität und hoher persönlicher Integrität.
Entwicklungsmöglichkeiten für Führungskräfte
Ob ein Kandidat charakterlich den Maßstäben genügt, wurde noch in den 90er Jahren mit einem ganz speziellen Ritual geprüft: dem sogenannten Gabeltest. Einmal im Jahr wurde eine Gruppe hoffnungsvoller Nachwuchskräfte samt Partner vom Vorstand zu einem Abendessen auf ein Allianz-Anwesen in den bayerischen Alpen gebeten. Die Abende liefen in entspannter Atmosphäre ab.
Am Ende zogen sich Vorstände, Personaler, aber auch Kellner zurück und diskutierten das Verhalten der Kandidaten. Das Urteil des Tischpersonals hatte Gewicht. Nachwuchsmanager, die sich gegenüber den Hausangestellten ruppig oder arrogant gezeigt hatten, mussten fortan mit einem Malus leben.
Der Gabeltest ist Vergangenheit, die Werte, die damit verankert werden sollten, sind aber nach wie vor die Basis für den Aufstieg. Von jedem der weltweit 12.000 Führungskräfte existiert ein Profil, das Kompetenzen wie Führungsqualitäten, strategische Fähigkeiten oder Kundenorientierung erfasst und bewertet. Einmal im Jahr loten Personaler und Vorgesetzte zusammen mit den Kandidaten die persönlichen Perspektiven aus und analysieren die Entwicklung der vergangenen zwölf Monate.
Personalentwicklungsmaßnahmen gehören zur jährlichen Zielvereinbarung jeder Allianz-Führungskraft - vom Bereichsleiter bis zum Holding-Vorstand. So bietet etwa jedes Mitglied der Konzernleitung jährlich Seminarveranstaltungen für Führungskräfte und High Potentials an, zumeist mehrtägige Klausuren, auf denen strategische Entwicklungsmöglichkeiten und Marktperspektiven diskutiert werden.
Zusätzlich bekommen jedes Jahr 20 der weltweit rund 600 Topleute eine ganz besondere Einladung. In einer Art konzerninternem "Spiel ohne Grenzen" sollen sie mit sechs oder sieben Kollegen aus anderen Landesgesellschaften Lösungen für ein vom Vorstand vorgegebenes Problem ausarbeiten. Für jede Gruppe fungiert ein Mitglied des Vorstands als Mentor, nach zwölf Monaten werden die Ergebnisse vor dem kompletten Leitungsgremium präsentiert.
Viele der so entstandenen Ideen waren Ausgangspunkt für weltweit ausgerollte Initiativen - etwa zur Optimierung der operativen Prozesse oder zur Verbesserung der Kundenbindung. Rund 100 Kandidaten hat der Holding-Vorstand seit 2004 zu dieser Bewährungsprobe eingeladen, für viele war es das Sprungbrett zu einem CEO- oder CFO-Job in einer der rund um den Globus verstreuten Allianz-Tochterfirmen.
Die Allianz - der Global Player
Kaum ein anderes deutsches Unternehmen hat sich in den vergangenen zehn Jahren stärker globalisiert als die Allianz. "Als ich 1991 zur Allianz kam, war die Unternehmenskultur sehr deutsch, das hat sich komplett verändert", sagt Astrid Kaltenegger, die seit Dezember 2007 als Chief Operating Officer die neue Einheit Allianz Alternative Assets mit aufbaut, in der die Investments des Konzerns in den Bereichen Immobilien, Private Equity oder Infrastruktur gebündelt sind.
Die Investmentseite des Geschäfts ist eines der wenigen Dinge, die die Juristin noch nicht ausprobiert hat. Sie setzte in der Konzernrechtsabteilung Verträge auf und betreute große Zukäufe wie die AGF in Frankreich. Sie war Innendienstleiterin eines Allianz-Büros in Potsdam. Sie hat als stellvertretende Leiterin der M&A-Abteilung Teile der Dresdner Bank in die Allianz integriert und als Leiterin der Schadenabteilung des Industrieversicherungszweigs über Entschädigungsleistungen in Millionenhöhe verhandelt.
"Das Unternehmen verändert sich mit einem unglaublichen Tempo", sagt Kaltenegger: "So existierte mein heutiger Job vor einem Jahr noch nicht, weil es noch nicht einmal die Firma gab. Auf solche Dinge muss man sich künftig einfach einstellen."